Archiv für den Monat: September 2019

Von Raum und Zeit

Architektur und Musik

Z W E I  Z I T A T E

RAUM

Die Architektur schafft den Schein jener Welt, die das Gegenüber eines Selbst ist. Sie ist das Sichtbarwerden einer vollständigen Umwelt. Dort wo das Selbst ein kollektives ist, wie in einem Stamm, ist seine Welt eine gemeinschaftliche; für das persönliche Selbstsein ist es das Heim. So wie die reale Umwelt eines Geschöpfs ein System funktionaler Beziehungen ist, so ist eine virtuelle „Umwelt“, der geschaffene Raum der Architektur, ein Symbol funktionaler Existenz. Das heißt nun freilich nicht, dass Zeichen von wichtigen Tätigkeiten – Haken für Gerätschaften, bequeme Bänke, durchdachte Türen – in seinen Sinngehalt eingehen. Auf dieser falschen Annahme gründet der Irrtum des Funktionalismus – nicht dass er sehr tief ginge, vermutlich geht er nur so tief wie die Theorie selbst. Der symbolische Ausdruck ist meilenweit entfernt von vorausschauender Planung oder einer gelungenen Anordnung. Er verweist nicht auf etwas, das hier oder dort verrichtet werden soll, vielmehr verkörpert er das Gefühl, den Rhythmus, die Leidenschaft oder Nüchternheit, die Leichtfertigkeit oder Furcht, mit der überhaupt etwas verrichtet wird. Das ist das Bild des Lebens, das in den Bauwerken geschaffen wird, es ist der sichtbare Schein eines „sozio-kulturellen Gebiets“, das Symbol des Menschseins, das sich in der Kraft und dem Zusammenspiel der Formen niederschlägt.

Weil wir Organismen sind, entwickeln sich alle unsere Handlungen in organischer Weise; die Struktur unserer Gefühle wie auch unserer körperlichen Akte ähnelt einem Stoffwechsel. Systole, Diastole; Aufbauen, Abbauen; Crescendo, Diminuendo. Manchmal auch Aufrechterhalten, nie aber für einen unbegrenzten Zeitraum; Leben, Tod.

Ähnlich trägt die menschliche Umwelt, das Gegenstück zu jedem menschlichen Leben, den Stempel eines funktionalen Musters; sie ist die komplementäre organische Form. Jedes Bauwerk, das daher die Illusion einer sozio-kulturellen Welt zu erschaffen vermag, einen „Ort“, an dem sich der Abdruck des menschlichen Lebens artikuliert, muss daher den Anschein des Organischen bei sich führen, einer lebendigen Form gleichen. Die Losung der Architektur lautet „Organisation“.

Foto ER

Liest man die Schriften großer Architekten mit philosophischen Neigungen – zum Beispiel von Louis Sullivan, seinem Schüler Frank Lloyd Wright oder von Le Corbusier – stößt man häufig auf Begriffe von organischem Wachstum, organischer Struktur, Leben, Natur, vitaler Funktion, vitalem Gefühl und auf unzählige andere Vorstellungen, die eher aus der Biologie als aus der Mechanik stammen. Keiner dieser Begriffe bezieht sich auf die realen Materialien oder den geographischen Raum, die ein Bauwerk benötigt. „Leben“, „Organismus“ und „Wachstum“ sind weder für ein Grundstück noch für Baustoffe von irgendeiner Bedeutung. Ihr Bezugspunkt ist der virtuelle Raum, das geschaffene Gebiet der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten. Der Ort, den ein Haus auf der Erde einnimmt – also seine Lokalisation im realen Raum -, bleibt derselbe, auch wenn das Haus abbrennt, zerfällt und abgerissen wird. Der vom Architekten erschaffene Ort ist hingegen eine Illusion, erzeugt durch den sichtbaren Ausdruck eines Gefühls, das, was wir manchmal „Atmosphäre“ nennen. Diese Art von Ort verschwindet mit der Zerstörung des Hauses oder verändert sich tiefgreifend, wenn das Haus irgendeinen einschneidenden Umbau erlebt. Der Umbau braucht nicht einmal sehr radikal oder umfangreich zu sein: Protzige Dachgauben, überladene Vordächer und andere Auswüchse sind nur die Spitze des Eisbergs. Eine scheußliche Farbgebung und eine zusammengewürfelte Inneneinrichtung sind ein vergleichsweise milder Fehlgriff, aber das könnte sehr wohl reichen, um die architektonische Illusion einer sozio-kulturellenTotalität oder den virtuellen „Ort“ zu zerstören. [Anm.]

