Schlagwort-Archive: Witz

Vom Lachen

Eine glücklicherweise nicht zu kurze Philosophie des Humors

Ich habe mich schon oft mit Komik beschäftigt: wie entsteht sie, wozu brauchen wir sie, warum verstehen manche Leute keinen Spaß, haben Mühe, über einen Witz zu lachen, erkennen keine Doppeldeutigkeit? Worauf beruht die erlösende oder beleidigende Wirkung der Pointe? Was ist heute anders als früher? Bei Yves Bossart wird uns manches klarer. Ich zitiere:

Wir haben gesehen, wie wichtig der jeweilige Kontext für die Beurteilung von Komik und Satire ist. Dieser Kontext wird nun aber durch die Digitalisierung zunehmend aufgelöst. Mithilfe des Internets und der Sozialen Medien kann ein blöder Spruch, eine Anspielung oder ein Witz ohne Weiteres aus dem ursprünglichen Kontext gerissen und in Sekundenschnelle über den ganzen Erdball transportiert werden. Die Pointen hängen damit im leeren Raum und laufen Gefahr, falsch oder feindselig interpretiert zu werden. Hinzu kommt eine verstärkte Polarisierung durch die vielzitierten Filterblasen, also durch die Tatsache, dass uns Soziale Netzwerke gern mit Information und Desinformation versorgen, die in unser Weltbild passen. Dadurch verlieren wir zunehmend die Toleranz für andere Weltsichten ebenso wie für Zwischentöne und neigen immer mehr zu einem empörungsgetriebenen Freund-Feind-Denken.

Hinzu kommt ein Phänomen, das man gerne als »Tocqueville-Paradox« bezeichnet. Der französische Publizist Alexis de Tocqueville machte Mittte des 19. Jahrhunderts die Feststellung: Ja geringer die gesellschaftlichen Missstände, desto höher ist die Empörung über die verbleibenden Missstände. Ähnliches beobachten wir heute. Es ist kaum zu leugnen, dass wir sensibler geworden sind gegenüber Ungleichbehandlungen in Alltag und Sprache. Begriffe und Phänomene wie »Political Correctness«, »Safe Space«, »Triggerwarnung«, »Mikroagression« und »Wokeness« sind auch hierzulande angekommen. Wir sind wacher geworden, was Diskriminierungen aller Art betrifft, nicht nur handfeste Ungleichbehandlungen wie etwa die Lohnungleichheit zwischen Mann unf Frau, sondern auch subtilere Formen der Abwertung. Man denke etwa an die Phänomene »Mansplaining« oder »Manspreading« – also daran, dass Männer gerne mehr Platz einnehmen als Frauen, sowohl beim Reden als auch beim Sitzen. Oder an die vielen Debatten über gendergerechte Sprache. Die entscheidende Frage lautet meines Erachtens: Wann kippt der wichtige und verdienstvolle Kampf gegen Diskriminierung in ein Gerangel um bloße Empfindlichkeiten?

Mit Blick auf die Komik stellt sich also die Frage: Wer bestimmt eigentlich, was noch geht und was bereits zu weit geht? Ist ein Witz bereits dann moralisch schlecht, wenn es einzelne Personen gibt, die sich davon verletzt, beleidigt oder herabgewürdigt sehen?

Quelle: Yves Bossart a.a.O. Seite 83 f – s.a. hier

Es geht nicht immer lustig zu, in diesem  Buch über das Trotzdemlachen, zum Glück. Es ist ja nebenbei eine kleine Philosophie des Humors, und jede Zeile ist ein Lesevergnügen.

Für mich ein Anlass, den bisherigen Stand der Komik im Blog zu sichten, bierernst, fürchte ich:

Lachen mit Schopenhauer?

Kein Witz für Kinder (warum?)

Wie war denn Ciceros Witz?

Witze verstehen

Künstliche Intelligenz – entspannen Sie sich

Sonderbeitrag Satire

Humor und Virus

Humor und Tragik

Der Effekt des Zeitunglesens

Nicht lachen wollen

Scherzverwandtschaft

Lachen – worüber?

Osterlachen – mit Vorsatz

Comedians

Zu guter Letzt wenden wir uns noch einmal an den Schweizer Autor Yves Bossart, mit dessen Buch der heutige Blog-Artikel begann. Er hat einmal in einer der „SFR Kultur Sternstunden“ in aller Kürze erläutert, was es mit dem Humor auf sich hat:

Koinzidenz ZEIT 7.6.2023 Seite 46 Ein Gespräch mit der Philosophin Rosi Braidotti: »Ich halte das westliche Denken für überholt« Zitat:

Nicht lachen wollen

Und doch müssen.

