Tempo! Tempo!! Tempo!!!

Jawohl, alle klagen über den Zeitdruck, über den Zwang sich abhetzen zu müssen, die wahnsinnige Betriebsamkeit in den Großstädten, die Beschleunigung aller Tätigkeiten und aller Fahrzeuge, in denen wir scheinbar ruhig sitzen, und auch im Urlaub halten viele von uns nicht still, ja, selbst in der musikalischen Arbeit setzen wir uns Termine, versuchen wir ein Prestissimo schneller zu spielen, als unsere Finger wollen, rühmen wir einen Violin-Weltrekord im „Hummelflug“, – die arme Hummel, ausgerechnet dieser gemütliche Geselle („Megabombus“), der dem „Verein für Entschleunigung“ als Leitfigur dienen könnte. Merken Sie, dass mein Gejammer ganz allmählich unglaubwürdig wird? Ich meine den Kampf gegen das schnelle Tempo in der Musik natürlich nicht ernst, wir brauchen es genauso wie alle Spielarten der Langsamkeit bis hin zum Stillstand und zur Entrückung. Der wirkliche Tod der Musik ist und bleibt nun mal – die Langeweile.

Was hilft es mir, wenn jemand behauptet, Beethoven habe für seine Hammerklavier-Sonate eine Stunde gebraucht und heute gebe es junge Pianisten, die das Werk in 35 Minuten unterbringen. Das ist absurd. Erstens glaube ich das nicht, jede ernstzunehmende Aufnahme, die man auf youtube hören kann, dauert an die 50 Minuten, wenn auch die Künstler nicht mehr ganz jung sein mögen. Und schon behauptet derselbe Mann im andern Zusammenhang, es sei Franz Liszt gewesen, der eine  Stunde gebraucht habe. Na prima, ausgerechnet ein besonders virtuoser Vertreter seiner Zunft, – das könnte er natürlich als Erz-Romantiker allein im langsamen Satz herausgeholt haben.

Jeder Musiker, der die letzten Jahrzehnte wachen Sinnes erlebt hat, weiß, welche Tempi angeschlagen worden sind, gerade in der Alten Musik, und dass es insbesondere um die Beethoven-Tempi heftige und intelligente Diskussionen gegeben hat, weil der Komponist angeblich unspielbar schnelle Tempi gefordert hat (Kolisch, Leibowitz); jeder weiß auch, dass hinter der Neuen Langsamkeit nur einer stecken kann und stecken konnte: Willem Retze Talsma (und – nach seinem Vorbilde – Grete Wehmeyer). So auch in diesem Fall. Und in aller Kürze sage ich nur: er irrt.

Doch davon soll keine Rede sein. Es gibt ein neues Buch, offenbar sehr empfehlenswert, und nach dem, was ich sonst von Ralf Konersmann gelesen habe, pflichte ich freudig dem Tenor bei, den die Buchbesprechung in der FAZ vorgibt. Ein Lob der Unruhe! Mag es auch in der Bibel als Fluch und nicht als Verheißung gemeint sein: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein!“

Im Lauf ihrer Geschichte ist die Unruhe vom Schreckbild der biblischen Erzählung zum Normalzustand geworden. Mehr noch, sie ist ein „hoffnungsfrohes Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung von Treiben und Getriebensein nicht kennt“. Und selbst noch die zeitgeistige Sehnsucht nach Entschleunigung, nach einer Auszeit oder nach meditativer Gelassenheit findet für Konersmann vor dem Hintergrundrauschen der Unruhe statt. Stress, Arbeitsverdichtung oder Burn-out werden für ihn zu Symptomen eines verzerrten Diskurses: Statt Unruhe als solche, als historische, kulturelle Erscheinung zu erkennen, werde sie heutzutage ins erschöpfte Selbst verlegt, als therapierbar, also überwindbar betrachtet. Dass dem nicht so sein kann, ist eine der vielen überraschenden Einsichten dieses Buchs.

(Fortsetzung folgt)

Quelle Frankfurter Allgemeiner Zeitung FAZ 29. Mai 2015 Stress des Alltags Wie wir gelernt haben, die Unruhe zu lieben Besser als alle Ratgeber zur Lebenskunst: Ralf Konersmann zeigt, wie unser rastloses Leben zur Norm wurde – und warum wir das für therapierbar halten. Von Thorsten Jantschek.

Quelle der Quelle Ralf Konersmann: „Die Unruhe der Welt“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 464 S., Abb., geb., 24,99 Euro.

Weshalb ich dem Namen unbedingt vertraue: zu den wichtigsten, jederzeit repetierbaren Lektüren meines Bücherschrankes gehört die Kulturphilosophie zur Einführung von Ralf Konersmann/ Junius Verlag Hamburg 2003 / ISBN 3-88506-382-4 (Es gibt inzwischen eine vollständig überarbeitete Fassung, 2010.)

Wenn man den Link (oben im Wort „Fortsetzung folgt“) anklickt und sich im Artikel der FAZ den irgendwie unpassenderweise angefügten Film ansieht, wird man entdecken, dass der Vorsitzende  des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“, so wie er über Geduld spricht, durchaus nicht entspannt  wirkt, sondern eher als unruhiger Geist, der einer gewissen Entspannung bedarf. Das könnte im Leben durchaus eine wichtige Rolle spielen, aber die Kunst dient nun einmal nicht vorrangig der Entspannung und nicht einmal der Gesundheit. Sie hat eher mit Erkenntnis zu tun.

Beethoven sehnte sich in der Zeit, als er die Hammerklaviersonate schrieb, nach einem Bauernhof und der Ruhe des Landlebens, – dazu gibt es eine Notiz -, aber das bedeutet nicht, dass sein Werk damit auch nur das geringste zu tun hat.

Man erlaube mir, mich zum Thema selbst zu zitieren: den Text zu Beethovens Opus 1 schrieb ich im Jahre 1987 (LP-Text, seit 1994 auf CD), damals schlugen die Wellen hoch, die Frage des richtigen musikalischen Tempos wurde durchdiskutiert und teilweise zu einer weltanschaulichen dramatisiert. (Die immer noch hörenswerten Aufnahmen des Abeggtrios sind bei TACET hier zu finden.)

Beethoven ZEIT TEXT: Jan Reichow (1987)

Siehe auch die Artikel Tastentiefe und Geläufigkeit-wozu.