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…mehr als alle Schulweisheit?

Staunen über unklare Begriffe

Hätte ich doch vorgestern bloß keinen Engel ins Spiel gebracht. Heute kommt die neue ZEIT, und auch sie findet keinen passablen Ausweg: „Mit Engelszungen“ steht auf der Titelseite und parallel dazu ein rationaler getönter Artikel mit dem Titel „Endloses Staunen“. Ulrich Greiner meint: „Die Weihnachtsgeschichte hat märchenhafte Züge, doch ihre Wahrheit hängt nicht an der Wahrscheinlichkeit“. Schrecklich. Dabei auch manchmal richtig. Hier ist der Übergang:

Die Verheissung, dass Geschichten auf bestürzende Weise unser Verständnis der Welt (und damit auch die Welt) verändern können, ist nicht auf die Bibel beschränkt. Sie ist eine fortwährende Quelle der Literatur. Das Projekt der „Romantisierung“ bedeutete für Novalis, dem „Gemeinen einen hohen Sinn und dem Bekannten die Würde des Unbekannten“ zu geben. Auch Rilke glaubte, die künstlerische Bewältigung selbst des Schrecklichen lasse einen „großen, positiven Überschuss“ zurück: „als ein Dasein-Aussagendes, Sein-Wollendes: als einen Engel“.

Da ist er wieder: der Bote aus einer anderen Welt. Niemand wird beweisen können, dass es Engel gibt; aber auch nicht, dass es sie nicht gibt. Als ihm der Geist erscheint, sagt Hamlet zu Horatio: „Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.“

Auch davon erzählt die Weihnachtsgeschichte.

Quelle DIE ZEIT 23. Dezember 2015 Mit Engelszungen Die Weihnachtsgeschichte hat märchenhafte Züge, doch ihre Wahrheit hängt nicht an der Wahscheinlichkeit. Von Ulrich Greiner.

Nein, unerträglich, noch einmal dieses Shakespeare-Zitat, nur diesmal zu Weihnachten! Es passt auch zu Ostern und erst recht zu Pfingsten. Nein, nirgendwo passt es außer an Ort und Stelle, im Drama, – wo es aber auch nicht etwa dem Aberglauben eine Bresche schlagen soll. Schon das deutsche Wort „Schulweisheit“ tendiert in die falsche Richtung, „philosophy“ steht bei Shakespeare, und nicht dieser spricht, sondern Hamlet, eine Dramenfigur, nicht der offizielle Vertreter einer alternativen Philosophie. Und gerade Hamlet ist „kein Garant für die Existenz von Paraphänomenen, sondern im Gegenteil das Urbild des skeptischen Wissenschaftlers.“(Lambeck). Nicht umsonst macht er die Vermutung, der Geist habe ihn getäuscht, falsifizierbar und kommunizierbar, indem er einen Test veranlasst. Ich folge hier dem Kapitel „Das Hamlet-Argument“ in Martin Lambecks Buch „Irrt die Physik / Über alternative Medizin und Esoterik“ Verlag C.H.Beck München 2003/2005 Seite 116 f.

Es geht letztlich weder um Hamlet noch um Shakespeare, es geht um den Geltungsbereich wissenschaftlicher und philosophischer Logik, kurz auch „Denken“ genannt. Inakzeptabel ist schon die Suggestion des bereits zitierten Satzes: „Niemand wird beweisen können, dass es Engel gibt; aber auch nicht, dass es sie nicht gibt.“

Man lese den Blog-Eintrag von Josef Honerkamp, der ebenfalls von dem Hamlet-Zitat ausgeht, – um über Denkfehler zu reflektieren: Hier.

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Aber auch das Staunen kann nicht als Freibrief für Mystizismus gelten. Zuweilen dient es nur dazu, die Ruhigstellung des Denkens zu beschönigen. Ich denke weniger, also bin ich. Klingt doch sehr gut. Je nachdem, was man unter Denken versteht. Wiederverzauberung um jeden Preis: Und deshalb rückt man „Spukhafte Fernwirkung“, „Geisterteilchen“  und die „Oberfläche des Pluto“ in den Mittelpunkt, man kann drauf schwören: Als spukhafte Fernwirkung ist die Suggestion zu erwarten, dass das profane Denken auch im Nahbereich wenig Sinn hat, wir mögen also auf die Zauberwirkung weiterer Forschung warten. Es erinnert mich an die „Wendezeit“ von Fritjof Capra: den Fußweg des Schritt-für Schritt-Denkens zu überspringen und sich lieber mit Hilfe der Teilchen-Physik ins Zentrum des Universums zu beamen. Dort warten lauter erleuchtende Geheimnisse… So auch hier in dem anderen Seite-1-Artikel der aktuell-weihnachtlichen ZEIT:

ZITAT

„Man wird nicht sagen dürfen, dass die Physik die Geheimnisse der Natur wegerkläre“, schrieb der Philosophie-affine Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, „sondern dass sie sie auf tieferliegende Geheimnisse zurückführe.“ So gesehen ist das gesamte Diesseits ein unerschöpflicher Quell des Staunens. Es genügt schon die Hand auszustrecken.

