Wenn das Fenster geöffnet ist, höre ich die Glocken von St. Joseph, oft auch nur eine einzige, und ich weiß: das ist die Totenglocke. Ich liebe diese Klänge, aber gerade dieser einsame Ton erinnerte mich an ein altes ungelöstes Rätsel: wir haben vor vielen Jahren die Bach-Kantate „Liebster Gott, wenn werd ich sterben“ für den WDR aufgenommen – ich glaube in Heilsbronn mit den Windsbachern -, und da stand Günther Höller im Hintergrund und spielte auf der Traversflöte ein so eigenartiges Motiv, einen pochend wiederholten hohen Ton, als sei es so selbstverständlich wie alles andere an diesem Wunderwerk. Eine kleine Unruhe entstand bei uns ahnungslosen Geigern, nach einer Weile kam es heraus (Krings? Neininger?): das ist das Totenglöckchen! Niemand wollte es so recht glauben, – sollte Bach den Glockenschlag derart verfremdet haben? In solcher Höhe und zudem mit wechselnden Tonhöhen, fast wie ein Vogelruf? Gibt es irgendeine Ähnlichkeit???
Natürlich – dies ist eine katholische Glocke, wie hier in Solingen-Ohligs. Irgendwann, so habe ich mir vorgenommen, würde ich mir in Leipzig selbst Klarheit verschaffen, vielleicht gibt es da noch die Originalglocken aus Bachs Zeit. Protestantische „Glöckchen“, jawohl, vielleicht sogar in verschiedenen Tonhöhen, in der Thomaskirche ist die Kantate am 24. September 1724 aufgeführt worden, jeder hatte die realen Glockentöne im Ohr. Und sollte sie wiedererkennen, wie hier 10 Sekunden nach Beginn der Kantate:
Heute habe ich endlich die Auflösung des Rätsels entdeckt, bei Martin Geck, und er hat diesen Passus für das Jahr 2000 geschrieben und die Information auch schon in einem Buch des Bach-Forschers Arnold Schering von 1950 vorgefunden. Hier soll es nun zweifach gesichert zu lesen sein:
„Das Sterbegeläut der Stadtkirchen … bestand aus fünf Glocken, deren höchste, das Totenglöcklein, in schnellen, schrillen Pulsen bimmelte“, so schreibt Arnold Schering, ein Kenner der Leipziger Musikgeschichte. Und eben das hohe Sterbeglöckchen erklingt unüberhörbar, fast aufdringlich, im Kopfsatz der Kantate „Liebster Gott, wenn werd ich sterben“. Ursprünglich wollte Bach dessen Ton von einer Piccolo-Blockflöte in D darstellen lassen, fand dann aber offensichtlich keinen Spieler für die heikle Partie und verfiel deshalb auf eine Traversflöte. Diese sticht exzentrisch genug aus dem Gesamtklang heraus: Ihre Stimme ist nur gelegentlich thematisch, begnügt sich vielmehr weithin damit, für die Länge eines Taktes einen hohen „Glocken“-Ton – meist in extremer Höhe – zu repetieren. Selten hat Bach manieristischer komponiert, und man möchte sogar Arnold Schering zustimmen, welcher mutmaßt: „Ein Zittern mag jedesmal durch Bachs Gemeinde gelaufen sein, wenn immer wieder unvermutet und nach sekundenlangem Stillschweigen dieses seelenlose Geklingel sich hören ließ.“
In dem abgedunkelten, gedämpften Klang der vier Streicherstimmen darf man den Klang der tieferen Glocken wiedererkennen. Angesichts des 12/8-Taktes wird man jedoch auch an ein himmlisches Pastorale denken: Dessen Stimmung wird vor allem von den beiden Oboi d’amore beschworen, die wie Hirtenschalmeien Ketten lieblicher Terzen und Sexten blasen. Harmonische Reibungen, verminderte Septakkorde und Trugschlüsse sorgen dafür, daß der Satz gleichwohl nicht als Idylle, sondern als Elegie wahrgenommen wird, die „dem Hörer in großartiger Vision die Stunde des Todes vor Augen“ führt.
Quelle Martin Geck: „Denn alles findet bei Bach statt“ / Erforschtes und Erfahrenes / Verlag J.B.Metzler Stuttgart und Weimar 2000 ISBN 3-476-01740-0 / Seite 18f / Zitate im Zitat: Arnold Schering: Über Kantaten Johann Sebastian Bachs, 3. Auflage, Leipzig 1950, S. 127 / Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach, 5. Auflage, München und Kassel 1985 S. 613.
Bestimmt wird man eines Tages hier das echte Glöckchen im O-Ton nachtragen können. Ich will jetzt – wenigstens als Belebung der Phantasie – ein paar Geläute anhängen. Zunächst die großen Glocken der Thomaskirche:
Im Begleittext des Urhebers folgender Hinweis:
Im Turm der Thomaskirche zu Leipzig, an der J.S. Bach von 1723 bis 1750 als Director musices wirkte, hängen vier historische Läuteglocken. Die größte Glocke ist die Gloriosa, die an hohen Festtagen geläutet wird. Separat in der Turmlaterne hängt noch eine fünfte Glocke, welche die Viertelstunden schlägt. Sie wurde von der Glockengießerei Schilling in Apolda nach dem Vorbild der Vorgängerin von 1539 gegossen.
Und noch einmal anders (im externen Fenster) Hier. (Benennung der Töne folgt.)
Was mir noch fehlt, ist also das (oder wenigstens: ein) Glöcklein, das „in schnellen, schrillen Pulsen“ bimmelt, wie Arnold Schering schrieb. (Es wird folgen…)
Zum Beispiel HIER. (Kath. Filialkirche St. Michael in Vogtsburg-Niederrotweil)
Aus dem kritischen Begleittext:
Die Intervalle sind sehr weit gespannt, so dass klangliche Lücken im Zusammenklang der Glocken entstehen. Die Einbindung der kleinen Glocke (aus der Turmlaterne) hat hierbei zu keiner Verbesserung der Glockenmusik geführt. Über den Hinzuguss einer des‘‘-Glocke entstünde ein klangvoller Quartsextakkord.