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Chinese Violin Solos

Zu empfehlen oder nicht?

Also: von Anfang an. Das Heft liegt da und will „bearbeitet“ werden. Ich möchte einfach protokollieren, wie ich vorgehe. Als erstes das Online-Material herunterladen. (Ich habe im Beispiel den Code abgeschnitten, man sollte ja schon das Notenheft im Original besitzen.) Nur dann hat es Sinn, sich dem „wahren“ chinesischen Klang anzunähern. Und sich mit Hilfe der Noten gerade von der sklavischen Einübung des Notentextes zu lösen… denke ich.

Ich entdecke in der Liste ein Stück, das mir gut bekannt ist, ich werde es als erstes überprüfen. Allerdings bemühe ich jetzt nicht die LP von 1977, mit der ich vor Jahrzehnten das chinesische Hören (?) geübt habe, siehe hier, weil Ihnen damit nicht geholfen wäre. Und auch ich möchte mich natürlich nicht in denselben Geleisen wie damals bewegen.

Noten Nr. 15 Abschied am Yangguang (Anfang). In der zugehörigen Trackliste ist es als Nr. 12 abrufbar (auf der Geige gespielt). Ich bin erschüttert, wie schwächlich es klingt im Vergleich zum kostbaren Original, das ich in Erinnerung habe. So darf man es auf der Geige nicht anbieten, so ermuntert man auch keinen Anfänger. Der sollte also unbedingt das Original kennen oder es sogar als Ideal im inneren Ohr präsent haben. Die Vortragsbezeichnung espressivo ist natürlich absurd. Im Chinesischen Kontext gelten andere Espressivo-Regeln als im Belcanto.

ZITAT Manfred Dahmer (aus einem Gesprächskonzert im Beethovenhaus Bonn)

„Vor Urzeiten schuf der mythische Herrscher Fu Shi die Qin, um damit vor Leidenschaften und vor Falschheit zu bewahren. Und den Ausschweifungen vorzubeugen und den Menschen so zu kultivieren, dass er so zurückkehre zu dem , was seiner wahren Natur entspricht.“

Das sind große Worte für diese kleinen Töne. Sie stammen aus dem Jahr 300 nach unserer Zeitrechnung. Und Sie müssen sich nicht wundern, wenn diese Töne hier nicht emphatische Gefühle hervorrufen, denn das war zu allen Zeiten so. Von allem Anfang an, als die Qin berühmt wurde unter den Weisen, unter den Gelehrten, da gab es immer die Klage: es gibt keine Zuhörer. Die Zuhörer verstehen diese Musik nicht, und – Sie können es sich vorstellen – man kann damit nicht große Begeisterung erzeugen.

Es gibt eine schöne Geschichte bei Yetze (?), einem alten Philosophen, da gibt es einen Qin-Spieler, der hat einen Zuhörer, Boya hieß der Qin-Spieler, und Chong sechi war der tolle Zuhöer, der Zuhörer, der ein Che- yin de (?) war, einer, der die Töne weiß, der die Töne kennt. Und wenn Boya spielte und seine Gedanken waren dabei bei einem hohen Berg, dann sagte Chong sechi „wie toll, wie du das machst, so groß und majestätisch wie der Berg Tayjan!“ Und wenn Boya spielte, und seine Gedanken waren bei den Wellen, beim Wasser, dann sagte Chong sechi: „Wie großartig du das machst, wie das Fließen des Yangtse!“ Und dann geschah das Unglück, der Zuhörer starb, und Boya zerriss die Saiten seiner Qin und spielte nicht mehr.

Also da haben Sie das beste Beispiel dafür, dass Qin-Musik nicht ankam… Und das können Sie verallgemeinern: die chinesische Musik kommt nicht an, unsere Ohren wollen, dass wir ganz zuhören, dass wir ganz dabei sind, wie vorhin bei diesem kleinen Zitat: Hören, das man nicht nur mit den Ohren tut, es muss das Herz sein, aber die Musik lässt das nicht zu. Die Augen lassen es zu, wir genießen Gemälde, wir genießen die Metaphern, die Bilder der alten chinesischen Dichter, wir genießen natürlich die Bauwerke, die uns heute noch zugänglich sind, wir genießen die Teppiche. Wir genießen noch viel mehr die Seide, aber die Musik ist immer ein Stiefkind geblieben und die Musik der Qin sowieso. Es gab vor 25 Jahren in China keinen, der auch nur ahnte, was eine Gu-Qin ist; wenn man dieses Wort aussprach, dann hieß es: Ah, Gu-Zheng! Gu-Zheng kannte man, das ist die große Wölbbrettzither, mit den vielen Saiten, wo man großartige Arpeggi machen kann, aber nicht den einzelnen Ton, der plötzlich wichtig wird. Dieser einzelne Ton, der soviel Konzentration erfordert.

