Von der Kette der Anregungen

Betrifft: Schubert-Lieder

Jeder, der mich kennt, (Entschuldigung, so spricht die wichtigtuerische Viertel-Prominenz, besser:) manch eine/r weiß wohl, wie sehr mich interessiert, was einen Sänger / eine Sängerin beim Singen bewegt, aber auch, was ein Gedicht eigentlich ausmacht, wenn es nicht  gesungen wird. Wie es gesprochen werden sollte oder gar: wie es stumm gelesen und verstanden wird. Was eine verbale Analyse ausmacht. Ich kenne Leute (Studienräte z.B.), die es strikt ablehnen, eine Gedicht-Interpretation zu lesen, die aber doch antworten, wenn man sie fragt: was will uns der Dichter denn an dieser Stelle sagen? Was versteht er unter „Zwielicht“? Was unter „Freund“? Natürlich muss der Skeptiker selbst solche Zeilen interpretieren:

Hast du einen Freund hienieden / trau ihm nicht zu dieser Stunde,

freundlich wohl mit Aug und Munde, / sinnt er Krieg im tückschen Frieden.

Trau ich einem Freund, der singt? Trifft er den zwielichtigen Ton, wenn es sein muss? Wie kritisiert man ihn, wenn es einem unbehaglich wird? Oder: was tun,  wenn der andere peinlich berührt schweigt, während man ihm tiefbewegt eine bestimmte Aufnahme nahebringen möchte, fast unter Tränen, und er lächelt nachsichtig, sogar ein bisschen ironisch…

Es bleibt nur eins: darüber reden. Auch wenn es „Gefühlssachen“ sind.

Ausgangspunkt war z.B. das Schubert-Lied „Herbst“. Der Sänger Christian Gerhaher. Die Überraschung, wenn jemand vorsichtig wird (als müsse man mich schonen). Er singe sehr distanziert, auf Kunst bedacht, ja: geradezu museal. Und ein Gegenkandidat wird genannt: Werner Güra. Da sei mehr Menschlichkeit zu spüren, Innigkeit. Ich kenne ihn, werde aber auf eine neue Spur gebracht, es gebe „ein schönes, egoloses Interview“. Zur „Winterreise“. In der Tat, das ist lesenswert:

ChB Man hat immer Wehmut und Schmerz im Kopf. Aber wenn man die Gedichte liest und etwas über Wilhelm Müller – da ist ganz viel Rebellion drinnen. Bis zum Schluss. Ein Sichauflehnen gegen das Schicksal. Nicht einfach nur Versinken in Melancholie. WG Die größte Inspiration war die Platte mit – wie heißt er? ChB Westphal. WG Genau, Westphal. Weil wir zum ersten Mal gespürt haben, dass es keinen weinerlichen Hauptklang braucht. Da wird das Ding so was von aggressiv, so hart, so… ChB Schonungslos. WG Ja, schonungslos. Das fanden wir richtig beeindruckend. Er spricht oft über Sätze drüber und schafft eine ganz gruselige Stimmung. ChB Hat sehr geholfen, diese automatischen Verbindungen zu beseitigen. SMG Wie ist das, wenn ihr miteinander arbeitet? WG Na, traditionell schaut man sich einmal den Text an, am Anfang war das Wort 🙂 ChB Der Pianist sollte auch über den Text Bescheid wissen, und dass der nicht nur störend ist 🙂

Die Kürzel bedeuten: WG = Werner Güra, CHB = Christoph Berner, SMG = Sabine M. Gruber. Sie ist die Interviewerin und Editorin des Gesprächs, das auf einer insgesamt sehr bemerkenswerten Web-Seite zu finden ist: HIER.

Ich bin elektrisiert durch die Vorstellung einer von Gert Westphal gesprochenen „Winterreise“ und erst recht durch die Entdeckung, dass diese CD zu einem Buch über den Textdichter Wilhelm Müller gehört. Wie konnte mir das genau 10 Jahre lang entgehen? Wozu existiert – streng genommen – das Internet?  Um solche Versäumnisse zu korrigieren. Der Hinweis auf das „egolose“ Interview kam am 17. Oktober per Mail. Heute liegt das Buch mit den zwei CDs in meinen Händen. Erika von Borries: WILHELM MÜLLER Der Dichter der Winterreise Eine Biographie / C.H.BECK München 2007 / ISBN 978 3 406 56212 9 /

Wilhelm Müller Cover a Wilhelm Müller Cover b

In der Tat: „Sie löst seine Texte aus dem Bann der Musik und gibt ihnen ihre literarische Bedeutung zurück.“ So gewagt es klingt, so sehr kommt es doch auch Schubert zugute. Man weiß endlich: es ist ERNST, und nicht nur eine Folge romantisch-dunkler Stimmungen.

