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Architektur von rechts?

Das Editorial der Zeitschrift Arch+

Die Geschichte gegen den Strich bürsten

von Ngo, Anh-Linh

[Abdruck im Blog JR mit freundlicher Erlaubnis des Verlags]

Wer einmal auf dem windumtosten Vorplatz des Gemeindefriedhofs von Portbou an der französisch-spanischen Grenze gestanden hat, um das Denkmal für Walter Benjamin zu besuchen, den verlässt das Bild und das Gefühl der Ausweglosigkeit nicht mehr. Ein scharfkantiger dreieckiger Stahlkörper ragt vor dem Hintergrund der weißgetünchten Friedhofsmauer dunkel in den Himmel. Er markiert den Eingang in die „Passagen“, einen engen, in den Felsen eingeschnittenen Schacht, der über 70 Stufen steil hinab zum Wasser führt. Man läuft in einem Tunnel dem Licht entgegen, der sich im letzten Drittel zum freien Himmel und hinab auf das unendliche Blau des Mittelmeeres öffnet. Der hypno­tisierende Blick in die Tiefe betört, nur eine Glasscheibe verhindert den Abstieg über die letzten Stufen, die gefährlich über die Felsküste hinaus­ragen. Die Weite des Meeres und des Himmels steht hier jedoch nicht für ein noch einzulösendes Freiheitsversprechen, sondern für die Unrettbarkeit und Einsamkeit des Individuums angesichts einer in Barbarei versinkenden Welt. Die begehbare Skulptur des israelischen Künstlers Dani Karavan schafft ein würdiges Gedenken an einen der größten Kulturtheoretiker des 20. Jahrhunderts, der 1940 in diesem gottverlassenen Grenzort auf der Flucht vor den Nazis keinen Ausweg mehr sah und sich das Leben nahm. Seinen Leichnam hat man mehrmals umgebettet und später in einem anonymen Massengrab beigesetzt. Das Denkmal, das wegen populistischer Kampagnen einiger deutscher Boulevardmedien wie der Bild-Zeitung beinahe gescheitert wäre, wurde erst 1994 fertiggestellt.

Szenenwechsel. Genau zehn Jahre zuvor, 1984, gewann Hans Kollhoff den Wettbewerb für die Neubebauung und Gestaltung des neu angelegten Walter-Benjamin-Platzes in Berlin-Charlottenburg. Aufgrund von Anwohnerprotesten und rechtlichen Streitigkeiten zwischen Bezirk und Senat verzögerte sich die Finalisierung des Baus bis ins Jahr 2000. Über die architekturhistorischen Bezüge des Entwurfs, die ­Verena Hartbaum in ihrem Essay in dieser Ausgabe auf eine gewisse Wahlverwandtschaft mit Marcello Piacentini – Mussolinis „Hof­architekten“ – zurückführt, mag man streiten. Unstrittig ist jedoch, dass hier eine Wende stattgefunden hat, die den berüchtigten Versuch Léon Kriers vorwegnimmt, Albert Speer mit seinem 1985 herausgegebenen, monografischen Prachtband als Architekten zu rehabilitieren, den er gar für einen der größten des 20. Jahrhunderts hält. Der ideologische Abgrund, der sich hier öffnet, lässt sich an Details ablesen, die in ihrer schreienden Subtilität entweder auf Gedankenlosigkeit oder Niedertracht zurückgeführt werden müssen. Zum einen ist da das in den Boden des Platzes eingravierte Zitat des faschistischen Autors Ezra Pound, das zunächst nicht anstößig klingt, wenn da nicht der Anti­semitismus des als Antisemiten bekannten Pound deutlich zutage träte: „Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein. Die Quadern wohlbehauen, fugenrecht, dass die Stirnfläche sich zum Muster gliedert.“ Man muss kein literaturwissenschaftliches Studium absolviert haben, um auf die Spur Pounds zu kommen, der für seine antisemitische Propaganda berüchtigt war und mit dem Codewort „Usura“, Italienisch für Wucher, „die Juden“ für die Herrschaft des bestehenden Zinssystems verantwortlich machte.