Und damit ist der Autor zum Anfang seines Artikels zurückgekehrt:

In jedem Moment rasen durch diese Hand unsichtbare Teilchen, die aus dem Herzen der Sonne stammen. Neutrinos heißen sie und sind nicht nur unsichtbar, sondern passieren praktisch ungehindert den Körper. Unvorstellbar? Besser! Die Erkenntnis aus acht Jahrzehnten Teilchenphysik.

Die Neutrinos sind ein Beispiel dafür, wie viel Erstaunliches jeder vermeintlich profane Augenblick birgt – sobald wir ihn mit kindlichem Gemüt betrachten, mit Neugier statt routiniertem Desinteresse.

… und so weiter, und so weiter, so ähnlich hat es meine Oma mir auch erklärt,  „steht aber doch immer schief darum, denn …“ nun? nun? … bloß kein Goethe an dieser Stelle! So wenig wie Shakespeare. Ich weiß, das Staunen steht hoch im Kurs, zuweilen auch irreführend „Ungläubiges Staunen“ genannt. Und dabei lasse ichs bewenden.

Quelle der eingerückten Zitate DIE ZEIT 23. Dezember 2015 Endloses Staunen Geisterteilchen, spukhafte Verschränkung, neue Cousins: Kaum zu glauben, was Forscher 2015 herausfanden. Von Stefan Schmitt.

Vom Zweifachen, Vielfachen und vom Einfachen

Carl Dahlhaus und ein Märchen, wiedergelesen

ZITAT

Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere, ist zu grob, um der musikalischen Wirklichkeit gerecht zu werden, obwohl angesichts der Tendenz, Kompliziertes als unverständlich zu denunzieren und aus psychologischen Tests, in denen Versuchspersonen gegenüber verwickelten Gebilden versagen, hämische ästhetische Urteile abzuleiten, das Verfahren, ähnlich simplifizierend zu erwidern, nicht unangemessen wäre.

Das sind 51 Wörter in einem Text von 420 Zeichen. Es wäre eine schöne Übung, dies „mit eigenen Worten“ wiederzugeben. Oder auch darzulegen, warum es sinnvoll ist, die Satzteile so ineinander zu verschachteln. Der Sinn ist vielleicht, gleichzeitig mit der Aussage über verwickelte Gebilde eine solche Konstruktion als Beleg mitzuliefern.

ZITAT

Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens: und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.

Das sind 72 Wörter in einem Text von 384 Zeichen. Mehr Wörter also, aber weniger Zeichen. Was folgt daraus? Gar nichts, außer, dass man – in diesem Falle – weiterlesen möchte. Man könnte hinzufügen: aber in dem vorhergehenden Zitat möchte man vielleicht weiterdenken.

Ich unterbreche, um Erinnerungen zu rekapitulieren. Ja, das Märchen kannte ich seit den 50er Jahren nahezu auswendig, da ich eine 78er Schallplatte davon besaß, mit der Stimme von Mathias Wiemann, die ich liebte. Und mit Texten wie denen von Dahlhaus hatte das Musikstudium begonnen: Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ besaß ich seit Studienbeginn Mai 1960 in Berlin, hatte ein Stadtbüchereiexemplar aber schon im Freibad Bielefeld im Sommer vorher … angeblättert; deshalb kommt mir der Chlorgeruch in den Sinn, wenn ich den Anfangstext anschaue. Ich war gescheitert und nahm einen neuen Anlauf, von Berlin an sollte mein Leben „aufgeklärt“ werden, warum legte mir Adorno gedankliche Wackersteine in den Weg? Man sieht es dem Text an, welche Probleme ich schon mit dem Benjamin-Zitat hatte.

Adorno Benjamin-Zitat Ich schrieb also eine Auflösung des Textes auf die freie Seite daneben und war etwas stolz. Die zwei Autoren (Strawinsky und Schönberg) entsprachen den entlegenen Extremen, den scheinbaren Exzessen der Entwicklung und: ich durfte sie – auf einer höheren Ebene – beide gleichermaßen verehren.

Adorno Benjamin-Zitat Auflösung Es gibt in der Entwicklung entlegene Extreme, scheinbare Exzesse der Entwicklung. Es besteht aber ein höherer Zusammenhang, eine Totalität, da es möglich ist, daß die Gegensätze sinnvoll nebeneinander stehen; die Form der Betrachtung aber, die aufzeigt, wie sich eine einheitliche Idee verzweigt bis in entlegene Extreme, das ist philosophische Geschichte.