[Anm.] Vieles ließe sich hier über die Innengestaltung sagen, d.h. über Möblierung und Dekoration. Bei diesem Thema ergeben sich jedoch interessante Beziehungen zum Problem der Aufführung, das sich in der Musik, im Schauspiel und Ballett stellt. Ich werde es daher bis zu einem späteren Kapitel verschieben.

Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form / Eine Theorie der Kunst / Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christiana Goldmann und Christian Grüny. / Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Felix Meiner Verlag Hamburg 2018) ISBN 978-3-534-27034-7 (Zitat Seite 204 ff)

Der hier wiedergegebene Abschnitt überzeugt mich im Nachhinein weniger als der über ZEIT. Ich muss ihn später ergänzen. (Ja, die Seiten vorher fehlen eben…)

  Völs: Abendblick auf Schloss Prösels (JR)

Man könnte auch behaupten, all dies gelte heute nicht mehr, es entspreche dem Geist der Vormoderne, so wie auch das Wort von der „virtuellen“ Umwelt in diesem Zusammenhang. Dabei ist Hybris völlig unangebracht. Sie entspringt der berechtigten Angst, dass uns heute unversehens alle Felle der mühsam gegen die Natur erkämpften Hochkultur wegschwimmen, dass uns nicht einmal das Wunder der digitalen Welt erhalten bleibt, wenn alle Wälder verbrannt sind…

Zu „organischer Stadtbaukunst“ siehe hier und hier.

Foto ER

Die folgende Passage, die mit direktem Bezug auf das Raum-Konzept überdacht sein sollte, habe ich an anderer Stelle schon einmal zitiert und lese das Zitat im früheren Zusammenhang gern aufs neue, nämlich hier.

ZEIT

Die Elemente der Musik sind bewegte Klangformen, doch in ihrer Bewegung wird nichts fortbewegt. Das Reich, in dem sich tonale Einheiten bewegen, ist ein Reich der reinen Dauer. Diese Dauer ist allerdings so wenig wie die musikalischen Elemente ein reales Phänomen. Sie ist kein Zeitraum – nicht zehn Minuten, eine halbe Stunde oder irgendein Bruchteil eines Tages -, sondern etwas vollkommen anderes als die Zeit, in der sich unser öffentliches und praktisches Leben abspielt. Sie ist inkommensurabel mit dem Fortgang der Dinge des Alltags. Die musikalische Dauer ist ein Bild dessen, was man „gelebte“ oder „erfahrene“ Zeit nennen könnte – ein Bild des Lebensflusses, der für uns spürbar wird, wenn aus Erwartungen ein „Jetzt“ und das „Jetzt“ zu einer unabänderlichen Tatsache wird. Solch ein Fluss lässt sich nur in Bezug auf Empfindungen, Spannungen und Gefühle messen, und er weist nicht nur ein anderes Maß, sondern eine völlig andere Struktur auf als die wissenschaftliche Zeit oder jene, die unsere Alltagsgeschäfte bestimmt.

