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Von der Zukunft

Digitalisierung und Energieeffizienz

Diese Überschrift klingt abschreckend, das weiß ich. Aber sie kommt ja aus dem Alltag, den ich gern schriftlich „bewältige“. Ob nun – wie heute morgen – im Wartezimmer des Arztes sitzend, wo ich mich durch Flow-Assoziationen abzulenken suche (siehe Foto unten) oder ob ich donnerstags die allzu umfangreiche ZEIT aufschlage, in den Garten gehe oder am Klavier sitze. Und auch dort darauf warte, dass im Praeludium B-dur, das ich übe, endlich die Fingersätze so sitzen, dass ein Flow entstehen kann. Eine Symbiose von Mensch und Klavier (wie Anne-Sophie Mutter in etwa sagte, – Sie erinnern sich? -,  genau, und ihretwegen erwähne bewusst die Geige nicht. Und auch nicht Roger Federer. Noch weniger Jean Biermans‘ Turbo-Levo. Ganz zu schweigen von Michelangelo und der Sixtinischen Kapelle.) Während ich Stinkers Aufstieg studiere (siehe zweites Handy-Foto unten), fällt immer wieder mein Blick auf die Reklame für das neue Buch von Precht (ist er vielleicht mein Federer?), hat er nicht vor ein paar Tagen bei Lanz im ZDF so beispielhaft über die Zukunft gesprochen? … und das Wort Energieeffizienz gebraucht und das Unperfekte am Menschen gelobt, als habe Anne-Sophie Mutter nie existiert? All dem muss ich nachgehen…

Flow Mountainbike April 2018 ZEIT Jessen & Precht 180420 Handy JR

Gespräch bei LANZ ZDF 24. April 2018 (hier), abrufbar nur bis 24. Mai!

Ein Ausschnitt daraus, verschriftlicht:

Philipp Westermeyer (34:03):

Prinzipiell sind wir global gesehen und auch insbesondere in dieser ganzen Digitalisierungsblase auf einem sehr, sehr guten Weg, und so’n bisschen verstellen wir uns grad selber die Sicht und schauen jetzt auf den Datenskandal … und Trump … auf die extremen negativen Auswüchse dessen… Aber: Fundamental wird die Welt … oder ist die Welt dabei, immer besser zu werden, und das finde ich kommt viel zu wenig raus in solchen Gesprächen und auch häufig ehrlicherweise in Ihren Büchern oder so, weil das natürlicherweise auch vielleicht noch spannender anhört, wenn man das alles negativ beschreibt, aber es ist in Wahrheit positiv. (Lanz: Da tun Sie ihm gerade unrecht!)

Richard David Precht:

Also jetzt mal ganz klar, ich hab je eben vorhin versucht zu erklären: Die Vorstellung, dass wir unsere gegenwärtige Arbeitsgesellschaft verändern, hin in eine Gesellschaft, in der keiner mehr existentielle Angst vor Jobverlust haben muss, indem die Menschen durch ein Grundeinkommen abgesichert werden, indem mehr selbstbestimmte Tätigkeit und weniger entfremdete Tätigkeit vorkommt, – das alles sind doch positive Visionen! Das ist doch in keiner Form negativ! Das einzige, wo ich persönlich … es gibt nur einen einzigen Punkt, bei dem ich pessimistisch bin in der ganzen Diskussion, und dieser einzige Punkt ist, dass die Digitalisierung einen wahnsinnigen Energieverbrauch hat und dass diese Energie zu einem erhebliche Teil durch fossile Energien geleistet wird, d.h. also weiterhin durch Kohle, Öl usw., und wenn wir auf diese Weise zulassen, dass sich die Erd[wärm]e noch um zwei, drei weitere Grad erhöhen [wird], dann werden wir die Migrationsströme, die ökologische Katastrophe, den Klimawandel usw. nicht überleben. Und deswegen ist eines der wichtigsten Dinge – und das ist der einzige Punkt, vor dem ich richtig Angst habe – , dass wir die Digitalisierung nicht jenseits der Energiediskussion führen, sondern diese beiden Diskussionen miteinander vertackern, weil es natürlich Möglichkeiten gibt, digital energieeffizienter (achso!) zu arbeiten und Energie zu sparen, aber insgesamt verbrauchen wir bislang durch die Digitalisierung immer, immer, immer mehr Strom.

