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Eilige Bayreuth Notizen 2023

Parsifal Mediathek bis 23.08.2023 / auf BR bis 31.Dezember 2023

im Wohnzimmer: Doppelt verminderte Realität

Ich denke zurück an die Realität des Filmes über die Amzari-Sängerin

… an die ZEIT-Lektüre:

Auch Wagner hätte, angesichts des ungeheuerlichen Potentials von AR, VR (Virtual Reality) und KI (künstlicher Intelligenz), wohl keinen Parsifal geschrieben, der fünf Stunden lang um die Leerstelle des Weiblichen kreist und in dem Frauen nur als verdammte Verführerinnen oder notdürftig geläuterte Kräuterhexen vorkommen; kein Musikdrama, in dem es so pseudoliturgisch-kunstreligiös-buddhistisch-hinduistisch-alchemistisch wallt und wabert, dass man kaum den Plot mitkriegt: die Geschichte des Schwanentöters und Erlösers Parsifal, der durch Kundrys Kuss »welthellsichtig« wird und erkennt, dass es Amfortas, dem Gralskönig, und seinen siechen Rittern weniger an Energie gebricht oder an esoterischen Kraftquellen als an Menschlichkeit und Mitleid.

Christine Lemke-Matwey

Im Wohnzimmer (unter des Miniatur-Beethovens Aufsicht):

Am Schreibtisch mit Computer: Musik im Höreindruck viel besser („Reduced Reality“)

Wie wär’s mit Parsifal im Handy? Etwa als Bußübung.

Hier Mediathek Gesamtaufführung bis 23.08.23

BR Hier bis 31.12.23

Weiteres zur Aufführung hier zu Augmented Reality hier

Inhaltsangabe lesen: Inakzeptables von vornherein – „im Kampf gegen den abtrünnigen Ritter Klingsor, der trotz seines Verlangens nach Heiligkeit nicht fähig war, ein reines Leben zu führen und sich deshalb selbst entmannte und eine Zauberburg geschaffen hat, den heiligen Speer verloren, als er sich von der dämonischen Kundry verführen ließ.“

Zwischen den Akten 1. Pausengespräch mit Jay Scheib 2. mit Sängerin der Kundry Elina Garanca

Gralsritter: „Gemeinschaft der Kobaltminenarbeiter“ siehe Anfang 1.Pausengespräch  mit Jay Scheib

Kobaltbergbau

Stichwort: „Coltan“ Jean Ziegler

Milo Rau Ausbeutung hier

Zu Wagners Vorstellungen über „Kunstreligion“ im Zusammenhang mit „Parsifal“ siehe HIER

ZEIT-Lektüre:

Die eigentliche Hypothek der Aufführung aber liegt, man staune, in der erschwerten Zugänglichkeit der Musik. Die Sinne sind an diesem Abend schlicht überfordert. Und so schiebt sich das Auge vors Ohr. Das mag eine Frage der Übung und der Erfahrung sein. Aber geht so Immersion? Entspricht das Wagner?

Christine Lemke-Matwey

Quelle DIE ZEIT 27. Juli 2023 Seite 39: PARSIFAL / Mit Brille sieht man doppelt: In Bayreuth wird Richard Wagners letztes Werk jetzt digital erweitert – Revolution oder Budenzauber? Von Christine Lemke-Matwey

Den Wagnerverächtern ins Stammbuch – die gewaltigste Stelle des Werkes (s.o.): Mediathek ab 1:04:39 / BR ab 01:00:22

der meistzitierte Satz: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“.

Der größere Text-Zusammenhang und die Motiv-Tafel:

Quelle: Richard Wagners MUSIKDRAMEN Sämtliche komponierten Bühnendichtungen / durchgesehen, mit den ursprünglichen Fassungen verglichen, mit Einleitungen sowie den hauptsächlichsten Motiven und Notenbeispielen versehen, nebst einem Vorwort, einem Anhang und einer Zeittafel aus Wagners Leben herausgegeben von Edmund E.F. Kühn / Globus Verlag G.m.b.H., Berlin W 66 / 1914 / JR Berlin 7.7.1960