Die Furcht vor schwierigen Texten war mir genommen. Und auf die allererste Seite (mit dem Datum) notierte ich einen Satz, als sei ich der Erfinder der seriellen Musik: Jeder Ton muß durch die Reihe bestimmt sein!? Mit gleichem Recht: Wodurch legitimiert sich ein Rhythmus, Dynamik? Interessant auch der Hinweis Über Differenzierung S. 78, – zumal wenn ich das Dahlhaus-Zitat (oben) betrachte, das den Anlass zum heutigen Blog-Eintrag gab, der dann abdriftete.

Adorno JR Berlin Notiz

Um auf den Anfang (Dahlhaus) zurückzukommen, gebe ich zunächst folgende Aufteilung der Satzfolge zu bedenken (man springe probeweise auch von Satzteil 1 direkt zu Satzteil 2) :

1) Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere, ist zu grob, um der musikalischen Wirklichkeit gerecht zu werden, obwohl

2) angesichts der Tendenz, Kompliziertes als unverständlich zu denunzieren und aus psychologischen Tests, in denen Versuchspersonen gegenüber verwickelten Gebilden versagen, hämische ästhetische Urteile abzuleiten,

3) das Verfahren, ähnlich simplifizierend zu erwidern, nicht unangemessen wäre.

Anschließend versuche man zu erfassen, ob meine folgende Version den gemeinten Sachverhalt trifft:

Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere, ist zu grob und wird der musikalischen Wirklichkeit nicht gerecht. Es gibt [zwar] die Tendenz, Kompliziertes als unverständlich zu denunzieren. Oder auch hämische ästhetische Urteile aus psychologischen Tests abzuleiten, in denen Versuchspersonen, [die als intelligent gelten,] gegenüber verwickelten Gebilden versagt haben. [Aber] es wäre durchaus ein Verfahren möglich [und auch angemessen], ähnlich simplifizierend zu erwidern.

Jetzt wäre die Aufgabe, ein solches Verfahren probeweise zu formulieren. (Es würde der Komik nicht entbehren.) Mir scheint einstweilen, dass sich das Wort obwohl am Ende des Satzteils 1) in seiner logischen Funktion als angreifbar erweist. Enthält es gar eine Drohung?

Dahlhaus fährt jedenfalls fast in diesem Sinne fort, um dann – „jenseits von Apologie und Polemik“ – einzulenken:

Gegenüber auftrumpfenden Banausen reicht die Berufung auf eine Entwicklung zum Differenzierteren, die einen Fortschritt bedeutet, vorerst aus. Jenseits von Apologie und Polemik aber scheint festzustehen, daß zu allen Zeiten – und die Musik Anton von Weberns bildet keine Ausnahme – die Bemühung vorherrschte, Kompliziertheit in der einen Richtung durch Einfachheit in einer anderen im Gleichgewicht zu halten.

Hier sei auch noch der Ausgangspunkt des Gedankengangs nachgeliefert:

Die These Hans Mersmanns, daß die Analysierbarkeit musikalischer Werke ein Wertkriterium sei, stößt einerseits beim Volkslied, andererseits bei der noble simplicité des Klassischen an ihre Grenzen. Die Vorstellung, das Differenzierte sei stets das Höhere … (etc. s.o.).

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln TB 255 (1967) Seite 136 f

Dieses Problem des Einfachen ist es eigentlich, das mich interessiert. Daher auch der Zitatkontrast mit dem Märchen vom Froschkönig. Vorläufig abschließend sei hinzugefügt, wie eigentlich die Gebrüder Grimm zu ihrer sprachlich so suggestiv einfachen Fassung gekommen sind: von einer simpleren, aber weniger schönen Vorlage, die 1810 noch so ausgesehen hat:

Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Darauf nahm sie eine goldene Kugel und spielte damit, als diese plötzlich in den Brunnen hineinfiel.

Korrekter ist es natürlich als wenn (s.o.) von einem Königskind die Rede ist, dann aber sie (und nicht es) Langeweile hatte. Man merkt es nicht, weil der Erzählton darüber hinwegführt.

Mehr zu Wilhelm Grimms Arbeit am Märchen bei Ulrich Greiner in der ZEIT (11. Dez. 2009).

Nachtrag 8. Mai 2015

Frage an Joan Baez

Was muss ein Lied haben, um mehrere Jahrhunderte zu überdauern?

Das weiß ich selbst nicht so genau. Oft haben diese Lieder etwas Hymnisches. Sie wirken groß und wahrhaftig, selbst wenn sie ganz alltägliche Dinge behandeln. Aber um nicht vergessen zu werden, muss ein Song auch gut konstruiert sein. Ihn einem Publikum aus dem Nichts heraus vorsetzen zu können, ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal.

Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin 19 / 8. Mai 2015 Seite 35 „Es gibt mehr Gründe zu protestieren als je zuvor“ Joan Baez / Interview: Johannes Waechter