Zum Jahresende

Dies ist ein Programmtext für drei Weihnachtskonzerte, die in Heidelberg, Mannheim und Schriesheim stattfinden. Ich wollte, ich könnte dort zuhören, nachdem ich neulich in Bonn einen atemberaubenden Vorgeschmack bekam. (Siehe hier).

Den Ablauf der Konzerte kann man anhand des Heidelberger Programms studieren. Des weiteren hier. Der einführende Text entfaltet eine flankierende Gedankenwelt, die man im Blick auf Weihnachten vielleicht nicht erwartet, weil man von Kindheit an in der dunkelsten Jahreszeit mit besonders strahlenden Visionen und Lichtphänomenen versorgt wurde. Zumal auch die Denkfigur des „quia absurdum est“ zuverlässig eingeübt wurde, – „und wenn du denkst, es geht nicht mehr“…

Gewiss wird es dort ganz anders klingen als in der folgenden Version desselben Gesangs; sie aber setzt wiederum unserer gewohnten Klangwelt auf ihre Weise etwas ganz Anderes entgegen:

*    *    *

Und jetzt?
von J. Marc Reichow

Vergente mundi vespere heißt es in der leicht apokalyptischen Sicht des lateinischen Conditor-Hymnus, den wir heute in elaborierter Vertonung von Guillaume Du Fay hören. Thomas Müntzer übersetzt später den sinnbildlichen Niedergang mit Do sich die welt zum abent want – aber wie beziehen wir das auf unsere Welt? Auf welche Rettung dürfen denn wir noch hoffen und durch wen, kurz vor Sonnenuntergang und am Tipping Point des Weltklimas?

Im September erschien ein rücksichtsloser, voraus schauender Aufsatz von Jonathan Franzen, Autor von The Corrections, Übersetzer von Karl Kraus und Schirrmacher-Preisträger, im New Yorker. Seine kontroverse Aufnahme durfte keinen Leser überraschen, der mit dem essayistischen Schaffen des Romanciers Franzen, etwa den radikalen Ansichten zum Naturschutz (Singvögel!) vertraut war. Die ebenso unscheinbare wie provozierende Titelfrage

„Was, wenn wir aufhören würden, so zu tun, als ob die Klimakatastrophe zu verhindern wäre?“ 

berührt mehrere Aspekte wenn nicht der Weihnacht, so doch einer Jahresendzeit, und offensichtlich spekuliert Franzen auf einen neuen Denkzusammenhang aus bekannten und verdrängten Fakten, eine neue Perspektive für Gegenwart und Zukunft. Für die Vergangenheit bleibt vorerst keine Zeit.

Auf Widerwillen und Widerstand stieß Franzens Aufsatz auch deswegen, – ein F.A.Z-Kritiker verkannte ihn bewusst als „amüsanten Text“ (2), andere unterstellen ihm paradoxerweise Abwertung des Klimaaktivismus, wieder andere sahen ihn als bloße Fortsetzung älterer Naturschutzkontroversen -, weil der erste Teil seiner unfrohen Botschaft ernster genommen wurde als die konkrete Utopien ihres zweiten Teils: nur dessen pragmatischer Hoffnungsgehalt erlaubt es überhaupt heute, den – nach drei Monaten natürlich längst vergessenen – Artikel zu Weihnachten wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Wenn Franzen auf das Verhältnis von Hoffnungslosigkeit, Hoffnung und Rettung abzielt, tut er dies schon in der Titelfrage mit psychologischer Empathie und aus der Perspektive des wahrnehmenden, selbst im Bestreben um Nähe (oder Ferne!) zu den Fakten unsicheren Individuums. Er ist Erzähler und spricht für sich.

Trotz der himmelschreienden Tatsache, dass ich bald tot sein werde, für immer, lebe ich in der Gegenwart, nicht in der Zukunft. Gezwungen zur Entscheidung zwischen einer beunruhigenden Abstraktion (Tod) und der beruhigenden Evidenz meiner sinnlichen Wahrnehmung (Frühstück!), hält sich mein Bewusstsein lieber an letzterer fest. Außerdem: der Planet ist immer noch wunderbar intakt, immer noch grundsätzlich normal – mit dem Wechsel der Jahreszeiten, einem neuen Wahljahr vor uns, neuen Unterhaltungsserien auf Netflix -, und sein bevorstehender Kollaps ist für mein Bewusstsein viel schwerer zu fassen als der Tod. 