Man muss zum Verständnis eigentlich keine Esoterik bemühen, auch nicht in kühnem Vorgriff auf Einstein dessen Relativitätstheorie beschwören, sondern vielleicht dasselbe tun wie Wagner, der sich an die Philosophie hielt, schon seit 1854, als er auf dem Weg zum „Tristan“ Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ viermal hintereinander las. Wir lesen den hier wiedergegebenen Dramentext, auch das Kleingedruckte: wie die beiden Protagonisten zu schreiten scheinen (!), „verwandelt sich die Bühne von links nach rechts hin in unmerklicher Weise: es verschwindet der Wald; in Felsenwänden öffnet sich ein Tor, welches nun die beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gängen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen“ (!). Verwandlung auch in der Musik, Chromatik („Heilandsklage“), Modulation, Diatonik, das feierliche Schreiten, das Glockenläuten, schließlich folgt der Ritus, den man in der katholischen Kirche Wandlung nennt. Und wir suchen Ähnliches in dem faszinierenden Text, der uns die Grundbedingungen unseres Bewusstseins und unserer Begriffsbildung zu erschließen scheint (!):

Quelle Arthur Schopenhauer: Werke in zwei Bänden Bandt 1 Herausgegeben von Werner Brede

Es kann nicht schaden, damit noch lange fortzufahren. Dann Musik mit verwandelten Ohren zu hören. Oder zu warten, bis man den zerschmetterten Kobaltblock zu Parsifals Füßen erlebt hat, den grünen Tümpel, den sie durchwaten, und Wagners Ideen von Erlösung beiseitezuwischen. Bayreuther Publikum strömt heraus. Die trostlose Erde hat uns wieder!

Das Wort „Idealismus“ korrigieren

Ein altes Missverständnis

Ich rede nicht von dem Fehler, nur den Menschen einen Idealisten zu nennen, der nicht auf materiellen Gewinn schaut. Oder sagen wir so: wir erkennen sofort, wenn das Wort in diesem Sinne gebraucht wird und unterziehen uns nicht der Mühe, es alsbald „definitiv“ einzugrenzen; wir würden doch nur für Irritation sorgen. Man sieht den Tisch und nicht die Idee eines Tisches. Ich selbst fiel einmal aus allen Wolken, als ältere Mitschüler mir erklärten, in der Philosophie gebe es die Auffassung, dass die Realität, ja, diese Häuser dort und die Bäume im Hintergrund, in Wirklichkeit überhaupt nicht existieren. Niemand könne beweisen, dass die Welt da draußen nicht aus lauter Sinnestäuschungen besteht. „Hast du schon mal von Fata Morgana gehört?“ Ja, hatte ich, im Zusammenhang mit Kara ben Nemsi, Durch die Wüste. Alle nickten. Genau das! Aber ich kann doch zu dem Haus da hinlaufen und an der Tür klingeln, und die Bäume dahinter könnten morgen gefällt werden… „Geschenkt, geschenkt“, sagte der Wortführer. Eigentlich hatten wir vorwiegend anderes im Kopf. Es war die Zeit, als man im Lexikon nachschaute, ob mit dem verführerischen Wort „Aufklärung“ wirklich eine ganze Epoche benannt sei. Der Ältere schaltete auf Hochmut: Tja, das ist Philosophie. Kommt später, hat so noch keinen Zweck…

Das klingt nach Jugendbuch, aber ich habe es tatsächlich erlebt.

Dagegen steht nun ausgerechnet der große Kant: er weiß und bestätigt, dass wir nur mit unseren Sinnen, mit unserer Sinnlichkeit das wahrnehmen, was wir Realität nennen. Und Sinnlichkeit mag mehr sein als der bloße Reflex auf der Netzhaut, es gehören auf jeden Fall Empfindungen dazu. Zurück zu dem berühmten Tisch (es könnte auch ein Stuhl sein oder was Sie wollen):