Wilhelm Müller CD Westphal

Schubert wahrt natürlich auch im Lieder-Zyklus die Einheit des Liedes, der Strophe, der Zeile. Gert Westphal macht es anders: er lässt die Gedichte unmittelbar aufeinanderfolgen (auch ohne Überschriften) und spricht mit unberechenbarem Temperament, was den Vortrag spektakulär und spannend macht. Etwa so, wie Will Quadflieg den Faust-Monolog gesprochen hat, eben wie im Drama. Darf man so mit einem Gedichtzyklus verfahren? Ja natürlich, würde ich neudeutsch sagen: wenn’s funktioniert!

Gefährlich ist es, wenn man den musikalischen Gegenpol in einer Schubert-Interpretation repräsentiert findet, die nicht auf ihre Weise ins Extrem geht. Es mag sein, dass der Sänger vor allem auf der Bühne zuhaus ist, weniger im scheinbar genügsameren Lied. Er findet keine glaubwürdige Rolle, keine Linie, verweilt zu absehbar auf nett vibrierten Einzeltönen. Und es gab schon in der Vergangenheit so gewaltige Aufnahmen der Schubertschen Winterreise, – während die Rezitation Gert Westphals wohl ohne Vergleich bleibt.

ZITAT

Wilhelm Müller ist nicht mit dem lyrischen Ich der ‚Winterreise‘ gleichzusetzen. Wieder ist der Wanderer auch eine Rollenfigur – oder, wie es in der Charakterisierung Byrons hieß: ein Medium, durch das der Dichter sich ausspricht. Seine Opposition gegen die Metternichsche Restauration und gegen eine Gesellschaft, die dies gleichgültig geschehen läßt, findet in dem Zyklus Ausdruck, ebenso wie seine traumatisch erfahrene Brüsseler Liebe, die indes so verhüllt ist, so wenig konkrete Einzelheiten enthält, daß sie bis heute und für jedermann Identifikation erlaubt; und, obwohl es ‚Zeitlieder‘ gibt, hat Müller es verstanden, in den Liedern ‚ ein von jeglicher Illusion befreites Moderne-Bewußtsein‘ zu artikulieren, das noch heute den Nerv der Zeit trifft.

***

Während Müllers eigene Person in der ‚Winterreise‘ schwer auszumachen ist, zeigt der Dichter in den zeitgleich geschriebenen ‚Griechenliedern‘ offen sein „Gemüt“: Mit flammender Begeisterung setzt er sich für die Sache der Griechen ein, die am 5. März 1821 einen bewaffneten Aufstand gegen die Türken wagten, um sich von der 300jährigen Fremdherrschaft zu befreien. Die Großmächte der Heiligen Allianz, auf den Einhalt des Status quo in Europa bedacht, verurteilten den Aufstand als unrechtmäßige Empörung. (…)

Eine Welle der Sympathie für das aufbegehrende Griechenland begleitete fortan das Kriegsgeschehen, besonders stark in Deutschland, dann auch in der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern, selbst in den Vereinigten Statten. Im „Philhellenismus“, in der Solidarisierung mit den nach nationaler Freiheit strebenden Hellenen, trafen Altertumsbegeisterung, christliches Engagement, humanitäre Anliegen und politische Interessen zusammen. Den liberal Gesinnten in Deutschland bot sich Gelegenheit, die im eigenen Land verbotenen Freiheitsbestrebungen offen zu unterstützen. In allen größeren Städten wurden Griechenhilfsvereine gegründet, in Aufrufen für Spenden und Freiwilligenkorps geworben. (…)

Auch Müllers politische Lieder sind Rollendichtungen; in diesem Fall war es nur opportun, ein fremdes „Kostüm“ anzulegen, um für die Zensur unangreifbar zu sein und dennoch die eigenen Ansichten und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Aus dem Mund eines Aufständischen, der zu seinen Glaubens- und Kampfbrüdern in Griechenkland spricht, läßt Müller Enttäuschung und Zorn über die scheinheiligen Praktiken der verbündeten Großmächte hören, die vorgeben, Ruhe und Frieden inEuropa zum Wohl der Bürger sichern zu wollen. Die Solidaritätspolitik der Heiligen Allianz diente indes allein dem Zweck, die Macht der Monarchen zu erhalten, wobei die Bündnispartner sich zum gegenseitigen Beistand gegen alle bürgerlichen und nationalstaatlichen Unruhen verpflichteten. (…)

Quelle Erika von Borries: Wilhelm Müller a.a.O. Seite 180, 182 und 186.

(Fortsetzung folgt)