Andere Arten von Apokalypse, egal ob religiöser oder thermonuklearer oder asteroidenbedingter Art, kommen zumindest mit der binären Sauberkeit des Sterbens: in einem Moment gibt es die Welt noch, im nächsten ist sie für immer verloren. Klimaapokalypse ist, im Gegensatz dazu, unordentlich. Sie wird die Form zunehmend schwerer Krisen annehmen, die sich chaotisch häufen, bis die Zivilisation auszufasern beginnt. Die Sache wird immer immer schlimmer, aber vielleicht nicht zu bald und vielleicht nicht für Jeden. Vielleicht nicht für mich.

„Vielleicht nicht für mich“ ist merkliche oder unmerkliche Anspielung auf jenes Zitat von Franz Kafka, mit dem Franzen seinen Essay begonnen hat – und dessen Umkehrung auch die Umkehrung von Hoffnungslosigkeit in (vielleicht trügerische) Hoffnung bedeuten könnte. Es ist dies die zentrale Denkfigur von Franzens Versuch.

„Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung“ sagt uns Kafka – „nur nicht für uns.“ (3). Dies ist ein angemessen mystisches Epigramm von einem Schriftsteller, dessen Handlungsfiguren zu scheinbar erreichbaren Zielen streben und, tragischer- oder amüsanterweise, diesen doch niemals näher zu kommen vermögen. Es scheint mir aber, in unserer sich schnell verdüsternden Welt, dass die Umkehrung von Kafkas geistreicher Bemerkung ebenso zutrifft: Es gibt keine Hoffnung außer für uns.

Natürlich spreche ich vom Klimawandel. Der Kampf um die Zügelung der globalen CO2-Emissionen und um den Schutz des Planeten vor der Schmelze fühlt sich an wie eine Kafka’sche Fiktion. Das Ziel ist seit dreißig Jahren deutlich, und trotz ernsthafter Bemühungen haben wir im Kern keinerlei Fortschritt gemacht, es zu erreichen. Heute gilt die wissenschaftliche Evidenz als unwiderlegbar. Wenn Sie jünger als Sechzig sind, haben Sie gute Chancen, die radikale Destabilisierung des Lebens auf der Erde mitzuerleben – massive Ernteeinbrüche, apokalyptische Brände, implodierende Wirtschaftssystem, epische Überflutungen,hunderte Millionen von Flüchtenden aus Regionen, die durch extreme Hitze oder permanente Trockenheit unbewohnbar geworden sind. Sind Sie unter Dreißig, werden Sie das praktisch garantiert erleben.

Sorgen Sie sich um den Planeten und um die Menschen und Tiere, die auf ihm leben, gibt es zwei mögliche Denkweisen hierüber. Sie können weiterhin hoffen, dass die Katastrophe abwendbar ist, und sich dabei um so mehr durch die Inaktivität der Welt frustrieren oder erzürnen lassen. Oder Sie können das Kommen des Desasters akzeptieren und neue zu überlegen beginnen, was es bedeutet, zu hoffen.

Entscheidend nun heute hier, rhetorische Fragen nicht nur zu stellen, sondern Antworten zu suchen. Oder: an die Möglichkeit von Antworten zu glauben? Franzens Konsequenzen scheinen paradox, berühren sich aber um so enger mit der Frage nach der Rolle von Kunst und Kultur heute.

Völlig falsch mutet der Vorwurf an, sein Essay verhalte sich unpolitisch – zumal in einer Zeit und in einem gesellschaftlichen Kontext, wo um die Neubesetzung von Begriffen wie „Bürgerlichkeit“ (4) ein Kulturkampf inszeniert wird.

Und so frage ich mich, was passieren würde, wenn wir uns, statt die Realität zu leugnen, die Wahrheit sagen würden. (…)

Obwohl individuelles Handeln keine Auswirkung auf das Klima haben, heißt dies nicht, sie wären bedeutungslos. Jeder von uns kann/muss sich ethisch entscheiden. Während der protestantischen Reformation, als die „Endzeit“ lediglich eine Denkfigur war und nicht die schrecklich konkrete Tatsache, die es heute ist, war eine Schlüsselfrage der Doktrin, ob man Gutes zum Zweck tun sollte, dadurch in den Himmel zu gelangen, oder einfach weil es gut war – weil man nämlich, während der Himmel mit einem Fragezeichen versehen war, doch wusste, dass diese Welt besser wäre, wenn jeder Gutes täte. Ich kann den Planeten respektieren und mich um die Menschen sorgen, mit denen ich ihn teile, ohne jedoch glauben zu müssen, dass dies mich retten wird.

