Vom Eichbaum und dem Löwen

Sehr schön schreibt Reinhard Brembeck in seiner Klassikkolumne (SZ 10.02.2015):

In seinem letzten Lebensjahrzehnt versuchte Johann Sebastian Bach immer wieder, riesige Gebilde zu komponieren, die nur auf einem einzigen Thema basieren. Hinter diesem Konzept steckt der mittelalterliche Gedanke, dass die ganze Welt sich auf eine Zelle zurückführen lässt. Bach präsentiert sich also als Vollender einer Jahrhunderte alten Musiktradition. Während ihm neuere Tendenzen fremd blieben, die eine Überfülle oft widersprüchlicher Erscheinungen zu einem Ganzen zu formen versuchten. Tendenzen, die dann in der Wiener Klassik gipfelten. Bachs streng spekulatives Denken brachte zwei ausnehmend rätselhafte Großwerke hervor, die „Kunst der Fuge“ und „Das musicalische Opfer“, in dem er ein angeblich vom Preußenkönig Friedrich II. stammendes Thema in einer Vielzahl von Nummern verarbeitet: Ricercari, Canones und eine Triosonate. Nun überzeugt die Stückfolge des Drucks theoretisch eher als musikalisch, und so haben auch der Tastenspieler Lorenzo Ghielmi, sein die Gambe spielender Bruder und …
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Das leuchtet natürlich ein, und es wäre müßig, noch irgendein Wort für Bachs
überzeitliche Geltung einzulegen. Aber der Satz „Während ihm neue Tendenzen fremd
blieben, die eine Überfülle oft widersprüchlicher Erscheinungen zu einem Ganzen zu
formen versuchten“ macht mich nicht glücklich. Hat er wirklich im Musicalischen Opfer
ein Ganzes formen wollen, wie es die Kirkendales in einer ziemlich überspitzten
Weise – als eine einzige große Oratio – verstehen wollten? Nicht vielmehr nur ein
Kunstbuch, eine Sammlung möglichst vielgestaltiger Formen und Techniken?
Andererseits das Wohltemperierte Clavier – durchaus ein Ganzes, wenn auch nicht in
dem Sinn, dass alles aus einer Keimzelle entspringt; sondern ein einziges großes
Dach, unter dem er „eine Überfülle oft widersprüchlicher Erscheinungen“
zusammenzubringen suchte.
Während Beethoven in manchen ausgedehnten Werken tatsächlich alles aus einer
einzigen Zelle hervorwachsen lassen ließ, wodurch die „Überfülle oft widersprüchlicher
Erscheinungen“ durchaus nicht eingeschränkt wurde.
Es ist wie so oft, wenn man etwas auf eine Formel bringen will: der wesentliche
Unterschied liegt außerhalb dieser Formel. Und es ist sehr erhellend, wenn Erwin Ratz
in seiner Formenlehre nachzuweisen sucht, wie Bach und Beethoven im Grunde die
gleichen technischen, formbildenden Verfahren anwenden.
Aber wo liegt nun der grundsätzliche Unterschied, auf den z.B. Furtwängler mit seinem
Wort anspielte, es sei, als vergleiche man den Eichbaum (Bach) mit einem Löwen
(Beethoven). Wo? Auf der Hand natürlich. Oder der Pranke. Vielleicht auch nur auf dem
Blatt.
Aber ich habe noch zu wenig aus Brembecks Kolumne zitiert, der schönste Satz fehlt.
Bach Opfer Ghielmi
Musical Offering (Musicalisches Opfer):
„Tänze des Geistes, der seine Höhenflüge und Spekulationen nicht oberlehrerhaft, sondern wie ein berauschter Sufi unters Volk bringt.“ (Reinhard Brembeck)
Ein Rausch? Trunkenheit ohne Wein? Nur her damit: Dies ist mein Weg.
P.S. 18.02.2015
Die CD ist eingetroffen. Erster Eindruck: Sehr gut, aber … so klingt kein berauschter Sufi. Die Kanons sind zu kurz gefasst, die Pausen zwischendurch zu lang. „Canon perpetuus“ in 1:09 ? Dürfte nicht ein bisschen mehr Wahnsinn durchschimmern? „Cancricans“. Warum nicht vorwärts-rückwärts und wieder vorwärts. Und wieder zurück in den Canon perpetuum und zwar subito und weiter und ohne Pause. Nicht von Bach gewollt? Na und? Aber vielleicht von uns?