Der Schein dieser vitalen, erlebten Zeit ist die primäre Illusion der Musik. Die ganze Musik erschafft eine Ordnung der virtuellen Zeit, in der ihre tönenden Formen sich in Beziehung zueinander bewegen – immer und nur zueinander, denn etwas existiert dort nicht. Die virtuelle Zeit ist von der Aufeinanderfolge realer Geschehnisse so verschieden wie der virtuelle Raum vom realen. Zunächst einmal ist sei durch den Gebrauch eines einzigen Sinnes, des Gehörs, wahrnehmbar. Keine andere Art von sinnlicher Erfahrung tritt ergänzend hinzu. Schon allein dadurch unterscheidet sie sich erheblich von unserer „Common-Sense“-Version der Zeit, die sogar noch zusammengesetzter, heterogener und fragmentarischer als unser vergleichbarer Raumsinn ist. Innere Spannungen und äußere Veränderungen, Herzschläge und Uhren, Tageslicht, Routinen und Ermüdung liefern uns verschiedene unzusammenhängende Zeitinformationen, die wir aus praktischen Gründen dadurch koordinieren, dass wir die Herrschaft der Uhr akzeptieren. Die Musik hingegen bietet die Zeit unserem unmittelbaren, vollständigen Erfassen dar, indem sie es unserem Gehör erlaubt, sie zu monopolisieren – sie ganz allein zu organisieren, zu erfüllen und zu gestalten. Sie erschafft ein Bild der Zeit, wie sie gemessen wird durch die bewegten Formen, die ihr Substanz verleihen, eine Substanz freilich, die allein aus Klang besteht und so die Vergänglichkeit selbst ist. Musik macht Zeit hörbar und ihre Form und Kontinuität fühlbar.

Quelle Susanne K. Langer: Fühlen und Form a.a.O. Seite 220 f.

Völs: An die Jugend? (Foto JR)

„Quo vadis?“ (Zum Sessellift) Foto: E.Reichow

Identität

Vorübung in Musik

Ich höre gern zu, wenn sich Leute ihrer Sache so sicher sind wie diese indische Rednerin. Sie geht von der These aus, dass Musik wahrhaft universell ist. (Was sofort die Frage provoziert: welche Musik genau?) Wie aber, so fragt sie, ist es möglich, dass eine bestimmte Musik eindeutig nach Hindustani klingt? Was ist das Element, das der Musik ihre Identität gibt? Ist es – in Liedern etwa – die Sprache? Ein Song in englisch klingt westlich, in Hindi (nord-)indisch, in Tamil oder Telugu karnatisch (südindisch), in „Rabindra Marathi“ bengalisch.

Wenn Sie vorweg etwas mehr über die Stilarten der (nicht-klassischen) indischen Musik erfahren wollen, schauen Sie doch bitte hier, des weiteren über Maharashtra-Musik hier, schließlich über die eben schon genannte Bengali-Musik, die sich auf Rabindranath Tagore bezieht, hier.

Unsere junge Lehrmeisterin singt nun in englischer Sprache einen Song, dessen melodische Gestalt eindeutig – nicht-westlich klingt, sagt sie, sondern? Hören Sie ab 1:55 bis 2:27. Dann folgt ein Stück im Khyal-Stil, es ist in „Braj_Bhasha“ komponiert. (Was ist das? Ein nordindischer Dialekt, der vor allem in Bandish-Teil der Komposition gebraucht wird, im wiederkehrenden Refrain-Thema, würden wir vielleicht sagen. Das ist Hindustani-Musik, es müsste also hindustanisch klingen.) Ab 3:05 bis 3:29. Die Überraschung ist perfekt, aber ich glaube, aus andern Gründen als die Sängerin meint.

Wir sagen auf Anhieb, ja, das ist ein westliches Stück – und werden erst allmählich irre. Kennt sie es gar nicht, bzw. kann sie von ihren Zuhörern die sofortige Zuordnung erwarten, wenn sie nicht einmal den Titel nennt? Zudem wird schon nach wenigen Sekunden der Zitatcharakter undeutlicher, vollends im B-Teil der Melodie.