Was treibt einen Architekten dazu, bei der Gestaltung eines Platzes mitten in Berlin eine solche Konnotation anklingen zu lassen und buchstäblich in Stein zu meißeln? Dass dieser Platz im Laufe des Planungsprozesses auch noch einem jüdischen Intellektuellen gewidmet wird, welcher auf der Flucht vor den Nazis in einer ausweglosen Situation Selbstmord beging, macht das Zitat noch perfider – Kollhoff findet diese nachträgliche Gegenüberstellung sogar spannend, wie Hartbaum berichtet. Ein weiteres Detail macht stutzig: Auf dem Boden der Leibnizkolonnaden, die den Platz umgeben, ist ein Fliesenmuster verlegt, das in seiner Farbgebung in Richtung schwarz-rot-gold ­changiert, worauf Markus Miessen mit einer diese Ausgabe ankündigenden Plakataktion hinweist. Mit der bewussten Einschreibung des Pound-Zitats und der gestalterisch nationalkonservativen Aufladung des Platzes scheint der Architekt das Schicksal Benjamins geradezu verhöhnen zu wollen. Zwischen dem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung Anfang 2000, den Platz nach langen Debatten nach Walter Benjamin zu benennen und der Eröffnung der Anlage im Mai 2001 hätte man Gelegenheit gehabt, darauf zu reagieren. Es hätten sich in dessen an Aphorismen reichem Werk sicherlich genügend Zitate finden lassen, die ihm in seiner Heimatstadt das letzte Wort hätte geben können. Vielleicht auch diesen Satz, den er kurz vor seinem Tod in den „Geschichtsphilosophischen ­Thesen“ prophetisch niederschrieb: „[A]uch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“01 In der Tat erhebt dieser Feind heute in ganz Europa wieder sein Haupt und will in einem Akt der historischen Einfühlung die Geschichte neu schreiben und revidieren. Nicht anders ist der grassierende rekonstruktivistische Taumel zu erklären, der die sogenannte Mitte der Gesellschaft erreicht hat. Benjamin liefert in seinen Thesen einen möglichen Erklärungsansatz für diese Entwicklung:

„Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung.“02

Besser kann man das historisierende Verfahren, dessen sich die Rekonstruktivist­*innen aller Couleur bedienen, nicht charakterisieren. Ob in Berlin, Dresden oder Frankfurt, ob in Ungarn, Polen oder in der Türkei, in allen Fällen steht das, wovon sich Benjamin mit Verweis auf den Historiker de Coulanges distanzieren will, im Mittelpunkt: Es geht bei diesem Verfahren der Einfühlung darum, den Verlauf der Geschichte vergessen zu machen. Daher der bewusste Bezug zu einer vermeintlich heileren Zeit. Daher die Anrufung von Bildern, die alles, was danach folgte, aus dem Gedächtnis tilgen sollen. Es geht hier, trotz aller Beteuerungen, nie um das echte historische Bild, das Benjamin zufolge nur flüchtig aufblitzen könne. Vielmehr will man Schluss machen mit dem angeblichen „Schuldkult“, den Rechte wie Björn Höcke beklagen. Das Motiv wird noch klarer, wenn man mit Benjamin fragt: Worin fühlen sich all jene heute eigentlich ein, die eine Art Geschichtsrevision mittels einer historisierenden und rekonstruktiven Architektur propagieren? „Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. […] Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.“03

Nicht von ungefähr heißt es heute immer dann Baukultur oder noch hochtrabender Stadtbaukunst, wenn man den ideologischen Sieg davontragen will. Doch eine reine Kultur, an die man schuldlos anknüpfen könnte, gibt es nicht, wie Benjamin an derselben Stelle klarmacht: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“04 Diese Dialektik der Geschichte wollen die Rekonstruktionsbefürworter*innen nicht wahrhaben.

Wie das Beispiel von Hans Kollhoffs Walter-Benjamin-Platz zeigt, scheint die Architektur seismografisch Entwicklungen vorwegzunehmen, die wir gemeinhin mit dem Erstarken der Neuen Rechten in den letzten Jahren in Verbindung bringen, die jedoch so neu nicht ist, wie Stephan Trüby, der das Projekt „Rechte Räume“ initiiert hat, in seinem Grundlagenbeitrag ­herausarbeitet. Die architekturpolitische Ideologisierung mit der national­konservativen Wende der sogenannten ­Berlinischen Architektur, auf die ARCH+bereits 1994 (also in dem Jahr, in dem das Benjamin-Denkmal in Portbou eingeweiht wurde) mit dem Heft Von Berlin nach Neuteutonia aufmerksam gemacht hat, geht der neurechten Entwicklung in der Gesellschaft Jahrzehnte voraus. Neu ist an der Neuen Rechten allenfalls die strategische und qualitative Veränderung, die den Rechtsextremismus normalisiert. Neu ist vor allem, dass sie ihre alten Rassismen, ihr altes Überlegenheitsgefühl, ihren alten Patriarchalismus, ihren alten Antisemitismus mit pseudo-fortschrittlichen Argumenten verbrämt: Ihre angebliche Sorge um die liberalen Werte des Abendlandes verbrämt die Islamfeindlichkeit, ihr angeblicher Schutz der Natur verbrämt das völkische Denken, ihre angebliche Verteidigung der natürlichen Geschlechterordnung verbrämt die tiefsitzende Misogynie und Homophobie. Sie ist sich nicht zu blöde, sich mit rassistischen Wahlplakaten als Beschützerin von Frauen und Homo­sexuellen auszugeben. Indem sie sich betont abendländisch tolerant und kulturbeflissen gibt, will sie die vermeintliche Unverträglichkeit anderer Kulturen, vorzugsweise des Islam, mit der europäischen Kultur und ihren Freiheitsidealen unterstreichen. Die Perfidie des autoritären Toleranzgebots der Neuen Rechten lautet: Ihr dürft gerne anders sein. Nur nicht bei uns. Der identitäre „Ethno­pluralismus“ ist eine feinere Art zu sagen: Haut ab! Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid!