Aber mehr als das, kann eine falsche Hoffnung auf Rettung aktiv schädlich sein. Wenn man dabei bleibt, die Katastrophe für abwendbar zu halten, verpflichtet man sich zum Inangriffnehmen eines Problems, das durch seine immense Größe alles an Priorität übertreffen müsste, für Jeden und für immer. Folge davon ist, verwunderlicherweise, eine Art Selbstzufriedenheit: durch die Wahl „grüner“ KandidatInnen, durch das Fahrradfahren zur Arbeit, durch das Vermeiden von Flugreisen könnte man das Gefühl bekommen, alles für das einzige wichtige Ziel unternommen zu haben. Andererseits gibt es, wenn man die baldige Überhitzung des Planeten bis hin zur Bedrohung der Zivilisation als Tatsache akzeptiert, sehr viel mehr, das man unternehmen sollte.
Unsere Vorräte sind nicht unbegrenzt. Selbst wenn wir viele von ihnen in eine großen Wurf zur Reduzierung von CO2-Emissionen investieren würden, in der Hoffnung auf unsere Rettung, so wäre es doch unklug, sie alle zu investieren. Jede Millarde Dollar, die für Hochgeschwindigkeitszüge ausgegeben wird (…), ist eine nicht zur Katastrophenvorsorge, zur Reparationszahlung an überflutete Länder, für zukünftige Menschenrettung genutzte Milliarde. (…)
Die totale Mobilmachung gegen den Klimawechsel ergab nur Sinn, solange dieser besiegbar war. Akzeptieren wir einmal, dass wir verloren haben, ergibt sich daraus größere Bedeutung für andere Arten des Aktivismus. Einschlägiges Beispiel ist die Vorbereitung auf Brände und Fluten und Flüchtlinge. Aber die drohende Katastrophe erhöht die Dringlichkeit beinahe jeder weltverbessernden Aktion. In einer Zeit des zunehmenden Chaos suchen Menschen eher Zuflucht in (identitärem, Anm.) Tribalismus und Waffengewalt als in der Macht des Gesetzes, und eine unserer besten Verteidigungen gegen diese Art von Dystopie ist die Aufrechterhaltung funktionierender Demokratien, funktionierender Rechtssysteme, funktionierender (kommunaler) Gemeinschaften.
In dieser Hinsicht kann jede Bewegung in Richtung einer gerechteren und zivilisierten Gesellschaft als Aktion für das Klima gesehen werden. Die Sicherung freier Wahlen ist Klimaschutz. Bekämpfung extremer Wohlstandsunterschiede ist Klimaschutz. (…) Einführung humaner Einwanderungspolitik, Unterstützung von Antirassismus und Gleichberechtigung, Förderung des Respekts von Rechtsprechung und ihrer Durchsetzung, Unterstützung der freier und unabhängiger
Pressearbeit, Befreiung des Landes (USA, Anm.) von halbautomatischen Feuerwaffen – all diese Aktivitäten sind bedeutsam für den Klimaschutz. Zum Überleben ansteigender Temperaturen wird jedes System, egal ob Teil der Natur oder der menschlichen Zivilisation, so stark und gesund sein müssen, wie wir es machen können.

Und dann ist da die Frage der Hoffnung. Was wird man, wenn alle Hoffnung für die Zukunft von einem grob optimistischen Szenario abhängt, in zehn Jahren unternehmen, wenn selbst dieses Szenario sogar theoretisch als unbrauchbar erweisen wird? Den Planeten komplett aufgeben?
Mit einer Anleihe bei Wirtschaftsberatern würde ich ein gleichmäßiger verteiltes Portfolio von Hoffnungen empfehlen, manche davon langfristig, die meisten aber kurzfristig angelegt. So gut es ist, gegen die Beschränkungen der menschlichen Natur anzugehen und auf Abmilderung des Kommenden zu hoffen, so wichtig ist daneben, kleinere, lokalere Gefechte auszutragen, bei denen man mehr Aussicht auf Erfolg hat. Tun wir das Richtige für den Planeten, ja, aber versuchen wir auch das zu retten, was uns spezifisch am Herzen liegt – eine Gemeinschaft, eine Institution, einen Ort in der Wildnis, eine gefährdete Art – und schöpfen wir Mut aus unseren kleinen Erfolgen. Jede gute Sache, die man jetzt tut, ist unter Umständen eine Absicherung gegen die überhitzte Zukunft, aber die wirklich bedeutungsvolle Sache ist, dass sie heute gut ist. So lange wir etwas lieben, gibt es etwas, dem unsere Hoffnung gilt. (…)