Philipp Westermeyer:

Aber wenn es eine Chance … oder wenn wir über die nächsten hundert oder tausend Jahre auf dieser Welt leben wollen, und wir werden immer mehr Menschen, wenn das irgendwie klappen soll, dann nur über Technologie! Ohne wird’s eh nicht funktionieren…

Precht:

Ich rede ja nicht gegen Technologie, ich rede… mein ganzes Plädoyer ist nicht gegen Technik zu sein, sondern zu überlegen, was ist der beste HUMANE Ansatz, wie integrieren wir Technologie, wie sorgen wir dafür, dass Menschen nicht irgendwann wie im Silicon Valley in deren Visionen-[?] wir ein defizienter Computer sind in der Wahrnehmung. Wie errechnen wir sozusagen das Mitgefühl, das Menschen ausmacht, das Unperfekte am Menschen, wie lassen wir das in einer Gesellschaft zu, die einem Perfektionswahn unterliegt: Alles das sind die Fragen, die ich habe. Ich möchte die Technik für den Menschen nutzen, und ich will nicht, dass der Mensch irgendwann zum Sklaven der Technik wird. (36:47 Beifall)

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Es haben sich schon viele Leute aufgeregt über den Abgasskandal, ich auch, aber von dieser Seite, die in dem ZEIT-Artikel entwickelt wird, ist er wohl noch nie betrachtet worden. Ich muss mir wenigstens die Sätze notieren, die ich mir – wie man vielleicht oben auf dem Foto erkennt – angestrichen habe. Voller Bewunderung für den Autor Jens Jessen.

Das Ausmaß der Abgaslüge wird im Allgemeinen noch weniger gern berechnet als das Ausmaß der Abgaswolke; wahrscheinlich weil die moralische Katastrophe die ökologische bei Weitem übertrifft. (…)

Im Hintergrund der Dieselaffäre vibrieren Emotionen, die tiefer gehen als der Eindruck von Betrug und Vertuschung. Es sind Gefühle von Kränkung, beschädigtem Stolz, verlorener Unschuld, auch von jäh gestopptem Aufstieg, verflogener Zukunftshoffnung. Sie betreffen tatsächlich nicht nur die Automobilindustrie. Für Deutschland kann man sagen: Sie betreffen die Nation. Es ist interessant zu beobachten, wie nonchalant oder jedenfalls rein juristisch die Verfehlungen der Industrie in Italien und Frankreich behandelt werden. Das liegt nicht daran, dass dort die Empörung in der Sache geringer wäre, sondern dass man den Betrug ohne Verblüffung zur Kenntnis nimmt: Genau so etwas hat man den Konzernen immer zugetraut. Italiener oder Franzosen haben den Schwindel gewissermaßen nicht persönlich genommen, das heißt sich niemals als Teil einer Verheißung gesehen, die dem Dieselmotor Erlösungsqualitäten zumaß.

Wie bitte? Alle Antennen sind aufgerichtet, ich glaube nicht, dass jemand bis hierher gelesen hat, und dann nicht weiterliest bis zum letzten Wort des Artikels. Der Stachel mit dem Nationenvergleich sitzt. Und dann das Wort „Erlösungsqualitäten“, steigt da nicht die Ahnung auf, dass wir als hoffnungslose Romantiker, verkappte Wagnerianer entlarvt werden sollen? Müssen wir uns das gefallen lassen, die wir immer noch als Musterschüler Europas gelten könnten, mit etwas gutem Willen. Und nun – winkt da nicht wieder eine Moralkeule? Ich greife nur noch einzelne Passagen heraus, die also nicht mehr mit logischen Fäden verbunden sein müssen. Man wird den Artikel mit Sicherheit online wiederfinden (mit schönen Leser-Repliken).