Hilft es, wenn wir Näheres über die „Braj basha“-Musik zu erfahren suchen, hier etwa? Wir sind verunsichert, zumal wir wissen, dass George Harrison in dem Beatles-Stück „Norwegian Wood“ zum ersten Mal eine Sitar eingesetzt hat, – hat er (oder Paul McCartney) auch eine indische Melodie verwendet? (Meine eiligen Nachforschungen sagen: wahrscheinlich nicht).

Unten folgt als erstes das ungefähre Schriftbild der Melodie, die von unserer Sängerin gesungen wird. Danach das Stück, das wir sofort assoziieren. Vielleicht ist es in Indien (schon wegen der Sitar) so bekannt geworden, dass es in verkürzter, abgerundeter Form in die Hindustani-Musik einbezogen wurde, – wo es nun eine exotische Signalfunktion hat, ohne dass jemand wissen muss, warum. (Zur Sicherheit für „Nicht-Notisten“ vorweg das klingende Original: hier.)

Anuja Kamat geht unbeirrt weiter: sie lässt uns an 2 Klangbeispielen prüfen, ob es das Instrument ist, das Identität schafft: a) mit einer rhythmisierten Akkordfolge, die man sofort als „spanisch“ identifiziert, b) mit einer melodischen Folge leicht ornamentierter Einzeltöne, eindeutig „karnatisch“ (südindisch), – so verschieden es klingt, sagt sie, beides wurde auf der E-Gitarre produziert. Dann demonstriert sie die Aussprache eines bestimmten englischen Wortes, nämlich DAUGHTER a) indisch-englisch, b) amerikanisch, c) britisch. Schließlich singt sie dieselben Töne einer aufsteigenden pentatatonischen Skala a) im Hindustani-Stil, b) im karnatischen Stil, c) im westlichen Popstil. Was macht den Unterschied? fragt sie. Es ist die „Intonation“, antwortet sie und meint die Färbung und Inszenierung der Tonfolgen, auch rhythmische Faktoren, alles geht Hand in Hand. Als nächstes wendet sie sich einer Gypsy Music aus der türkisch-iranisch-afghanischen Region zu, die sie mit „Bebungen“ auf bestimmten Tönen versieht: „Embellishment“ & „Ornamentation“. Ab 10:08 bis 10:26.

Jetzt kommt die Interpretin auf Musik, die mit ihren Eigenarten für Identität einsteht. „With a little generalistic approach“. Sie erklärt, warum man diese Typisierung braucht, z.B. um einen Menschentyp im Film zu kennzeichnen. Etwa den afghanischen.

Ab 11:04 über „Kabuliwala“, afghanische Einwanderer in Calcutta und der berühmte Film (1961), der sich um ihr Schicksal dreht (siehe auch BBC hier) darin der Song „Aye Mere Pyare Watan“ mit der typischen Rubab-Beteiligung vgl. hier. Ab 11:52 bis 12:48. Sie resümiert: „That’s the beauty of intonation!“

Exkurs Dem aufmerksamen Beobachter ist es sicher nicht entgangen, – die obige Notation des Beatles-Songs enthält einen gravierenden Fehler: der Sextsprung aufwärts im vorletzten Takt der Zeile müsste ein Quintsprung sein: also f-c statt f-d. Aber der Denkfehler ist kein Zufall: immer schon hat sich mir dieses Intervall als besonders charakteristisch eingeprägt, wobei es sich aber „erinnerungstechnisch“ mit der schönen Sexte danach vermischt hat; das leicht „Künstliche“ dieser Wendung wollte erinnert sein (und ist dabei noch künstlicher geworden). Auch im Gitarrenvorspiel erscheint der „Hochsprung“ erst nach der Wiederholung (!); in der indischen Version ist er von vornherein „weggeschliffen“, ersetzt durch die bloß spielende Terz.

