Wessen Visage ist das denn?

Ich will niemandem zu nahe treten, am wenigsten dem hier dargestellten Menschen eines anderen Jahrhunderts, aber auch nicht dem musizierenden Freund, der einen Bach-Abend gab und als Schmuck des Programms dieses Gemälde beifügte. Jedenfalls kann ich in Betrachtung dieser Visage nicht konzentriert zuhören: wie nennt man das, wenn jemand einen so impertinent mustert? Im nächsten Moment wird er mich aus dem Saal weisen, ja, er ist eine Aufsichtsperson, er bezweifelt, dass ich überhaupt eine Eintrittskarte habe.

Wenn dies hier das Gesicht von Johann Sebastian Bach ist, dann hat dessen Musik ein ganz anderer geschrieben. Vielleicht Shakespeare oder Casanova oder James Cook oder Rabelais. Aber nicht dieser Mann.

Bach visuell

Ich weiß nicht, welche Berechtigung besteht, ihn für Johann Sebastian Bach auszugeben. Schon wieder ein falscher Ton in der Überlieferung? Ein schlechter Zug um den Mund, ein kleinbürgerlicher Blick? Nein, nicht der Dargestellte ist zu diffamieren, er wird ja erst lächerlich, wenn man seine Bedeutung überschätzt. Ohne die Sonntagskleidung, einfach so als Schneider oder hinterm Bankschalter: super, der Mann!

Es geht nicht anders, wir sind aufgerufen nachzuforschen, – ad acta legen, das geht überhaupt nicht. Es sei denn, unter einem anderen Namen. Meinetwegen auch als Johann Jacob Reichow, Mühlenbesitzer in Roggow/Hinterpommern.

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Ich füge einmal an, was ich auf die Schnelle fand. Neben dem Bild war zu lesen – abgesehen von dem Namen, den ich nicht akzeptieren mag – „Meininger Pastell“ von Gottlieb Friedrich Bach.

Wer ist das?

Kabinettmaler, Hoforganist; geb. 10. 9. 1714, gest. 24. 2. 1785 (begraben 26. 2.1785). Der
jüngere Sohn von Johann Ludwig Bach besuchte das Meininger Lyzeum, trat 1721 in die IV.
Klasse ein und verließ es 1729 nach Absolvieren der Primarstufe. Nach dem Tod seines
Vaters 1731 spielte er bis zur Rückkehr seinesälteren Bruders Samuel Anton Jacob die Orgel in der Schloßkirche. Etc. etc.
Gottlieb Friedrich Bach unterhielt offenbar engere Beziehungen zu Johann Sebastian Bach sowie zu Carl Philipp Emanuel Bach. Möglicherweise hielt er sich zwischen 1740 und 1745 in Leipzig auf und malte ein Bild von Johann Sebastian Bach. Ein Porträt Carl Philipp Emanuel Bachs ist jedenfalls bekannt.

Und wer war sein Vater Johann Ludwig Bach?

Lehrer, Kantor, Pageninformator, Hofkantor, Kapellmeister, Komponist, Lehrer; get. 6. 2.
1677 Thal, begraben 1. 5. 1731 Meiningen. Der Sohn von Johann Jacob Bach (1655 -1718)
und Anna Martha Bach, geb. Schneider wuchs wie sein 8 Jahre jüngerer Vetter Johann
Sebastian in einem musikalischen Haushalt auf und erhielt die erste musikalische Ausbildung bei seinem Vater. Er besuchte 1688 -1693 die Lateinschule in Gotha, wo u. a. Wolfgang Michael Mylius (1636 -1712) und Johann Pachelbel wirkten. Etc. etc.
1726 führte Johann Sebastian Bach mehrere Kantaten Johann Ludwig Bachs in Leipzig auf. Von Johann Ludwig Bachs weltlichem und geistlichem Werk ist nur ein Bruchteil erhalten. Das eindrucksvollste Werk der überlieferten geistlichen Vokalmusik ist die Trauermusik auf den 1724 verstorbenen Herzog Ernst Ludwig I. von Sachsen-Coburg-Meiningen.

Quelle 
Maren Goltz : Musiker-Lexikon des Herzogtums Sachsen-Meiningen (1680 – 1918) HIER

WIKIPEDIA: https://de.wikipedia.org/wiki/Gottlieb_Friedrich_Bach ,  darin zu lesen:

Er porträtierte seinen Vater Johann Ludwig Bach, Carl Philipp Emanuel Bach sowie Mitglieder des Meininger Herzoghauses und andere Thüringer Fürsten. Carl Philipp Emanuel Bach berichtete auch von einem Porträt Johann Sebastian Bachs, doch ist darüber heute nichts Sicheres bekannt.