Wir, die Barbaren, wir dürften eigentlich gar nicht die Qin hören. Wir dürften eigentlich gar nicht die Qin spielen, denn es gab schon früh einen ganzen Regelkanon, wo man gesagt hat, wer darf die Qin spielen? wo darf man sie spielen? wer darf überhaupt zuhören, also Barbaren waren an erster Stelle natürlich nicht erlaubt, aber man durfte spielen in der Natur, wenn wir einen Gingko-Baum draußen sehen, man durfte spielen an einem Wasser, man durfte spielen auf einem Berg, und man durfte spielen auf einem Boot. [..,] Wer durfte zuhören? Jemand, der ein Trinde (?) war, der die Töne kannte. Also der sich ganz auf dieses – wir können es negativ sagen – auf dieses primitive Instrument einlässt; denn es ist nicht ein Instrument, das auf Fragilität, das auf Feinheit gebaut ist, wie unsere Geigen, die nach Jahrhunderten dann am besten klingen, sondern es ist ein Instrument, was ungeheuer grob gebaut ist, aus dicken Holzschichten gebaut ist, und es ist ein Instrument, das nur wenig Klang erzeugt. Wertvoll ist an diesem Instrument auf jeden Fall nur das Alter, das ist das Wichtigste, das wollte man zu allen Zeiten, man hat sie so gebaut, dass dieser Lack dieser Instrumente – viele Schichten sind da drauf – dass der nach hundert Jahren anfing zu reißen, und zwar zuerst in dieser Richtung reißt, sogenannte Drachenzungen, Drachenlippen, dann reißt er auch noch quer, nach 300 Jahren, und dann sieht er aus wie Pflaumenblüten, d.h. das Instrument ist ein wertvolles Instgrument, so wie es die alten Weisen waren, die dieses Instrument gespielt haben. Bis hinauf zu den Philosophen, die Dichter bis hinauf zum Herrscher. – Kommen wir zu einem dieser berühmten Stücke auf der Qin, , das in der Tang-Zeit seine Wurzeln hat, diesem Stück liegt ein Gedicht von Wang Wei zugrunde, und das Qin-Stück heißt: Yangguang san die – Abschied an einem Sonnenpass, und zwar in drei Wiederholungen. Wang Wei, er war einer dieser großen Dichter, von dessen Gedichten man sagt, sie seien Gemälde, und von dessen Gemälden man sagt, sie seien Gedichte. Also einer, der alles konnte, und natürlich konnte er auch Qin spielen. Es geht aber hier um ein politisches Lied, auch wenn das im Gedichttext, im Liedtext, nicht ganz zum Ausdruck kommt.

Morgenregen hat den leichten Staub der Stadt benetzt / vor dem Gasthaus stehn die Weiden jetzt in frischem Grün / bitte trinke du noch diesen Becher Wein zuletzt / ohne Freund wirst vom Sonnenpass du westwärts ziehn.

Das ist also ein Abschiedsgedicht, vo einem, der an einer dieser mörderischen Exkursionen teilnehmen musste, die die Tang-Kaiser organisiert hatten, um das Land und die äußersten Grenzen im Westen und im Norden abzusichern. Also ein Abschied auf Nimmer-Wiedersehen. Ein trauriges Lied, ein trauriges Gedicht, man muss es aber zwischen den Zeilen lesen.

Für dieses Lied muss man die Qin umstimmen, das kennen diejenigen unter Ihnen, die Gitarre spielen, also eine sogenannte Scordatura, eine Saite stimmt man um, und man kommt zu einer ganz anderen Tonart. Die Qin ist pentatonisch gestimmt, die Töne (aufsteigend): C D F G A C D ohne Halbtöne, das ist der Zauber, das ist auf der anderen Seite auch die Langeweile der chinesischen Musik, es gibt keine Leittöne für die, die unsere europäische Musik kennen, es gibt nicht den Akkord, der zu einer Auflösung hinstrebt, sondern es gibt immer Töne, die in sich ruhen, die in sich fertig sind, die in sich eine Einheit bilden. Der Einzelton ist viel wichtiger als der melodische Ablauf wie bei uns in der Romantik.

Quelle CD zum Buch: Manfred Dahmer: QIN Die klassische chinesische Griffbrettzither / MedizinischLiterarische Verlagsgesellschaft Uelzen 2003 / ISBN 3-88136-222-3 / Die dem Buch beigefügte CD enthält einen Mitschnitt des Konzertes vom 31. Mai 2003 im Kammermusiksaal des Beethovenhauses Bonn / Niederschrift JR 7.9.2021

Leider gab es damals noch keine Youtube-Veröffentlichung, so dass man Dahmers Vortrag mit Musik nicht im Internet abrufen kann. (Auch in meiner Abschrift können noch Fehler stecken!) Glücklicherweise kann man andere Versionen der „Originalmusik“  heute leichter finden, zum Beispiel im Wikipedia-Artikel https://en.wikipedia.org/wiki/Guqin hier

Auschnitt aus der im vorhergehenden Link gegebenen Seite; rechts sieht man die Musikbeispiele, die man anklicken kann, das erste, mit Yangguang Sandie bezeichnete Stück ist das gesuchte. Im Notenheft als Nr. 15 „Three Variations on Yangguang“ aufzufinden.