Sextsprung: Gravierender Fehler

Um mit AK fortzufahren, ab 13:00. Es gibt Leute, die einem raten, man solle die klassische Musik lernen, egal, ob Hindustani oder Karnatisch, dann könne man jedes Genre in der Welt meistern. Keine Sorge. Aber man muss das doch „mit einer Prise Salz“ nehmen, denn jeder Typus, jedes Genre, jede Kategorie der Musik hat ihre eigenen ästhetischen Prinzipien, hat ihre eigene Schönheit, sagt sie. Und weiter: Ich spreche nicht von „Intonation“. Jeder Typ von Musik hat seine eigene Grammatik, seine eigene Literatur, seine eigene Philosophie. [Hier differenziert AK ihr Eingangsstatement, dass Musik universal sei! Musik in all ihren Ausprägungen, die auf der Welt existieren, ist universell.] Ab 16:00 Über das Lernsystem in der Kindheit [Leistungsprinzip], Beurteilung von außen, das Publikum etc. „impressing business“! Es ist in an uns Lehrern, die nächste Generation zu lenken: „Don’t use the music as a medium to impress!“ Nehmt sie als ein Medium des Ausdrucks („to express“). AK lächelt gewinnend und erhält Beifall. Musik kommt nicht vom Skalenlernen – obwohl Skalen gelent werden müssen – Musik kommt aus eurem Herzen! Ultimativ möchte ich sagen: Musik gibt wahre Identität – „true identity, music is your intention and your emotion!“ (16:09)

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Mögliche Missverständnisse

Man könnte einwenden, dass man das Wesentliche mancher Melodien nicht erfasst, wenn man sie auf ihre bloßen Tonfolgen reduziert (im Notenbeispiel habe ich bewusst alle Vortragsnuancen unberücksichtigt gelassen). Andererseits kann man auch ein englisches Wort – abhängig vom jeweiligen biographischen Hintergrund – recht unterschiedlich aussprechen, ohne dass es seine Bedeutung verändert. (Im Chinesischen dagegen wären andere bedeutungstragende Elemente zu berücksichtigen, wenn das Wort seine Identität bewahren soll.) Schwieriger wäre es, einen Dialekt glaubwürdig wiederzugeben, da hier – abgesehen von Worten und ihrer Bedeutung – auch klangliche Nuancen in Tonfall und Artikulation von ausschlaggebender Bedeutung wären. Zur Identität eines Dialektes gehört, dass er nicht wie eine Imitation klingt. Ganz ähnlich ist es, wenn man einen Musikstil oder ein Genre andeuten will: ein Klischee genügt nicht. Eine kurze akkordische Flamenco-Formel führt keinen Flamencokenner in die Irre. Sie kann allenfalls der Parodierung oder informellen Markierung dienen.

Dies ist der indischen Referentin übrigens völlig klar: sie spricht „with a little generalistic approach“ und verweist auf Techniken des Films, in denen auch „generalisiert“ wird: und zwar auch auf Seiten des Rezipienten, sonst würde er synchronisierte Filme gar nicht ertragen. Weder Mundbewegungen noch Gestik stimmen mit den Übersetzungsprodukten im Detail passgenau überein. Man nimmt es bis zu einem gewissen Grade hin, ja, man korrigiert stillschweigend. Aber nur Outsider lassen sich in einem Film vom Instrument oder bestimmten Ornamenten täuschen, wenn es wirklich um Musik geht. Kein Schauspieler, der das Instrument nicht beherrscht, kann einen ernsthaft musizierenden Pianisten oder Violinisten glaubwürdig darstellen. Jedenfalls nicht für Leute, die wissen, wie sich echtes Musizieren anfühlt. Und es ist sehr gewagt zu behaupten, dass wahre Musik aus dem Herzen kommt, wenn man nicht zugleich darauf hinweist, dass sie dort auch hineingekommen (oder sagen wir auch ruhig: erweckt worden) sein muss. Schon ein so geläufiges Phänomen wie „Swing“ wird niemand, der nur in sich hineinhorcht, je nach außen projizieren. Man muss es erfahren und erlebt haben.

