Wie heteronom sind Ich …

… und wenn ja, wie viele von mir?

So vor uns hinplappernd, improvisieren wir heute gern über die private Kernspaltung und ziehen dann doch am Automaten nur eine Fahrkarte, als seien wir Einzelfahrer. Denn unser Alltag befindet sich selten auf derart hohem Niveau, dass Artaud, Derrida oder Castorf daran Wohlgefallen hätten.

Ivan Nagel drückte es einmal – 1994 in einer Laudatio auf den letztgenannten – folgendermaßen aus:

Diese Regie sehe die „Heteronomie des Wirklichen“. Weil Autonomie des Subjekts nur „fiktiv und lügenhaft“ zu haben sein, bedeute der Weg zu „Wirklichkeit und Wahrheit […] das Verbot, uns eine einheitliche Welt und einen sie wahrnehmenden, begreifenden, einheitlichen Menschen vorzutäuschen“. Die Rezeptionsperspektive bleibt somit als einzige verbindliche Instanz: Alles setzt sich frei und unterschiedlich im Kopf des Zuschauers zusammen – aus heteronomen Faktoren. Die Aufführung versteht sich demzufolge nicht als Wiedergabe, sondern als Tat im emphatischen Sinn.

Quelle Stephan Mösch: Die Krokodile sagen alles / Frank Castors Bayreuther Ring und die „Dynamisierung des Originals“. In: Musik & Ästhetik 19. Jahrgang, Heft 75, Juli 2015 Klett-Cotta Stuttgart (Seite 77) [die Anführungsstriche innerhalb des zitierten Textes bezeichnen Wortfolgen von Ivan Nagel].

Ja, die „Tat im emphatischen Sinn“ – dagegen kann man seit Goethes Faust nichts mehr einwenden, statt „Wiedergabe“ könnte ich allerdings auch „Wiederkäuen“ sagen, und so weiß ich ohne nachzudenken, was ich zu wählen und was ich zu lassen habe.

Wenn es so desolat um die Wirklichkeit steht, und gewissermaßen zur Strafe auch noch um die zweite Wirklichkeit des Kunstwerkes, was soll ich mit Leuten anfangen, die vom Individuum sprechen, ohne uns gleichzeitig darüber zu informieren, dass es doch auch nicht weniger „fiktiv und lügenhaft“ zu haben ist als die Autonomie des Subjekts; ich verweise auf Artikel wie SUBJEKT oder INDIVIDUUM und zitiere dann unverdrossen den Philosophen Rüdiger Safranski:

Goethe, der genau wußte, was für die Bildung eines Individuums erforderlich ist, schreibt in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“:

Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Ziele vermag er einzusehen und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.

Goethe hat, wie so oft, auch hier das Richtige getroffen. Es gibt eine Reichweite unserer Sinne und eine Reichweite des vom Einzelnen verantwortbaren Handelns, einen Sinnekreis und einen Handlungskreis. Reize, so kann man mit großer Vereinfachung sagen, müssen irgendwie abgeführt werden. Ursprünglich in der Form einer Handlungs-Reaktion. Handlung ist die entsprechende Antwort auf einen Reiz. Deshalb sind auch der Sinnenkreis, worin wir Reize empfangen, und der Handlungskreis, in den sie abgeführt werden, ursprünglich miteinander koordiniert. Aber eben nicht gut genug koordiniert. Auch hierbei sind wir Halbfabrikate. Wir müssen nämlich selbst ein Filtersystem entwickeln, das Reize, auf die man gar nicht angemessen zu reagieren braucht, wegfiltert. Unsere Sinne sind vielleicht zu offen. Unser diesbezügliches Immunsystem ist nicht ausreichend. Auch das gehört zur Arbeit an unserer zweiten Natur: die Entwicklung eines kulturellen Filter- und Immunsystems.

(Fortsetzung folgt)

Quelle Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt am Main 2004 (S. 77f):

Genau dies ist es offenbar, was Castorf anstrebt: So viele Reize zu schaffen, dass unser Filtersystem außer Kraft gesetzt wird. Gleichgültig, ob wir dadurch tat-mächtiger werden oder wie gelähmt in uns zusammenfallen. Hauptsache, er war Herr seiner Tat und unser aller Herr. „Fiktiv und lügenhaft“ könnte es dann erst recht sein zu behaupten: „Alles setzt sich frei und unterschiedlich im Kopf des Zuschauers zusammen – aus heteronomen Faktoren.“ (s.o.)

