Frage an Michael Oppitz: Hat die Ethnologie etwa den früheren Platz der Philosophie eingenommen? Geht es in der Ethnologie um die realen Probleme wirklicher Menschen?
Schweizer Fernsehen vom 9. März 2008 – Sternstunde Philosophie – Über Schamanismus
ZITAT
(52:00) Das ist der Auftrag! Das ist der alte Auftrag von Marcel Mauss, der gesagt hat, – einer unserer alten Ahnen, einer unserer Vor-Schamanen, wenn man so will: Was zählt in der Ethnologie, ist der und der Melanesier von der und der Insel. Und das unterschreibe ich vollkommen. Und das ist ein Punkt, der für die Ethnologie von großem Interesse ist. Nämlich – sozusagen die Zoombewegungen, die sie vollzieht. Sie ist die Wissenschaft des Konkreten, es geht immer um ganz spezifische Dinge, dieses Dorf, den und den, der so und so heißt, in dem und dem Dorf, und seine Position innerhalb dieser lokalen Gesellschaft, – das ist das Heranzoomen sozusagen, eine Tätigkeit, die jeder Feldforscher betreiben muss. Dann aber muss er die Kamera sozusagen wieder zurückziehen, und eine weitere, eine distanzierte Perspektive einnehmen. Und dieses Wechselspiel der Distanzen, nah und fern, konkret und abstrakt, konkret und verallgemeinert, das sind Vorgänge, das sind Gedankenbewegungen, die der Ethnologe vollzieht. Als natürlich vollzieht, weil sie gewissermaßen in seiner Tätigkeit angelegt sind. Und das ist auch letzten Endes – abgesehen davon, dass die Ethnologie auch holistisch ist, sie beschäftigt sich mit allem, was der Fall ist in realen Gesellschaften – ist die Ethnologie von daher gesehen auch eine transdisziplinäre Wissenschaft, und vielleicht aufgrund dieser Tatsache verdient sie zumindest auch eine ähnliche Position zu haben wie die Philosophie. (55:02)
ZITAT vom Anfang der Sendung:
Mich fasziniert [am Schicksal der schriftlosen Kulturen], dass viele dieser Traditionen verschwinden, in die Stimmlosigkeit absinken werden, bevor man sie aufgezeichnet hat. Und mich fasziniert das, weil in diesen mündlichen Überlieferungen ein Schatz verborgen liegt, der eine Bedeutung hat, die sicherlich jener ähnelt, die wir von den großen epischen Traditionen in Europa kennen, wie etwa die Ilias oder die Odyssee.
… sagt also Michael Oppitz am 9. März 2008. Ich bin ihm 1990 zum ersten Mal in Gestalt eines Buches begegnet, ohne ihn recht wahrzunehmen. Dennoch kann ich jetzt genau dort anknüpfen. Das Internet samt Youtube musste erst erfunden werden, mein Metier: das Radio allein, die Tonaufnahme, das Ohr vermag in manchen Fällen zwar viel, in diesem Fall und damals fast nichts.
Dass ich all dies heute wieder auf den Tisch lege, hat einen bestimmten Grund, den ich erst zu einem späteren Zeitpunkt an dieser Stelle ausbreiten möchte.
Für Unerschrockene: ein 75minütiger Vortrag über die Schamanentrommel HIER.
P.S.
Da ich mich verschiedentlich mit dem Thema Witz und Lachen beschäftigt habe, mit dem Bedauern, nur wenig darüber aus andern Kulturen zu kennen, zitiere ich hier eine Seite aus dem Buch von Michael Opitz, einen Abschnitt aus seinem (O) Gespräch mit Ahmad Alasti (A):
O: (…) Prügeleien in religiösen Ritualen mögen jemanden vielleicht verwundern, der an die Stille einer katholischen Kirche denkt. Hier jedoch kommen sie vor. Im Schamanentum der Magar gehen das Heilige und das Profane eine derartige Verschmelzung ein, daß die Atmosphäre eines Dritten entsteht, das weder das eine noch das andere ist. Ich sagte ja bereits, Schamanismus ist Alltag. Das schien mir diese Prügelszene handfest zu illustrieren.
A: Wollte der Betrunkene komisch werden, weil ihr da wart und ihn auch noch filmtet?
O: Er hatte uns nicht angerempelt. Wahrscheinlich hat er in seinem trunkenen Gesichtsradius nicht einmal die Kamera bemerkt. Aber natürlich gibt es diese lauten und lästigen Witzbolde, die aus allem ihre dummen Scherze herausklopfen wollen und ihre blöden Visagen in die Kamera stecken, um, in der Hoffnung auf einen Lacherfolg von seiten der Menge, ein Gesicht schneiden. Das nimmt man einmal mit auf. Diese Form von Scherz läuft sich bald von selbst tot und wird sogar dem für Gelächter Anfälligsten bald langweilig und schal.
