Ich habe beste Erinnerungen an meine frühesten Begegnungen mit Telemann, die Sonatinen, egal, ob ich 10 oder 12 Jahre alt war, ich kann sie bis heute auswendig, jedenfalls die in F-dur, A-dur und in D-dur. Ich habe dadurch eine Vorstellung bekommen, was Melodie ist und musikalischer Zusammenhang, – kleine, sehr überschaubare Modelle. Und warum versuchte ich zugleich, mir eine historisch-exotische Musikgeschichte zusammenzuschreiben, – ohne Bezug zu dem, was ich praktizierte? Natürlich hatte alles Bezug aufeinander, obwohl es auch miteinander kontrastierte. Wieso muss man das begründen? Irgendwann und irgendwie rücken die Felder zusammen.
Freund Berthold aus Berlin macht mich genau in diesem Moment – während der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben – auf ein Werk von Moritz Eggert aufmerksam, das sich auf eine Aufnahme von Oum Kalthoum (Kalsoum) bezieht: „Hämmerklavier VI (1994) Variationen über Teba Ini Leh“. Ohne behaupten zu wollen, dass Moritz Eggert der Telemann unserer Zeit sei, will ich der Beziehung zu der ägyptischen Sängerin nachgehen (Hervorhebung in roter Farbe von mir, JR):
Haemmerklavier VI, short english text
Oum Kalsoum ist considered to be „the“ singer of arabian music. She became famous in the 30’s of the last century, and her famous singing style is imitated up to the finest embellishments by young singers until today.
I have purposefully selected a chanson by her as a theme for a cycle of variations – the idea was to take it as a kind of “objét trouvée” (I know very little about Arabian music, and therefore approached the subject without any inhibitions) which results in an audible clash between occidental and oriental ways of thinking. I never tried to imitate Arabian music, rather it is my honest and very western reaction to the music that is the real theme of the piece. The clash is not resolved, and the friction is part of the energy of the music, which also demands extreme playing techniques by the pianist.
Moritz Eggert, 3.2.2003
Quelle siehe HIER / Man höre seine Arbeit zum Beispiel auf Spotify hier.
Und dann kann man Moritz Eggert (von ihm nicht gewollt) und Oum Kalthoum im Wechsel erleben, indem man parallel die youtube-Aufnahme der Sängerin abspielt, z.B. hier oder hier:
Bei den drei Kölner Geigenfestivals „Westöstliche Violine“ 1980, 1984 und 1989 hätte man Oum Kalthoums Konzertmeister Mohammed El-Hefnawi und Reinhard Goebel mit Musica Antiqua Köln auf derselben Bühne nacheinander erleben können, auch die Oboen-Festivals „Das Schilfrohr tönt“ in Köln, Düsseldorf und Wuppertal waren ähnlich korresponsiv angelegt, ohne Heterogenes zu vermischen.
West-östliche Violine 1980 (Foto WDR)
West-östliche Violine 1989 (Foto WDR)
An audible clash ist vielleicht genau das, was ich immer gesucht habe, ohne zu erwarten, dass dieser Clash sich in Wohlgefallen auflöst. Es ist die Kontrastbewältigung, aus der musikalische Energie entsteht. Auch privat.
Was zunächst einmal diesen Blog-Artikel betrifft: ich muss sowohl das neue Buch über Telemann von Siegbert Rampe als auch das Buch der 99 nubischen Lieder als Aufgabe und Thema für spätere Blog-Artikel zurückstellen. Telemann im Zusammenhang mit dem wiederkehrenden Komplex dreier ausgewählter Zeitgenossen, z.B. Quantz: („der hohe Beamte“), Telemann („der Unternehmer“) und Bach („der Unangepaßte“) in Peter Schleunings Buch „Das 18. Jahrhundert: Der Bürger erhebt sich“ von 1984. Oder neuerdings in der Untersuchung „Gott bei Bach und Händel“ (plus Telemann) von Jin-Ah Kim In „Musik & Ästhetik“ Heft 80, Oktober 2016.
Während die nubische Melodie, die ich suche, in den 99 Liedern nicht zu finden ist und als Thema vielleicht zurückstehen muss, einfach weil Saint-Saëns und sein 5. Klavierkonzert nicht von so überragendem Interesse ist. Das Thema Nubien allgemein wird mich jederzeit aufs neue bewegen, weil es einen Bogen zum Jahr 1961 (Assuan-Skandal) und zu Hans Mauritz in Luxor schlägt. Auch zu den Arbeiten von Artur Simon… (es ist ja diese Musik, die ich erhoffte, nicht die Serienproduktion am Rande der Moderne, – auch interessant, aber nicht weiterführend). Und es brennt nicht.
Was zunächst als „audible clash“ erscheinen mag, kontrastiert harmonisch mit dem Konzept des Musikethnologen Mantle Hood, das er als Bi-musicality bezeichnet; es führt letztlich dahin, dass man jeder Musik, die ernst gemeint ist, etwas abgewinnen kann; auch wenn man nur mit wenigen Musiken der Welt (und selbst innerhalb unserer Welt) in familiärem Sinn vertraut sein kann. Wenn man vom „Verstehen“ spricht, heißt das nicht, Forderungen zu implizieren, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen unerfüllbar sind. Der Widerspruch – oder Kontrast – zwischen Eigenem und Anderem ist „systemimmanent“.
Das Programmheft zeigt, wie ich damals, mit Wagners Leitmotivtafeln im Sinn, Interesse für indische Musik und die spezifische Charakteristik eines Ragas zu wecken suchte:
Die Zusammenarbeit zwischen Prof. Christian Schneider und JR wurde über Jahrzehnte fortgesetzt, zuletzt mit Blick auf ein Oboen-Lexikon, das voraussichtlich im Mai 2017 im Laaber Verlag erscheinen wird. (Siehe hier). Seine eindrucksvolle Sammlung wird wahrscheinlich im Laufe dieses Jahres nach Berlin wandern…