Liebe und Hoffnung sind keine ungewöhnlichen Weihnachtsbotschaften, aber ihre Motivation ändert sich: schneller als erwartet befinden wir uns, alle, in einer Situation, in der Zukunft ohne das Zusammendenken individueller, „privater“ und globaler Sicht und Verantwortung kaum mehr möglich scheint. Allerdings: hat man sich für einen Moment auf Jonathan Franzens Perspektive eingelassen statt auf grundlose Hoffnungstraditionen, so könnte man die Vermutung teilen, Kunst und Kultur wären mit dieser Perspektive längst vertraut.

Wie als Antwort auf Franzens rhetorische Frage findet Olga Tokarczuk dieser Tage in ihrer großen Stockholmer Nobelpreisrede (5) die Hoffnung für unsere Welt in einer explizit zärtlichen Verbindung menschlicher wie künstlerischer Sichtweisen. Gemeint ist damit mehr als nur die Kraft der Literatur – hören wir nicht in jeder „Musik zu Weihnachten“, die der heutigen Situation angemessen wäre, etwas wie das, was Tokarczuk (statt als Hoffnung, Liebe oder Empathie) mit dem Begriff der Tenderness bezeichnet, der Zärtlichkeit als der „bescheidensten Form der Liebe“?

Die Zärtlichkeit (…) ist das Begreifen der Welt als lebendig, lebend, verbunden, zusammenhängend mit und abhängig von sich selbst. Literatur baut auf die Zärtlichkeit zu jedem anderen Wesen als uns selbst. (…)

Die Klimakatastrophe und die politische Krise, in der wir heute unseren Weg zu finden versuchen, und die wir ängstlich durch Rettung der Welt zu stoppen versuchen, kommt nicht aus dem Nichts. Wir vergessen oft, dass sie nicht nur Resultat einer Laune des Schicksals oder der Bestimmung sind, sondern von sehr spezifischen Handlungen und Entscheidungen abhängen: ökonomischen, sozialen und solchen, die mit Weltanschauung (auch religiöser Art) zu tun haben. Gier, Missachtung der Natur, Selbstsucht, mangelnde Vorstellungskraft, endlose Konkurrenz und fehlende Verantwortung haben die Welt zu einem Objekt abgewertet, das in Stücke geschnitten, verbraucht und zerstört werden kann.

Deswegen glaube ich daran, dass ich Geschichten erzählen muss, als ob die Welt eine lebende, vollständige Einheit wäre, die sich ständig vor unseren Augen formt – als ob wir ein kleiner und zugleich mächtiger Teil von ihr wären.

*    *    *

(1) Jonathan Franzen, What If We Stopped Pretending? – The climate apocalypse is
coming. To prepare for it, we need to admit that we can’t prevent it, The New Yorker,
08.09.2019, Übs. und Hervorhebungen hier von JMR
(2) Jan Wiele, Akopalüze nau! – Jonathan Franzens Dialektik, F.A.Z. 10.09.2019
(3) hier zit.n. Max Brod, Der Dichter Franz Kafka, in Gustav Kronjanker, Juden in der
deutschen Literatur, 1922
(4) vgl. den Wahl- und Begriffsbesetzungskampf um die „bürgerliche“ Mitte im virtuellem Adventskalender einer oppositionellen Berliner Senatsfraktion samt geklimperten Dauerschleifen von „Es ist ein Ros entsprungen“ und unter dem Nazibegriff „Deutsche Weihnacht“
(5) Olga Tokarczuk, Nobelpreisrede The Tender Narrator, Stockholm 07.12.2019,
zit.n.d. engl. Übs. (Jennifer Croft and Antonia Lloyd-Jones), Übs. JMR,
https://www.nobelprize.org/uploads/2019/12/tokarczuk-lecture-english.pdf

(Wiedergabe des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers ©JMR)