Zweifellos weiß Anuja Kamat, dass man „musikalische Identität“ nicht durch viel guten Willen, sondern durch langwierige Übung gewinnt. Wobei Äußerliches und Innerliches in lebendiger Wechselwirkung stehen. Das wäre allerdings ein weiteres Kapitel.

Warum soll es einfacher sein, über musikalische Identität als über menschliche Identität zu reden? Verdanken wir sie der Schule, der Gesellschaft, dem Volk, den Schriftstellern, die wir gelesen, den Kunstwerken, die uns bewegt haben, den Kulturen, die wir kennengelernt haben? Was ist Persönlichkeit? Ein Weltbürger vielleicht – wie wäre denn das? Auf einem Blatt an der Wand hängen die Sätze:

Weltbürgertum ist jenes kollektive Band, das die Menschen, unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Sozialisation verbindet: Bei Humboldt heißt es: „Soviel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln, ist im höheren Sinn des Wortes Leben“.

Oder mit Adorno, der ans Ende seiner „Glosse über Persönlichkeit“ das Hölderlin-Wort setzte:

Drum, so wandle nur wehrlos
Fort durchs Leben, und fürchte nichts!

(…nachzulesen für geduldige Menschen, die es ernst meinen, hier…)

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DANK an Manfred Bartmann, der in Facebook auf den Link mit Anuja Kamat aufmerksam gemacht hat!

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Autobiographische Nachbemerkung

Ich hätte Lust, ein paar (eigene) Vorurteile zur Sprache zu bringen. Das ist gefährlich, weil es manchen Lesern willkommen ist, und dann bleiben sie auf mir hängen („hat er doch selbst gesagt“). Zum Beispiel, dass ich vielleicht anders auf diesen oben behandelten Youtube-Beitrag reagiert hätte, wenn er von einem „weißen alten Mann“ vorgetragen worden wäre. Ich habe keine Vorurteile gegenüber „weißen alten Männern“; sie sind aber als Personifizierung bestimmter Vorurteile gerade in aller Munde, und ich fürchte, dass ich sie nicht benennen darf, ohne selbst in die Schusslinie zu geraten. Ein Beispiel: da ich keinen Kopfhörer für den Laptop habe, der mir nicht gehört, hat meine Frau gefragt, ob ich in diese Stimme da verliebt sei. Da fiel mir ein, was ich gestern (9.9.19) in der Süddeutschen gelesen habe. Über Rollenklischees: „So sind sie halt“. Von Kathrin Werner. Sehr guter Artikel. Mir fiel außerdem ein, dass ich ursprünglich allgemeiner über Identitäten und „Identitäre“ (!) hatte schreiben wollen. Um aber jetzt näher am Thema zu bleiben, erinnere ich mich doch wieder an ein anderes Intervall bei den Beatles. Es hatte mir zu schaffen gemacht auf der ersten Orient-Tournee 1967. Ich summte den Kollegen einen unklaren Melodiefetzen vor und hoffte auf Ergänzung, und irgendwann wusste jemand: „das ist von den Beatles“. Ja klar, das Lied „Michelle“, und es ging um das Intervall der übermäßigen Sekunde, das man im arabischen Raum dort nicht selten und auf neue Weise hört. Aber die ganze erste Melodiezeile ist ja so originell, dass man nur staunen kann, – und dabei so unspektakulär, im Parlando-Ton! – – – Eine andere Melodie, die wir alle nicht zuordnen konnten, die uns nicht losließ und auf der ganzen Tournee begleitete – auch Volker David Kirchner war dabei – stammt aus „Schwanensee“; sie gehört zu dem bösen Zauberer. Aber das ist „ein Thema für sich“. Jetzt muss ich erst Michelle aufschreiben. Also die Ohrwürmer 1967.