ZITAT

(…) Man muss vielleicht daran erinnern, wofür der Karneval unter anderem da ist: Er erteilt die befristete Lizenz, die Fassung zu verlieren. Auch muss man sich klarmachen, dass sich die meisten Witze gegen irgendjemanden richten und oft gegen Minderheiten: gegen Manta-Fahrer, Blondinen, Polen, Schwule, Priester, Schotten und so fort. Manche dieser Witze sind verschwunden, weil sie veraltet sind oder erschöpft.

In seiner Abhandlung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) unterscheidet Sigmund Freud zwischen „harmlosen“ und „tendenziösen“ Witzen. „Der tendenziöse Witz braucht im allgemeinen drei Personen, außer der, die den Witz macht, eine zweite, die zum Objekt der (…) Aggression genommen wird, und eine dritte, an der sich die Absicht des Witzes, Lust zu erzeugen, erfüllt.“ Warum aber kann ein Witz Lust erzeugen? Freud begründet das mit der „ursprünglichen Natur des Witzes, sich einer hemmenden und einschränkenden Macht entgegenzustellen“.

Aber gibt es diese Mächte überhaupt noch? Kann heutzutage nicht nahezu alles gesagt und geschrieben werden? In gewisser Hinsicht schon. An die Stelle der staatlichen Bevormundung jedoch ist die gesellschaftliche getreten. Je mehr personale Identitäten mit dem Ziel der Anerkennung betont werden, um so mehr wachsen die hemmenden Mächte im Sinne Freuds.

Ja, das ist ein heikles Gelände. Mark Twain hat einmal gesagt, im Himmel werde nicht gelacht. Das könnte stimmen. Denn der Lachende fühlt sich nicht selten zurückgesetzt, gehindert, eingeschränkt. Indem er lacht, befreit er sich von wirklichen oder eingebildeten Fesseln. Im Himmel hätte er das nicht nötig. Aber da wir (jedenfalls die meisten von uns) keine Engel sind, ist das Lachen eine relativ unschädliche Form, sich schadlos zu halten. So hat der Witz auch die Funktion eines Ventils. Mächtige haben es nicht nötig, Witze zu machen. Zuweilen gestatten sie sich grausame oder zynische, wobei die Pointe lediglich darin besteht, dass die Zuhörer, wenn ihnen das Leben lieb ist, lachen müssen. (…)

Quelle DIE ZEIT 20. Februar 2020 Seite 12 Auf sie mit Gelächter Ein Witz, der allen gefällt, ist keiner. Ein ernstes Wörtchen zum Karneval. Von Ulrich Greiner.

Dies ist nur ein kleiner Teil des Artikels, den man notfalls auch online lesen kann, sofern man gewillt ist, die Verzögerungsschranke zu überwinden. Man muss vielleicht noch erwähnen, dass über dem Artikel ein Foto wiedergegeben ist, das „Rassisten in der Fankurve“ zeigt, untertitelt: „Nach seinem Siegtor in der 60. Minute hat er genug. Fans beleidigen ihn, machen Affengeräusche und werfen Sitzschalen aufs Spielfeld. Moussa Marega, FC-Porto-Profi und malischer Fußballnationalspieler, verlässt das Spielfeld – und zeigt seine Meinung.“ (Mit beiden hochgereckten Mittelfingern.)

Also: die pöbelnde Menge gegen einen (schwarzen) Einzelnen, der allerdings ein Star ist und darüberhinaus den Fehler gemacht hat, das Siegtor für den Gegner geschossen zu haben. Die Skala der Beleidigungen kennt wenig Abstufungen, auch gegenüber eigenen Spielern, von „Lahm-Arsch“ bis „Du Zigeuner“ (habe ich selbst in der BayArena Leverkusen miterlebt), und die Hautfarbe ist für Dummköpfe natürlich am leichtesten fassbar, Auslöser primitivster Affekte, die man als eigenes Kraftpotential missdeutet. In der Grundschule spielten wir auf dem Schulhof in der Pause: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? – Wenn er aber kohommt? – Laufen wir!“ Merkwürdigkeit: Damals hielt ich auch alle Katholiken irgendwie für schwarz. Zumindest dunkelhaarig.