Die Hochzüchtung des einst bei allen Völkern verachteten Dieselmotors zu sportwagentauglichen Leistungen spiegelt auf frappante Weise die Zähigkeit, mit der sich Deutschland in der gleichen Zeit zur anerkannten Wirtschaftsmacht Europas hocharbeitete. (…) Alles, was sich über Deutsche sagen lässt, kann man auch über Diesel sagen.

… Denn die gleiche Technik, die den Verbrauch senkte, wurde bald genutzt, um die Leistung nach oben zu treiben. Beides hängt an der sogenannten Literleistung. Wenn man sie steigert, lässt sich bei gleichbleibendem Verbrauch die Leistung erhöhen. Letzteres war der Weg, der den Diesel in die automobile Oberklasse führte und ihn dort die alte Elite der leise und locker laufenden, aber auch fröhlich saufenden Benziner angreifen ließ. So gelang die Veredelung des Unedlen – die Einführung des hemdsärmeligen Proletariers in die bessere Gesellschaft. (…)

So hat der Abgasskandal nicht nur einen Betrug ans Licht gebracht, sondern vor allem etwas, von dem die moderne Gesellschaft niemals hören möchte: die unversöhnbare Widersprüchlichkeit, philosophisch gesprochen die Heterogenität der Zwecke. Man kann nicht alles auf einmal haben, was man jedes für sich gern hätte. Ein auf Leistung oder Sparsamkeit hochgezüchteter Diesel ist nicht sauber, einmal abgesehen davon, dass schon Sparsamkeit und Leistung nicht recht zusammengehen (als absolute Ziele unvereinbar sind). Alles drei auf einmal zu haben aber ist genauso unmöglich, wie es unmöglich ist, alle Mitglieder einer Gesellschaft das gleiche märchenhafte Niveau von Wohlstand und Überfluss erreichen zu lassen, ohne dass die Umwelt zum Teufel geht (und wahrscheinlich schon zuvor das arbeitsteilige Prinzip der Wirtschaft). In dieser übergreifenden Einsicht liegt das gewaltige Entmutigungspotential der Abgasaffäre. (…)

Quelle DIE ZEIT No.18 26. April 2018 Seite 41: Stinkers Aufstieg Warum betrifft die Abgasaffäre eigentlich die ganze Nation? Zur Sozialpsychologie des deutschen Dieselmotors. Von Jens Jessen.

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Und nun müsste dieses Dilemma nur noch mit dem oben aufgetauchten zwischen Digitalisierungsverheißung und Energieeffizienz zusammengebracht – und aufgelöst werden, vielleicht leben wir dann doch einmal in der besten aller möglichen Welten. Oder wollen wir uns etwa auf Voltaires Seite schlagen? (vgl. hier).

Nachtrag 10.05.2018

Weiterführender Ansatz von Philipp von Becker (01.05. 2018) siehe Telepolis HIER. (Dank an JMR!)

ZITAT

Will man die Debatte politisch aufladen, müssten im Kontext von Big Data deshalb nicht allein Fragen der Privatsphäre und des Datenschutzes, sondern auch weitere strukturelle Merkmale und Zusammenhänge der „Datafizierung“ der Welt in den Blick genommen werden. Dabei gilt: Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt, und die Messung der Welt ist auch nicht zwangsläufig ein wertneutrales Abbilden einer „objektiven Realität“, sondern oftmals ein performativer Akt, durch den bestimmte Weltbeziehungen erst neu entstehen beziehungsweise verstärkt und legitimiert werden.

Der Soziologe Steffen Mau hat diesen zentralen Zusammenhang in seinem Buch „Das metrische Wir“ eindrucksvoll analysiert. In den Worten Maus stellen Daten nicht notwendigerweise „Repräsentationen der Wirklichkeit“, sondern vielmehr oft „Repräsentationen von Wertigkeitsordnungen“ dar. Oder anders ausgedrückt: „Zahlen zeigen Wert nicht nur an, sie teilen ihn auch zu.“