Michelle, ma belle / These are words that go together well / My Michelle.

Ohne Gewähr JR

Warum ist mein Foto so blaustichig? Nur weil die Sonne so hell scheint? Jedenfalls haben genau diese Melodien – ohne Noten – heute auf dem Weg um den Völser Weiher wieder ihren Dienst getan:

Handyfotos: JR

(Am Völser Weiher. Leider ist mir die Libelle entwischt. Kleine schwarze Fische huschen durchs Wasser. Blaualgengefahr wird angezeigt. Dem Massiv des Schlern (hinter den Kieferzweigen) „vorgelagert sind die beiden Türme der Santner- (2413 m) und der Euringerspitze (2394 m)“.

Das Volk ist kein Monolith

Wahrheiten, die sich nur dank Presse vermitteln

(Sonntag ist Wahltag in Brandenburg und Sachsen)

Nichts ist so infam wie die Schimpfworte „Lügenpresse“ oder „Volksverrräter“. Womit nicht gesagt ist, dass „die“ Presse für Wahrheit einsteht, sie kann sogar „Wahrheit“ heißen („Prawda“) und sie permanent untergraben. Daher gehört zur Presse die Pressefreiheit, und diese ergibt sich aus der Meinungsfreiheit, womit auch nicht gesagt ist, dass daraus eine einzige als unumstößlich w a h r hervorgehen muss. Man kann sich allerdings viele unnütze Worte (und Schlagworte) sparen, wenn die wichtigsten Gedankengänge bereits differenziert dargestellt wurden oder bereits in den Institutionen abgesichert sind. Aber sie müssen auch präsent bleiben. Zum Beispiel in den Kommentaren und Leitartikeln einer seriösen Presse. Und die ist meist schon erkennbar am Ton der Überschriften und Schlagzeilen.

Ich hätte mir diese einleitenden Worte sparen können, es würde genügen, den Leitartikel wiederzugeben, der mich in seiner Klarheit begeistert hat. Und wenn jemand mir entgegenhält, es seien doch lauter Selbstverständlichkeiten, „jedes Kind weiß doch darüber Bescheid“, dann frage ich, wieso die obengenannten Schimpfwörter so geläufig werden konnten. Also zitiere ich unverdrossen und genieße die wunderbare Selbstverständlichkeit der guten Formulierungen:

Die Wirren in Großbritannien sind das Symptom einer Krankheit, die derzeit viele Demokratien befällt. Populisten versuchen, die Parlamente zu schwächen, zugunsten starker Männer, die sich direkt auf den Volkswillen berufen. Wenn der Anführer – ob er nun Trump, Johnson oder Matteo Salvini heißt – das Volk verkörpert und dessen Willen vollstreckt, warum sollte er dann von einem Parlament kontrolliert werden, das diesen Willen in Fraktionen bricht und damit schwächt, ja verfälscht? Mit dieser Argumentation hebelt Johnson das Parlament aus. Trump fordert Volksvertreterinnen, die nicht seiner Meinung sind, auf, die USA zu verlassen. Italiens Lega-Chef Salvini verlangt, ihm „alle Vollmachten“ zu erteilen oder das bis 2023 gewählte Parlament sofort aufzulösen, um ein ihm genehmeres zu wählen.

Sie propagieren die Formel Volk + Anführer = nationale Größe. Eine Formel, die in den Totalitarismus führen kann.

Die Propaganda der Populisten baut auf einer Lüge auf, der Lüge vom einheitlichen Volkswillen. Dabei offenbart jede freie Wahl, dass das Volk kein Monolith ist, sondern ein Fels aus vielerlei Gestein, voller Brüche und Risse. Um dies zu leugnen, greifen Populisten zu einem Trick: Sie behaupten, den wahren Volkswillen zu vertreten. Wer sich ihnen entgegenstelle, sei zwangsläufig ein Volksverräter. Wobei die Verräter schon mal den Großteil der Bevölkerung ausmachen können. Die Idee, dass der Volkswille von Volksvertretern im Parlament als Kompromiss gefunden wird, ist Populisten fremd.