A: Es gibt Sequenzen in dem Film, wo sich die Leute übereinander lustig machen. Ermutigte sie die Anwesenheit der Kamera dazu? Ich erinnere eine Stelle, in der ein Gehilfe ein Loch aushebt, in dem der Lebensbaum des angehenden Schamanen später eingepflanzt wird. Der das Loch gräbt, sagt: „Wir graben das Grab eines Schamanen“, woraufhin der Schamane entgegnet: „Warum begraben wir hier nicht einen Glücksspieler?“
O: Dabei mußt du wissen, der Lochausheber war einer der größten Glücksspieler im Dorf. Es war also ein direkter Gegenschuß von seiten des Schamanen, ein spontaner Witz. Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, wo das Witzemachen zu den großen sozialen Funktionen zählt. Das sind keine Brahmanen, die immerzu jammern und niemals mit Gelächter aus sich herausgehen. In dieser rauhen und lauten Gesellschaft hat der Humor einen hohen Stellenwert. Dauernd wird jemand hochgenommen, ständig gehen säuische Anspielungen hin und her. Dabei ist eine wesentliche Einschränkung zu beobachten: Manchen Verwandtschaftsklassen ist es untersagt, mit bestimmten anderen Witze zu reißen, egal ob schlüpfrig oder nicht. Die Witzbeziehungen werden so zum Ausdruck des Heiratssystems und seiner Regeln. Die du nicht heiraten kannst, mit denen kannst du auch keine dreckigen Witze tauschen.
A: Nach deinem Film habe ich den Eindruck, daß es dort bei den Magar zwischen Schamanen und Laien keine scharfen Grenzen der Etikette gibt. Die einen können mit den anderen einen gelockerten Verkehr pflegen. Trotzdem: Gehören die Schamanen einer besonderen Klasse an? Genießen sie einen besonderen Status?
O: Wir haben eine Szene gedreht, die wir nicht in unseren fertigen Film aufgenommen haben. Wenn ich sie dir schildere, wirst du sehen, wie der Humor auch die Beziehung zwischen Schamanen und Laien bestimmt. Ein älterer Mann hatte für seine erkrankte Tochter durch einen Schamanen eine Heilungsséance in seinem Haus veranstalten lassen. Während der Sitzung hörte man ihn immer wieder sagen: „Das ist doch alles Unsinn, alles, was ihr hier macht, ist Hokuspokus, die ganzen Sitzungen und das dauernde Getrommel, alles Schrott. Ich glaube nicht an die Wirksamkeit dieser Rituale. Alles Unsinn.“ Er sagte dies mit einem Zwinkern, mitten in die Rituale hinein, die in seinem eigenen Hause und mit seinem Geld durchgeführt wurden. Es konnte also nicht stimmen, daß er sich keine Erfolge von der Sitzung versprach. Es war Scherz. Eine Gesellschaft, die diese Art von Scherz und gespielter Kritik zuläßt, muß ziemlich gesund sein, besser drauf als die gegenwärtige des Iran.
Quelle Michael Oppitz: Kunst der Genauigkeit / Wort und Bild in der Ethnographie / Trickster Verlag München 1989 / ISBN 3-923804-33-4 (Seite 106f)
ZITAT über den Zoom (s.a. oben!)
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20. Mai 2017 nachmittags. Die erwartete Prachtbox ist eingetroffen. Die Arbeit – das Vergnügen – kann beginnen:
Über die Schätze hinaus, die er selbst bereitstellt, verweist Michael Opitz in seinem Buch auch auf Tondokumente, die von anderen Forschern an anderen Orten Nepals aufgezeichnet wurden; auch Landkarten dieser Regionen kann man dort finden:
www.dhyang-dhyang-voldemeer.ch bzw. hier.
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Zu den 3 Tondokumenten der CD
Dies ist die technische und inhaltliche Information (S.55), die ein Mitlesen des gesungenen Textes erlaubt. Allerdings gibt es nicht drei, sondern auf CD I (mit Somarani und Hargameni) sieben Tracks, auf CD II (mit Kubiram) drei Tracks. Man muss also selbst herausfinden, an welcher Stelle man sich befindet, wenn man auf Tr. 2 oder Tr. 5 springt. (Tr.5 der CD I = Beginn von Hargameni!)
Auf Anhieb möchte man sagen, dass die Melodiezeile , – mit kleinen Varianten, die dem jeweiligen Wortlaut angepasst sind -, immer gleich bleibt: CD I in Tr. 1 und 2 auf den Tönen a – cis – h – a, in Tr. 3 einen Halbton höher, in Tr. 7 einen Ganzton tiefer.
CD I Tr.1, 13:55 geht über in Tr. 2, 12:20 geht über in Tr. 3, 6:07 geht über in Tr. 4, 10:17 geht über in Tr. 5, 9:59 unmittelbar in Tr. 6,10:54 unmittelbar in Tr. 7, 7:11.
CD II Tr. 1, 2:43 geht über (Trommelwechsel) in Tr. 2, 23:15 geht über in Tr. 3, 17:45 einige Worte der Interpreten nach Abschluss. (Tonhöhe muss noch geklärt werden: Tr. 1 auf g, Tr. 2 auf a(-), Tr. 3 auf g.)
Ab Seite 60 gibt es Auskunft über „Formale Merkmale des gesungenen Verses“ sowie eine Skizze zum Metrum und den Trommelschlägen: