Unruhe und rasender Stillstand

Unter dem Eindruck der Lektüre des Buches „Die Unruhe der Welt“ von Ralf Konersmann notiere ich mir zum nochmaligen Hören und Sehen die gestrige PRECHT-Sendung mit dem Beschleunigungs-Analysten Hartmut Rosa. Besonders erstaunlich – angesichts der nächtlichen Stunde und des Themas – das unerhörte Sprechtempo der beiden (sehr einvernehmlichen) Gesprächskontrahenten. Ein Grund mehr, das Gespräch nachzuhören mit der Chance, hier und da die Stopptaste zu drücken. Übrigens weigere ich mich, Richard David Precht als Modephilosophen abzutun: wo gibt es sonst so intensive Gespräche mit Themen, die uns interessieren müssten – außer vielleicht auf Youtube (dort aus alten Zeiten aufbewahrt)? Nebenbei gesagt stammt er aus Solingen, und in philosophischem Zusammenhang erlebt man die Stadt, in der gern die angeblich „Schärfste Klinge“ verliehen wird, wohl ansonsten nur 1mal: zu Beginn der Kantschen „Prolegomena“, deren Vorwort in der Neuausgabe unterzeichnet ist mit „Solingen 7. August 1905“ und dem Namen  Dr. Karl Vorländer.

Zitate aus dem oben (und unten) genannten Buch – auch Hartmut Rosa und den großen Anreger Paul Virilio betreffend – sollen folgen. An dieser Stelle nur der Link zur ZDF-Sendung:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/aktuellste/1704486#/beitrag/video/2420740/Rasender-Stillstand

bzw.

HIER (43:17) Prinzipien: Angst abgehängt zu werden / Mehr Welt erreichbar machen / ab 8:50

⇑ Nicht mehr abzurufen, siehe Restnotizen HIER

Wikipedia zu Hartmut Rosas Habilitationsschrift über „Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Temporalstrukturen“.

Die „technische beziehungsweise ökonomisch induzierte Beschleunigung“ zeigt sich in der rasanten Entwicklung der Technik im 19./20. Jahrhundert und der sozialen Beschleunigung der Menschen. Die Geschichte der Moderne sei gleichzeitig die Geschichte von Beschleunigung. Aufgrund des Zeitgewinns durch technischen Fortschritt entstehe eine Zeitnot und kein Zeitgewinn. Laut Rosa führt die Vielzahl der Möglichkeiten dazu, dass ein Mensch die ihm gegebenen Möglichkeiten nicht mehr im Laufe seines Lebens ausschöpfen kann. Die „Steigerungsrate übersteigt die Beschleunigungsrate“, was dazu führt, dass das gerade Erlebte bereits nicht mehr up to date ist und die Individuen keine Chancen haben „lebensgesättigt“ zu sterben, wie es auch schon Goethes Faust erging. Rosa kreiert das „Slippery-Slope-Phänomen“, welches ausdrücken soll, dass der Mensch sich nie ausruhen kann/darf und sich nie zufriedengeben darf, da er sonst einen Verlust oder einen Nachteil erleiden könnte. Rosa sieht keine Steuerungsmöglichkeiten des Lebens für den Menschen mehr, da sich das Tempo der Beschleunigung verselbständigt habe.

ZITAT Konersmann zu Paul Virilio und Hartmut Rosa (Anm.19 Seite 372)

Die Rede vom Ende der Geschichte ist seltsam diffus und bedient sowohl die Kritik des „rasenden“, technikinduzierten „Stillstandes“ (Paul Virilio) als auch den gegenläufigen Befund leerlaufender, aber auch alternativlos scheinender „Beschleunigung“ (Hartmut Rosa). Das Hegel-Interesse Kojèves, des prominenten Stichwortgebers all dieser Deutungen, ist einseitig, und die Zusammenführung der historischen Spekulationen Antoine-Augustin Cournots (1801-1877) mit der  Phänomenologie von 1807 ist für den aufmerksamen Hegel-Leser kaum mehr als eine elegante Überspitztheit. Anknüpfend an das Herr und Knecht-Kapitel der Phänomenologie möchten die von Kojève zwischen 1933 und 1939 vor einer illustren Hörerschaft gehaltenen Vorlesungen die Politik der sozialen Kämpfe fortsetzen, Hegels Kriterium der Vernünftigkeit jedoch fallenlassen. Damit verliert die von Kojève beeindruckte Leserschaft das Problem aus dem Blick, dem sich Hegel mit der Kopplung von Vernunft und Geschichte gestellt hat: das Problem der Unverfügbarkeit des menschlichen Handelns und der historischen Zeit. Für Hegel ist die Vernunft keine Verlegenheit, kein verschämtes Zugeständnis an den Traditionalismus der Vormoderne, sondern das Mittel der Wahl, um die Unruhe aufzuspalten und zwischen bloßem Tumult und regelrechter Entwicklung zu unterscheiden. Hegel hat die Wächterfunktion der Vernunft immer wieder betont: Niemals darf sie schlafen! (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S.23).

ZITAT Konersmann zu seinem eigenen Vorhaben (Seite 17)

Was also ist das für eine Kultur, die sich, ohne dies jemals beschlossen zu haben, der Unruhe verschrieben hat? Und wie ist sie zu diesen Vorentschiedenheiten, die in keinem Katechismus, keinem Verfassungstext oder sonstigem Verhaltenskodex festgeschrieben sind, gekommen? Indem ich diese Fragen stelle, sollte klar sein, dass das vorliegende Buch keine Anklage erhebt und weder Gegenwelten entwerfen noch Ratschläge erteilen will. Es will die Aufmerksamkeit schärfen und herausarbeiten, wie kulturelle Konventionen aufkommen und wie sie durchgesetzt werden. Was mich interessiert, ist die Unwiderstehlichkeit der Unruhe, ist der kulturelle Laderaum dieses Prinzips und die Robustheit der von ihm getragenen Vorstellungswelt.

Quelle Ralf Konersmann: „Die Unruhe der Welt“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015

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Nachtrag nach einem Jahr: Stimmgabel und soziale Resonanz

In der ZEIT die Besprechung eines neuen Buches von Hartmut Rosa: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Suhrkamp Berlin 2016.

ZITAT

Das merkwürdige (zweifelhafte) Suggestiv der Metapher von der Stimmgabel: so funktioniere der wünschenswerte Kontakt zwischen Menschen. Dabei will er sich nicht mit einer „metaphorischen Verwendung des Begriffs“ begnügen, sondern die Resonanz als „sozialphilosophischen Grundbegriff“ und als „sozialwissenschaftliche Analysekategorie etablieren“.

Dazu muss Rosa die Vagheit der Resonanz verringern – und so landet er am Ende doch bei der Physik, nämlich bei der Stimmgabel:

„Bringt man zwei Stimmgabeln in physische Nähe zueinander und schlägt eine davon an, so ertönt die andere als Resonanzeffekt mit. Wenn Subjekte also im Sinne der Leitthese dieses Buches auf Resonanzerfahrungen hin angelegt sind, so können sie darauf hoffen, als ‚zweite Stimmgabel‘ von etwas Begegnendem zum Klingen gebracht zu werden – oder aber im Sinne der ‚ersten Stimmgabel‘ so lange zu suchen, bis sie ‚Widerhall‘ finden.“

Das klingt gut und schön – ist es aber leider nicht.

Mit dem Resonanzbegriff handelt sich Rosa eine Vorgabe ein, die er pikanterweise nicht erwähnt: Das Spiel mit den Stimmgabeln funktioniert bekanntlich nur, wenn sie genau gleich gestimmt sind. Resonanz steht eigentlich für öden Gleichklang und bestraft jede Abweichung mit Totschweigen. Passenderweise hat deshalb der hierzulande leider kaum gelesene, von Rosa immer beiläufig erwähnte Politikwissenschaftler William Conolly vorgeschlagen, den Kapitalismus mit seiner nivellierenden Wirkung als „Resonanzmaschine“ zu beschreiben.

Quelle DIE ZEIT 16. Juni 2016 Seite 41 Soziologie mit der Stimmgabel / Mehr Resonanz, bitte! Hartmut Rosa will die Gesellschaft, deren Beschleunigung er immer beklagt, durch zwischenmenschliche Anerkennung heilen. Von Dieter Thomä.