Nichts setzt sich zusammen. Das was an geistigem Knochengerüst vorhanden war, auch die Musik, die einen gewissen Zusammenhang zu bilden schien, wird gnadenlos dekonstruiert, allein durch die offenbare Missachtung und Ignoranz. Was machen wir mit den psychologischen Bruchstücken? Wie schütteln wir sie ab?

(Fortsetzung Safranski:)

Was geschieht mit Reizen, die nicht mehr handelnd beantwortet und abgeführt werden? Der Abgebrühte hat sie vielleicht durch Abbrühen unschädlich gemacht. Aber auch bei ihm werden diese Reize Spuren hinterlassen. Wenn sie nicht weggefiltert werden, lagern sie sich irgendwo in uns ab, in einem neuen Bereich des Unbewußten, einem Unruheherd mit frei beweglicher Erregungsbereitschaft, nur lose mit ihren jeweiligen Gegenständen verbunden. Man wird, wie Goethe feststellte, zerstreut. [JR: dekonstruiert?] Aber es handelt sich um eine erregte Zerstreuung – wie nach einer Explosion. Man muß sich das so vorstellen: Jeder ist zunächst in seiner Arbeit und sonstigen Lebenstätigkeit konzentriert, zusammengedrückt; wenn dieser Druck nachläßt, in der sogenannten Freizeit, bersten diese vom Druck Befreiten auseinander und stürzen sich auf die tausend Bilder von Ereignissen, die sie eigentlich nichts angehen. Wie auch immer, der Medienkonsument erlebt die globale Welt als Schauplatz seiner Erregungen auf der Suche nach immer neuen Gelegenheiten. Globalisierung, die über die Medien nach innen schlägt, begünstigt latente Hysterie und Panikzustände.

Quelle Safranski a.a.O. Seite 79 f.

Nachwort 5. August 2015

Wagner erleben … bedeutet nicht Frei-Zeit? und noch weniger Freiheit.

Vielleicht brauche ich aber in Richard Wagners Werk nicht eine weitere Explosion auf der Bühne, sondern erst nach dem Schlussakkord und dem Verlassen des Festspielhauses – im Kopf, auf dem Nachhauseweg und im stillen Kämmerlein?

Früher sprach man allzu leicht von Bewusstseinserweiterung. Aber könnte man wirklich bei einer Sprengung – sagen wir – des Dionysos-Mosaiks in Köln von einer Mosaikerweiterung sprechen?

Nachwort 6. August 2015

Die neue ZEIT ist da! Pflichtlektüre und als erstes zu lesen: „Bayreuther Assoziationen / Eine Reise zu den Festspielen“ Von Peter Sloterdijk. Eine hinreißende, würdige Nachfolge der Schriften Nietzsches zum „Fall Wagner“. 

ZITAT

Ein Wort über die Walküre dieses Sommers soll nicht fehlen. Dass der Regisseur ein Zyniker und ein Schlamper ist, weiß man nicht erst, seit er am Hügel seine Visitenkarte abgab. Der aktuelle Kulturbetrieb benutzt Zyniker und Schlamper als Informanten über das, was als Nächstes kommt. Wer ärger schlampt als andere, prägt die nächste Saison. Wer das Publikum heftiger verachtet als andere gelernte Verächter, wird weitergereicht in die nächste Runde.

Es war das Glück dieser Walküre, dass dem Regisseur zu ihr nichts einfiel, außer dass er dem maßlos monologisierenden Wotan ungefähr zur Halbzeit seiner polemischen Tirade einen Stuhl unterschieben ließ. Man hatte ansonsten Lust, ihm zu gratulieren, wie wenig er die Sänger behinderte. Gegen das Stück war er gleichgültig genug, um Kunstaugenblicke zuzulassen. Fast war man bereit, für seine Lustlosigkeit dankbar zu sein. Sie ließ Raum dafür, dass der Dirigent zum Blühen brachte, was Paul Bekker einst die „instrumentalen Instinkte“ Wagners genannt hatte.

Ein Wort noch zu dem Publikumsverachtungsstandort Bayreuth. Gegen die kondensierte Verehrung der Besucher kommt hier niemand auf. Keine Herabsetzung vermag dort (…)

Ich breche ab: wer nie im Leben DIE ZEIT gelesen hat, vielleicht weil er/sie Musiker/in ist und üben muss, – heute sind die Seiten 39 – 40 hilfreicher als ein ganzer Etüden-Band. Es ist eine Übung des musikalischen Denkens par excellence. Und ein Königsweg, Wagner trotz Bayreuth zu lieben.