Kleine Erinnerung aus dem Berufsleben: Ein belgischer Kollege versuchte mich vor vielen Jahren zu erheitern, indem er abfällig über die Holländer sprach, da ich dem leicht erregbaren Flamen, der sich gern von den Wallonen distanzierte, eine (aus meiner Sicht) „normale Sympathie“ für das Nachbarland unterstellt hatte. Weit gefehlt. Er reagierte mit Beispielen von Holländerwitzen, von denen ich nur den harmlosesten behalten habe: sie seien übers Meer geschwommene Schotten (geschwommen natürlich aus Kostengründen).

Zum Hintergrund dieser Witze gehört jedoch die Tatsache der niederländischen Belgierwitze. Zweifellos allesamt Beispiele der „tendenziösen“ Witzkategorie Freuds, die den negativ markierbaren Anderen braucht. Auch wenn da viel Ähnlichkeit ist. Übrigens gehören auch alle Witze über das andere (oder das noch anders andere) Geschlecht dazu, ja auch über das eigene, denn die Selbstironie kann eine trickreich fabrizierte sein.

Noch trickreicher ist es, sich das Lachen zu verbieten, weil die Zeiten zu ernst sind. Oder nur über Kinder und kleine Tiere … zu schmunzeln. Warum wird bei dem Gedächtnis-Essen nach der Beerdigung unweigerlich gelacht? Spannungsabbau, sagt man. Oder: wir leben noch.

Leicht vorstellbar sind allerdings Situationen, wo es keinen Trost gibt. Und auch kein Lachen, keinen Spannungsabbau. Galgenhumor hilft nur, wenn es um einen selbst geht, nicht um nahestehende, liebe Menschen.

Scherzverwandtschaft

Worüber lacht man im Senegal und warum?

Nachdem ich einmal angefangen habe zu beobachten, inwiefern die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen stimmen müssen, damit Witze funktionieren (siehe über Ciceros Witz hier), muss ich auch diesen schönen Artikel der aktuellen ZEIT (31. August 2017 Seite 7) aktenkundig machen, der glücklicherweise zugleich schon im Internet abrufbar ist. Es begann damit, dass ich nicht lachen konnte, obwohl es eindeutig als Scherz gemeint oder angekündigt war, dieser Einstieg in den Artikel. Gewiss, – ein Scherz ist nicht dasselbe wie ein Witz, trotzdem:

Scherze kennen kein Tabu im Senegal. „Pass auf, morgen schlachte ich dir ein Schwein! Das koche ich dir, das isst du, und du wirst Christin“, sagt der Christ zur Muslimin. „Dein Schwein kannst du selber essen“, schießt die Muslima zurück.

„Ihr wart die Sklaven, wir waren die Könige“, sagt ein Mann aus der Diola-Ethnie zu einem Serer. „Ach was, versklavt wurdet doch ihr!“

Man bespöttelt die angeblich mangelnde Intelligenz des anderen oder sein unvorteilhaftes Aussehen, lacht über religiöse und ethnische Klischees. Jeder im Senegal verspottet irgendeinen anderen. Eigentlich müssten die Menschen hier einander die Köpfe einschlagen. Genau das tun sie aber nicht.

„Eigentlich“? Das Phänomen ist bekannt: mal wirkt es wie eine Neckerei, mal wie eine höhnische Provokation. Die unreflektierte, von Kind an vorgeprägte Einordnung der Äußerungen ist entscheidend. Jeder von uns hat schon mal bemerkt, dass man wissen muss, wie ein Scherz gemeint ist, was dabei mitgedacht wird. Nicht jeder kann jeden Witz erzählen, – der eine wirkt dabei wie ein böser Zyniker, der andere wie ein erwachsener Lausbube (dem man „nichts übelnehmen“ kann). Der Knalleffekt, der zu einem Witz zu gehören scheint, kann ausbleiben. Stattdessen peinliche Stille…