Genau dieses Prinzip der parlamentarischen Demokratie aber hat sich in vielen Staaten, zum Beispiel Westeuropas, in Jahrzehnten bewährt. Und es wird noch wertvoller werden. Denn die Probleme, denen sich Staaten stellen müssen, werden immer komplexer und schwerer durchschaubar, ob es nun um Handelsabkommen, Rentensysteme, die Kontrolle von Internetkonzernen oder den EU-Austritt Großbritanniens geht. Sie lassen sich schlecht per Volksentscheid mit Ja oder Nein lösen. Oft liegt die beste Lösung im Zwischenweg, der nur im Parlament ausgelotet werden kann. Und meist ist es fatal, wenn knappe Volksentscheide wie der über den Brexit bewirken, dass eine Hälfte der Bürger alles bekommt und die andere gar nichts. Das kann eine Nation zerreißen, wie die Briten demonstrieren.

Gerade in hysterisierten Zeiten der Filterblasen, asozialen Netzwerke und orchestrierten Lügen können starke Parlamente zur Beruhigung und Versachlichung beitragen. Hierzu müssen sie sich jedoch selbstkritisch betrachten. manche Parlamente, das italienische etwa, gerieten nicht ganz zu Unrecht in den Verruf einer „Kaste“, die mehr dem eigenen Wohl als dem des Landes dient. Korruption zerfrisst den Parlamentarismus und führt zum Ruf nach starken Führern. Ein überbordender Lobbyismus, in Brüssel, oder auch in Berlin, untergräbt das Vertrauen der Bürger in den Willen der Abgeordneten, dem Gemeinwohl zu dienen. Und manchmal bieten Parlamente ein solches Bild bösartiger Parteilichkeit, dass sich Wähler angeekelt von „der Politik“ abwenden. Das ist in Rom zu beobachten oder in Washington. Und auch das Abgeordnetenhaus in London hat sich beim Brexit als kompromissunfähig erwiesen und schlecht ausgesehen. (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 30. August 2019 Im Namen des Volkes Von Stefan Ulrich.

Mehr über Parlament? Siehe hier. Über Filterblasen? hier.

Nachtrag (am Tag nach der Wahl)

Schlussworte des Kommentars im Solinger Tageblatt (WZ)

„Ein Viertel der Wähler, darunter viele bisherige Nichtwähler, ist bereit, offene Rassisten und Rechtsradikale zu unterstützen. Dahinter stecken emotionale Gründe, die man nachvollziehen kann, die aber weder eine ausreichende Erklärung noch eine Entschuldigung sind. Man wird diese Leute kaum zurückgewinnen. Die Politik im Bund und in den betroffenen Ländern sollte daher stärker auf die jungen, weltoffenen und gut ausgebildeten Menschen in den Metropolen wie Leipzig, Dresden und Rostock setzen. Ihre Zahl nimmt zu, auch durch erfolgreiche Rückkehrer. Sie sind die Zukunft.“ (Werner Kohlhoff)

Fazit: Man kann nicht alle Leute da abholen, wo sie stehen. (Weil sie sich einfach nicht bewegen.)

„Emotionale Gründe“ – es ist ein moderner Fehler, das Wort „emotional“ bereits als ausreichendes Argument zu betrachten. Es kommt von so tief innen, dass man es nicht weiter darlegen muss… Mir fällt ein ZEIT-Artikel ein über die (sogenannten) „Ängste“ und die Zumutung, diese immer ernstnehmen zu sollen. Es ist nämlich sehr oft das falsche Wort für Denkfaulheit. Aber so steht es dort nicht, – ein Extrabeitrag, der das identitäre Verhalten reflektierte, würde sich lohnen.