Jetzt erst entdecke ich, dass man in dem oben gegebenen Link bei Discogs, hier nochmals, die Musik der ganzen LP abhören kann, siehe im folgenden Bild rechts unten. Und zwar gleich zu Anfang das Stück Yangguang Sandie !!!

⇐⇐⇐ nicht hier, nur im Orig.Link!

Die Frage nach alldem könnte lauten: soll ich es überhaupt wagen, solch ein Stück auf der Geige zu spielen? Gewiss, – ich sollte nur nicht denken, ich könnte es. Wenn ich das spüre: dass es so nicht geht, bin ich vielleicht schon auf dem richtigen Weg…

(… und könnte immerhin näher beschreiben, weshalb es misslingt, – festgemacht an dem irreführenden Ausdruck espressivo)

*     *     *

Ich wage es, weil die chinesischen Musiker selbst eben auch adaptieren. Wie man gleich in unserm neuen Notenheft lesen kann, wenn es um berühmte Ch’in-Stücke in der Wiedergabe auf dem Streichinstrument Erhu geht. Ein Beispiel dazu folgt dann auf dem Fuße:

Im Notenheft als Nr. 13 sieht man „The Moon Reflected on the Second Springs“, in den Klangbeispielen Nr. 11, auf der Erhu gespielt. Zur weiteren Erkundung rufe man den Wikipedia Artikel  https://musictales.club/article/erhu-fiddle-melody-recorded-blind-abing-spread-worldwide-revealing-composition-methods hier auf. ABING ist der Name, den man sich merken muss. Darüber später mehr. Man sieht zunächst folgendes Bild:

Der Anfang der Notation im Heft:

Im Wikipedia-Text kommt etwas weiter unten zum ersten Klangbeispiel, und dabei handelt es sich genau um dieses eben genannte Stück „The Moon Reflected on the Second Springs“, es ist genau dieselbe Aufnahme, die in den online-Beispielen abrufbar ist, gespielt auf dem Original-Instrument Erhu.

Auf dieselbe Spur kommt man, wenn man dem Namen ABING nachgeht: siehe hier.

Noch direkter und spezieller hier: https://chinablog.cc/best-erhu-masterpiece-ever-moon-reflected-on-second-spring/

Nebenbei erkennt man im Text unschwer den Namen Jonathan Stock, der auch auf unserem Notenheft steht…

zitiert aus dem J.Stock-Buch s.u.

Jetzt käme noch einiges, was man sich dabei denken kann. Also die Assoziationen, visuell getönte oder literarische. Aber wenn man sich gerade in der westlichen Musik-Interpretation das allzu blumige Umschreiben des musikalischen Verlaufes abgewöhnt hat, und den Kampf um und gegen die Programmmusik in den Knochen hat, die stetige Versicherung, dass die gute Musik natürlich ohne Programm auskommt (seit Beethoven: „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“), dann wollen wir zunächst einmal aufhören, irgendwelche äußeren Merkmale aufeinander zu beziehen und zu vergleichen.

Wundern wir uns nicht, dass auch bestimmte andere Geschichten sich ständig wiederholen, etwa von dem Ch’in- (oder Qin-) Meister Boya, der einen einzigen adäquaten Zuhörer hatte, mit Namen Zhong Ziqi. Das erspart einem natürlich alle altklugen Reden. Wie sollte unsereins denn die Chance haben, ein ernstzunehmender Zweithörer zu werden?

Unbeirrt weitergehen auf dem Weg des allmählich Durchblicks – andere Beispiele:

Tr.4

Das klassische Stück LUI SHUI „Flowing Water“ mit guqin master Pui-Yuen Lui 7:08

Folgt: dasselbe Stück, analysiert in einer anderen Interpretation (Wu Wenguang) 4:30 (statt 7:08), die Analyse ist aber auch auf Pui-Yuen Lui anwendbar.

CD I Tr.14 4:30

Quelle: Excursions in World Music ISBN-13:978-0-13-188785-5 Kapitel „The Music of China“ von Isabel K.F.Wong Seite 88-133 dazu CDs Chapter 4 Nr. 14-23 / mehr Info über das Buch hier

Das Interesse an Fernost entstand in meiner Jugend (Japan „Etenraku“):

  Hongkong:

Lesen: Mao Kulturrevolution hier Hongkong Autonomiestatus u.a. hier

Um heute deutlich einen Schritt weiter zu kommen als damals, wäre es angeraten, folgendes Buch zu studieren, und immerhin 1 Kapitel ist mir dank Internet zugänglich.

Inhaltsverzeichnis:

Einzelkapitel Downloads hier