Das Rätsel ist geklärt (jedenfalls mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit):

Bach-Porträts Screenshot 2016-01-30 21.22.20

Erkennen Sie das Portrait wieder? Rechte Seite, in der Mitte. Es handelt sich demnach um Wilhelm Friedemann Bach. Und direkt darüber befindet sich ein mit Fragezeichen versehenes Bild von „Johann Sebastian Bach“ (auch hier würde ich sagen: ihn stellt es keinesfalls dar). Mittlere Spalte, Bild 1 und 2: Carl Philipp Emanuel Bach? Ja, er ist es unverkennbar. (Friedemann – rechts – ist ebenfalls glaubwürdig, vgl. z.B. hier. Jetzt würde ich den Gesichtsausdruck natürlich auch ganz anders deuten…)

Quelle Neil Jeffares: Dictionary of pastellists before 1800, online editin, darin: BACH, Gottlieb Friedrich / Meiningen 1717–1785 – Aufzufinden HIER.

Nachtrag 8. Februar 2016

Der kritisierte Freund hat mir widersprochen, und ich fürchte – er hat recht, hier seine Mail:

Du hast vermutlich übersehen, dass in dem Online-Buch von Jeffares die Abbildungen unter dem Text stehen und nicht darüber.

Friedemann wäre, als das Bild entstand, erst 20 Jahre alt gewesen. Das Bild darunter stellt ihn dar. Auch hier ist die Zuschreibung nach Meinung des Autors zweifelhaft. Im übrigen gäbe es keine Ähnlichkeiten mit den zwei (?) bekannten Portraits von Friedemann (Das allgegenwärtige mit dem Schlapphut scheint sowieso falsch zu sein).

Was bei der Zuschreibung an Johann Sebastian „doubtful“ ist, wäre noch herauszufinden, interessiert mich aber nicht wirklich (…).

***

Ich gebe zu, es war voreilig von mir, an die Unfehlbarkeit dieser verdammten Liste von Pastellbildern zu glauben. Und obendrein noch selbst die beschreibenden Texte den falschen Bildern zuzuordnen! 

Ich hätte wenigstens ahnen können, dass es längst eine regelrechte Forschungsrichtung zur Authentifizierung überlieferter Bach-Portraits gibt. Wie glücklich bin ich nun, dass die kritische Reaktion des Freundes eine neue Suche ausgelöst hat, die zu einem durchaus hoffnungsvollen Neuanfang geführt hat. Ob „doubtful“ oder nicht, es interessiert mich nachhaltig. Denn eines Tages wird mir Bach im Traum erscheinen, und er soll bitte genau so ausschauen, wie auf dem Bild von Haussmann, mir den Kanon entgegenhalten und rufen: „Und das hab‘ zum Zeichen!“ ich werde entgegen: „Moment, darf ich einmal die Handschrift überprüfen!?“

Auch die folgende Website habe ich allerdings noch nicht gründlich geprüft, sie bietet jedoch reichen Stoff zum Weiterforschen und beruht auf einem Wissensstand, von dem ich vor 5 Tagen nur träumen konnte.

Sehen Sie also THE FACE OF BACH ………….. HIER.

Nach-Nachtrag 10.02.2016

Gewiss: Alles bewundernswert, was man da zu lesen und zu sehen bekommt. Nur der entscheidende Punkt, dass dieses Bach-Bild, das mich irritierte, vielleicht doch authentisch ist, bleibt ganz und gar unglaubwürdig. Da hilft auch keine Schädelanalyse. Inzwischen habe ich dem Mann so lange ins Antlitz geblickt, bis ich zu der Überzeugung kam: er ist ein Vorfahr von Peter Sloterdijk. Nur die Haare trägt er schöner. (Ja, wer von beiden? das lasse ich offen.) Ich habe die hundert Seiten der Bach-Kantaten-Behandlung noch nicht studiert, – ist es mehr das Werk eines akribischen Rechtsanwalts oder eines höchst systematisch engagierten Laien-Musikers? Ganz ratlos machen mich seine Tränen, etwa, wenn der Autor über Bachs Bildnis (natürlich doch das eine von Haussmann) gesprochen hat, seine mutmaßlich lebensfrohen Aktivitäten (Rauchen, Trinken, Bett) und schließlich auf die eigene größmögliche Nähe zum Komponisten kommt: er nimmt die Handschrift der Kantate BWV 7, blättert mit ungeschützten Fingern darin herum und ist zutiefst gerührt. (Ähnlich erschüttert sagt er seiner Meisterin Rosalyn Tureck am Ende eines anderen Filmes – https://www.youtube.com/watch?v=mAFPfflNex0 – zu ihrem 100. Geburtstag und 10. Todestag ein schlichtes „Danke, danke“.)

Heute habe ich nochmal in einen schönen Bildband geschaut, der zum Bach-Jahr 1985 herausgekommen ist, – wer weiß, ob ich damals die Seite 142 überhaupt beachtet habe (indiskutabel); bestimmt habe ich nur gedacht: das Bild auf Seite 143 muss doch von Adolph Menzel sein!? (Ist es natürlich nicht!)

Bach Friedrich II

Bach & Friedrich II