Ich empfinde Farbe, Licht und Schatten. Ziehe ich alles, was zur Empfindung gehört, ab, so behalte ich: Ausdehnung und Gestalt oder das Räumliche. Dieser Raum ist anschaulich und doch nicht sinnlich, wie die Empfindungen (Empfindungen gehören zu einzelnen Sinnesorganen, der Raum nicht). Was ich hier als Tisch vor Augen habe, ist aber noch mehr als Sinnesempfindung und Raum. Es ist zunächst die Gegenständlichkeit überhaupt, dass der Tisch nur in einem Akt des Gegenüberstellens da ist, worin Empfindung und Raum für mich Moment des Gegenstandes werden. Ferner hat dieser Gegenstand z. B. den Charakter der Substanz (in der Kraft des Widerstands). Wir haben also dreierlei: das Material der Empfindung, die Anschauungsform des Raumes, die Kategorie der Substanz, und zwar nicht koordiniert, sondern als ein Ineinander, in dem das Spätere das Frühere umfasst. Mit solchen Erörterungen analysieren wir nicht den Tisch. Wir fragen vielmehr an ihm als Beispiel, was im realen Gegenstand überhaupt für die Erkenntnis liegt.

 Foto: Achim Ebenau (Commons Wiki)

Man kann sich niemals eine Vorstellung machen, dass kein Raum sei; wohl aber kann man sich alle Gegenstände daraus wegdenken. (…) Der Raum kann keine Eigenschaft der Dinge an sich sein, sondern nur der Dinge, sofern sie für das Subjekt da sind, d.h. sofern sie Erscheinungen sind. Abstrahierte man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung, so bliebe auch kein Raum.

(…)

Für die Zeit werden Erörterungen und Beweise von Kant übereinstimmend vorgebracht. Nur ein  Unterschied ist. Der Raum ist die Form der Anschauung aller äußeren Dinge, die Zeit die Form des inneren Sinns und damit aller Erscheinungen überhaupt. Dieser umfassenden Bedeutung der Zeit entspricht, dass sie selber nicht äußerlich anschaulich ist. Wir schauen die Zeit äußerlich an in räumlicher Gestalt, etwa in einer Linie, die wir ziehen.

Quelle der Zitate: Immanuel Kant (nach Karl Jaspers) Näheres am Ende des Beitrags

Die Zitate sind für mich bloße Erinnerungshilfen. Für Außenstehende vielleicht ohne Kommentar nicht voll aufschließbar. Aber ich gehe erstmal weiter, wieder an der Hand von Karl Jaspers, der erläutert, weshalb Kant nicht unbedingt „Idealist“ genannt werden kann, da er nämlich unzweideutig von der Realität der Außenwelt spricht. Und doch ist sie nicht in dem Sinne real, wie es Otto Normalverbraucher denkt. Ich markiere in seinem Text die Worte farbig, die mir besonders wichtig dünken:

Diese [oben angedeutete] Auffassung von Raum und Zeit als Anschauungsformen der Dinge für uns, nicht als Realitäten an sich, heißt Idealismus. Als solcher war der Gedanke vor Kant da. Durch diesen Gedanken wurde vor Kant die Welt als unwirklich gedacht oder doch die Frage nach der Realität der Außenwelt gestellt. Kant erklärt solche Frage für einen „Skandal der Philosophie“. Er sagt: die Welt ist Erscheinung, nicht Schein. Das heißt: Raum und Zeit haben Realität, objektive Gültigkeit für alles, was uns äußerlich als Gegenstand und innerlich als Erfahrung unserer Subjektivität vorkommen kann; sie haben Idealität, weil alles, was uns vorkommt, nicht Dinge an sich sind. Kant drückt seinen Gedanken daher kurz so aus: Raum und Zeit haben empirische Realität, aber transzendente Idealität. Dinge an sich können uns niemals vorkommen. [Seite 202]

Sinnesmaterial und Raum und Zeit waren das eine Moment unserer Erkenntnis, das andere das Denken. Gegen über allem früheren Philosophieren und seinem eigenem, noch 1770 mit diesem übereinstimmenden Standpunkt hat Kant die Einsicht gewonnen: Nicht nur Raum und Zeit, auch alle Formen unseres Denkens lassen uns die Dinge nur erkennen, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie an sich sind. Warum?

Wie wir durch die subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit erst eine geordnete Sinnlichkeit gewinnen, so haben wir durch die ursprünglichen Denkformen, die Kategorien, die erfahrbaren Dinge ihrer Form nach hervorgebracht. Wie wir alles, was für uns ist, gleichsam auffangen in Raum und Zeit, so auch in die Denkformen.

Was wir so auffangen, hat Realität als Erscheinung, aber ist nicht Wirklichkeit an sich.