Hätte mein Bruder den Witz erzählt, hätte ich ihn vielleicht nicht auflaufen lassen, aber wenn mein ungeliebter Vorgesetzter ihn eingeflochten hätte, – was wäre wohl meine Reaktion gewesen? Es kommt auf die Konventionen an. Auch auf die Konvention, sich an Konventionen anzupassen oder ihnen, wo immer man sie vermutet, wenigstens zögerlich (prüfend) zu begegnen. Etwa mit der vorsichtigen Distanzierung: … ist mir leider schon bekannt, oder mit der strengen Frage: soll das ein Witz sein? – Der Bruder stand in diesem Beispiel für „Scherzverwandtschaft“: ich weiß intuitiv, ob er es flapsig oder zielbewusst verletzend gemeint hat. Und er weiß, dass ich es weiß. Aber den Fachbegriff gibt es wirklich!  Frz. cousinage à plaisanterie – das Wort (auch paranté plaisantante) kann man googeln:

Outre les groupes ethniques, cette relation peut aussi s’exercer entre clans familiaux, par exemple entre les familles Diarra et Traoré, ou Ndiaye et Diop. Ainsi, un membre de la famille Ndiaye peut-il croiser un Diop en le traitant de voleur ou de mangeur d’arachide sans que personne ne soit choqué, alors que parfois les deux individus ne se connaissent même pas. Il n’est d’ailleurs pas permis de se vexer. Cette impolitesse rituelle donne lieu à des scènes très pittoresques, où les gens rivalisent d’inventivité pour trouver des insultes originales et comiques.

Siehe französische Wikipedia HIER.

Auch die im ZEIT-Artikel gegebenen Beispiele (oder ähnliche) findet man wieder, z.B. hier.

« Il y a toujours un problème de possession en tous cas ! Chacun veut que l’autre soit esclave ! ».

Bref chacun est l’esclave de l’autre, ce qui concilie le sentiment de supériorité et la réciprocité. La hiérarchie proclamée par l’autre groupe est simplement inversée. L’individu ou le groupe ethnique peut toujours se considérer comme le noyau central, l’ego-centre ou l’ethno-centre autour duquel l’autre ne fait que « tourner » : chacun est au centre de son propre point de vue, alors que, par définition, personne ne l’est.

De fait, le cousinage de plaisanterie semble créer un sentiment de « communauté », paradoxalement basé sur la reconnaissance de la différence.

Quelle 

Im ZEIT-Artikel wird eine historische Herleitung gegeben, die an die mittelalterliche Funktion des Hofnarren in Europa denken lässt:

Besuch bei Raphaël Ndiaye, Ethnolinguist, Philosoph und Direktor des Léopold-Senghor-Kulturinstituts in Dakar. Die Scherzverwandtschaft, sagt Ndiaye, gehe auf Soundiata Keïta zurück, den Gründer des legendären Mali-Reiches.

Im Jahr 1235 bestellte dieser anlässlich der Verabschiedung der Reichsverfassung seine Clanchefs ein und beschwor sie, von jetzt an friedlich zusammenzuleben. Vor den versammelten Honoratioren befahl er dem Griot, seinem Hofsänger, ihn zu beleidigen. Der Griot wagte es nicht, alle Anwesenden glaubten, der König wolle seinen Kopf. Keïta aber sagte: „Was kann es meiner Würde anhaben, wenn mich dieser Griot beleidigt, der doch wie ein Verwandter für mich ist?“ Und er forderte seine Gefolgsleute auf, sich als Verwandte zu begreifen, die einander necken, ja sogar beleidigen dürften, ohne dass das zu Streit oder Krieg führe.

„Auch wenn sie die Form des Humors annimmt, hat die Scherzverwandtschaft doch einen ernsten Kern“, sagt Ndiaye. Sie sollte schon damals Schutz bieten vor Krieg, Familienfehde oder gegenseitiger Versklavung. „Wann immer Familien oder Ethnien Frieden miteinander schlossen, erklärten sie sich zu Scherzverwandten“, sagt Ndiaye. „Und das bedeutete: Es soll nie Krieg geben zwischen unseren Nachfahren.“

Quelle DIE ZEIT 31. August 2017 Seite 7 Angela Köckritz: Witz oder Krieg Der Senegal ist stabiler als seine Nachbarländer. Das hat mit einer besonderen Form des Islams und mit Humor zu tun. / Online HIER

Im Wikipedia-Artikel siehe Stichwort „Hofnarr“ HIER unter 3 Hofnarren in Mittelalter und Neuzeit und 4 Narren außerhalb Europas.

Aber wohlgemerkt: der Griot in Westafrika ist alles andere als ein Hofnarr… siehe (außer in Wikipedia) auch beim GOETHE-Institut hier.