Vom Bloggen und Interpretieren

Blog-Artikel müssen nicht den Charakter wissenschaftlicher Abhandlungen haben, sollten aber auch nicht aus bloßen Konfessionen bestehen, aus beliebigen Meinungskundgaben, die einem etwa bei der Zeitungslektüre in den Sinn kommen. So meine ich es jedenfalls. Es soll Denkanstöße geben, und zwar mir selbst und vielleicht auch den Lesern des Blogs. Zuschriften, die inhaltlich weiterführen, werde ich dem Artikel nachträglich beifügen und auch klarstellen, dass es sich um eine Übernahme handelt. Im Fall eines alten Blogeintrages zu Bachs Vertonung der Worte MENTE CORDIS SUI im Magnificat, veröffentlicht am 7. Februar 2013, hat sich erst in diesen Tagen ein in diesem Sinne fruchtbarer Dialog ergeben, den ich demnächst wiedergeben werde; darüberhinaus auch den vollständigen Artikel von damals, da die Beiträge des von 2011 bis 2014 geführten Blogs zur Zeit nicht mehr zugänglich sind.

Ich verfolge gern die von Marcel Reich-Ranicki eingeführte FAZ-Anthologie der Gedichtinterpretationen, im FAZ-Net sogar in doppeltem Sinne: als schriftliche Erläuterung zum Text ebenso wie als mündlichen Vortrag des Gedichtes, so zum Beispiel am 7.11.2014, auffindbar HIER.

Es geht um das Gedicht „Lied vom Meer“, Untertitel „Capri. Piccola Marina“ von Rainer Maria Rilke.

Was mich an der Interpretation von Jan Volker Röhnert als erstes störte, war der Bezug auf die Sirenen, der im Wortlaut des Gedichtes nicht begründet ist. Zudem ist durchaus nicht gesichert, wo sich die Antike den Sitz der Sirenen vorgestellt hat, Capri ist nur die beiläufigste unter den überlieferten Möglichkeiten. Was auch immer die Capresen dazu erzählen…

Die Idee von den zwei Gesichtern Capris und dem doppelten Boden des Gedichtes scheint mir ganz unglaubwürdig dargestellt, auch der Hinweis auf die private Situation (Rilke mit Freundin im „Rosenhäuschen“, Sonntagsbriefe an die Ehefrau in Ägypten) ziemlich überflüssig. Ärgerlich wird es erst bei den Zeilen:

uraltes Wehn vom Meer, / welches weht / nur wie für Ur-Gestein, / lauter Raum / reißend von weit herein …

[Einmal ist das „uralte Wehn“ mit „du“ angesprochen, als gäbe es eine gemeinsam geteilte Sprache;] das zweite Mal rückt es in Distanz: „nur wie für Ur-Gestein“ – da ist die Elementarmusik nur im Vergleichspartikel abrufbar; das Wie trennt die Sprache der stummen, aber keineswegs lautlosen Dinge vom menschlichen Logos, der sie nur beschwören, nicht aber ,verstehen‘ kann. Der „laute Raum“ will unentwegt gedeutet sein, was mit den rhetorischen Künsten der Sprache gerade nicht oder nur vorläufig gelingen kann.

Ein unangenehmes Missverständnis, Rilkes Raum als „laut“ wahrzunehmen, zumal es dann wohl heißen müsste: „lauten Raum reißend von weit herein“.

Rilkes Wort kommt jedoch nicht von „laut“, sondern von „lauter“ im Sinne von „nichts als“. Beispiel: „Vor lauter Rauch konnte ich im brennenden Haus wenig sehen .“

Der Raum Rilkes kann also sehr wohl völlig lautlos sein, in erster Linie ist es sehr viel Raum! „Uraltes Wehn“ (…) reißt lauter Raum von weit herein, oder aber: „reißend von weit herein“ – das heißt: „lauter Raum“ kann durchaus als Akkusativ verstanden werden.

Vollends unverständlich wird die Interpretation mit der folgenden Feststellung:

Das Bild des „treibenden Feigenbaums“ schließlich enthält schon die Blätter, die sich ohne Blütenstand unmittelbar aus der Knospe in die Sonne hinein entrollen: Hände, die die Welt begreifen wollen.

Wird hier vorausgesetzt, dass sich ein Blatt normalerweise aus einer Blüte entwickelt und nur in diesem Fall unmittelbar aus einer Knospe als Blatt entrollt? Das wäre biologisch widersinnig.

Von der Form der Blätter, die sich in die Sonne (!) entrollen und wie Hände das Äußere zu be-greifen suchen, sagt Rilke nun leider gar nichts.

Zweifellos ist es ein spektakulärer Anblick, wenn die Feigenbäume im Vorfrühling ihre Blätter auszutreiben beginnen. Und sich dieses bei Mondschein und zudem aus der Innensicht des Feigenbaums vorzustellen, wäre eine hochpoetische Angelegenheit und vielleicht im Sinne Rilkes. (Mir fällt ein japanisches Haiku ein: „O süßes Mondlicht. Wenn ich wiedergeboren werde, möchte ich ein Föhrenwipfel sein.“) Aber so will es der Interpret nicht verstehen, sondern irgendwie verquer.

Kurzes Fazit: Zu viele eigene Gedanken in dieser Interpretation, zudem fehlerhafte und solche, die mit Rilkes Intentionen wenig zu tun haben

Der mündliche Vortrag des Gedichtes macht mich im vorliegenden Fall auch nicht glücklicher. Vor allem der Schluss hat ein viel zu hohes Tempo, wirkt flüchtig und bedeutungslos:

O wie fühlt dich / ein treibender Feigenbaum / oben im Mondschein.

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