Alles, was gedacht ist, ist als gedacht der Form nach auch von uns hervorgebracht. […]

Ich möchte zwei Stichworte rückwärts ausbauen, die in der Lektüre auch zurückliegen und mehrfach wieder aufgegriffen wurden: die geordnete Sinnlichkeit (die ungeordnete erscheint bei Jaspers oft unter dem Wort »das Gewühl«), und die Voraussetzung dieser ganzen Denkanstrengung: die Erfahrung der Subjekt-Objekt-Spaltung.

Um es nun kurzzufassen, mit eigenen Worten, die später durch Zitate ergänzt (korrigiert) werden könnten, – es geht darum, folgendes zu begreifen: 1 das Gewühl und 2 die Aufspaltung. Das erstere ist der ungeordnete Ansturm der Sinneseindrücke, das zweite ist deren „vollautomatische“ Filterung; sie bewirkt, das wir überhaupt etwas herausgreifen, wahrnehmen. Ein Etwas, ein „Gegenüber“, ein Gesicht, eine Landschaft, ein Stuhl im Raum. Ich stelle mir den Ansturm (als Hilfe) pointillistisch vor, Van Gogh Farben  auf einer Leinwand, und am Ende den Entschluss , ein Selbstporträt herauszulösen, einen Stuhl, eine Brücke. Natürlich ist das naiv, ja, bewusst naiv. Und dann stelle ich fest, dass das Ding, das sich in mir – dem Subjekt – gebildet hat und nach außen projiziert wurde, ein „Gegend-Stand“ geworden ist, ein Objekt. Dass ich alles so sehe, auch das was in mir ist, nämlich von mir in die Subjekt-Objekt-Spaltung gezwungen wird, und dass ich keinen Grund habe, es für wahr zu halten, für das eigentliche Ding, wie es ist, das „Ding an sich“. (Ganz oben ein Stuhl in Van Goghs Zimmer in Arles, unten sein gemalter Stuhl.)

Es ist die Situation, über die der Dichter Kleist angeblich in Verzweiflung geraten ist, seine „Kant-Krise“, wahrscheinlich ein Missverständnis (siehe hier). Denn genau das war die Situation vor Kant, während dieser alles auslotete, was möglicherweise geeignet sein konnte, darüber hinaus (dahinter) zu führen. Diese Sperre zu überschreiten, zu transzendieren.

Die nächste Stufe wären die „Kategorien“ , oder die Methoden zur Erhellung des Ursprungs im Ungegenständlichen. „Darum ist dieses Kantische Denken von solcher Schwierigkeit. Es verschafft keine gegenständliche Einsicht.“ (Jaspers)

Die alte dogmatische Metaphysik transzendierte denkend im Gegenständlichen zu einem übersinnlichen Gegenstand des Seins an sich oder Gottes. Kant transzendiert über das gegenständliche Denken gleichsam rückwärts zur Bedingung aller Gegenständlichkeit. An die Stelle der metaphysischen Erkenntnis einer anderen Welt tritt die Ursprungserkenntnis unseres Erkennens. Das erste Mal geht der [vermeintlich gangbare! JR] Weg in den Ursprung aller Dinge, das andere Mal in den Ursprung der Subjekt-Objekt-Spaltung der Erscheinung. Der Abschluss ist nicht ein gewusster Gegenstand (wie in der alten Metaphysik), sondern ein Grenzbewusstsein unseres wissenden Daseins. [a.a.O. Seite 221]

Trotzdem gilt, was wir schon von Kant gehört haben. Er sagt: die Welt ist Erscheinung, nicht Schein.

Und damit habe ich endlich die naseweisen älteren Mitschüler vor mehr als 60 Jahren hinter ihren jugendbedingten oder altersgemäßen Schranken erkannt. Mit meinen Zweifeln beschäftige ich mich immer noch. Das begann damals vorm Landschulheim in Langeoog. Fotos existieren noch. Schein-Fotos.

Quelle der Zitate:

Karl Jaspers: Plato Augustin Kant – Drei Gründer des Philosophierens – R.Piper & Co Verlag München 1957 (Erworben 6.XII.61)

Nachtrag 5.1.2022 Das Thema bleibt virulent

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