In ihrem Triumphzug führt die Neue Rechte als Beute die Baukultur als identitätspolitisches Programm mit. Damit dringt sie tief in die bürgerliche Mitte ein, schließlich ist niemand gleich rechts, nur weil er oder sie Rekonstruktionen schön findet. Deswegen war auch unser Aufruf zu einem Rekonstruktions-Watch im Sinne einer ideologischen Wachsamkeit gegenüber dem politischen Subtext solcher Projekte auf heftige Kritik gestoßen von Leuten, die sich nicht dem rechten Milieu zuordnen. Doch damit gehen sie den Rattenfängern auch schon auf dem Leim, die mit Begriffen wie „Schönheit“ und „europäische Stadt“ wirkungsvolle Nebelkerzen zünden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das nebulöse Label der europäischen Stadt von Anfang an anschlussfähig für das identitäre Programm der Neuen Rechten war. Es ist kein geringerer als Claus Wolfschlag, jener in stramm rechten Kreisen publizierende Mitinitiator der Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt, der, wie Trüby dies in seiner Recherche dargelegt hat, die Notwendigkeit unterstreicht, das Feld der Architektur für die Rechte zu vereinnahmen: „[W]er von Volk oder Heimat reden will, kann von der Architektur (in und mit welcher das Volk ja schließlich lebt) wohl nicht schweigen.“05 Diesen Zusammenhang leugnen alle, die die Frankfurter Rekonstruktion entweder politisch oder stilistisch, aus Opportunismus oder aus „Trägheit des Herzens“ (Benjamin) gar nicht so schlimm finden. Dass es mit Volk und Heimat nicht so weit her ist, wird deutlich, wenn man die Ökonomie dahinter betrachtet, wie dies Philipp Oswalt getan hat. Hier wurden mit hunderten von Millionen öffentlicher Gelder hochsubventionierte Räume für betuchte Bürger­*innen geschaffen. Hier wurde mit der immobilienwirtschaftlichen Logik der Knappheit gehandelt.06 Dies zeigt die soeben veröffentlichte „Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht“, hinter der Christoph Mäcklers sogenanntes „Deutsches Institut für Stadtbaukunst“ steht. Dieser Hort der reaktionärsten Kräfte des deutschen Architektur- und Stadtdiskurses propagiert mit viel Tamtam die Abschaffung der Dichte­obergrenzen im § 17 der Baunutzungsverordnung. Die Immobilienwirtschaft hat ganze Lobbyarbeit geleistet und lacht sich nun ins Fäustchen. Deren unheilige Allianz mit der Architektenschaft macht sich für beide Seiten bezahlt. Die ökonomischen und sozialen Bedingungen, unter denen die heutige Stadt gebaut wird, werden geflissentlich ausgeblendet. Wer sich diese Stadt leisten kann und was für eine Gesellschaft das ist, die darin lebt, wird verschwiegen. In letzter Konsequenz wird hier zu Gunsten der Baufreiheit das Ideal der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aufgegeben. Beschämend, dass sich neben den üblichen Verdächtigen ein Großteil der Planungspolitik der Bundes­republik für einen solchen Unfug hergibt.

Und dass es auch mit der Ehrfurcht vor der Geschichte der europäischen Stadt nicht so weit her ist, zeigt die Fotoarbeit des Künstlers Daniel Poller in dieser Ausgabe. Er fotografierte jene Spolien, die Trophäen gleich in die Gebäude eingesetzt wurden, um die Historizität des Gebauten zu suggerieren. Die Arbeit macht den Verlust aller bauhistorischen, konstruktiven und gesellschaftlichen Bezüge der überkommenen Fragmente historischer Gebäude deutlich. Die Rekon­struktion wird als traditionslos entlarvt.

Was tun? Die Aufgabe ist es, um Benjamin das letzte Wort zu geben, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“07

Das ist das Ziel dieser Ausgabe.

ARCH+ Team: Nora Dünser, Alexandra Nehmer, Frederick Coulomb, Mirko Gatti, Dorothee Hahn, Max Kaldenhoff, Melissa Koch, Jann Wiegand

Ich danke der Gastredaktion um Stephan Trüby und dem Team des IGmA der Universität Stuttgart, insbesondere Philipp Krüpe und Matteo Trentini, für den Mut und langen Atem bei der gemeinsamen Bearbeitung dieses wichtigen Themas. Markus Miessen danke ich für die Plakataktion, die auf den Skandal der Gestaltung des Walter-Benjamin-Platzes aufmerksam macht. Ein besonderer Dank geht an die Bundeszentrale für politische Bildung, die die Veranstaltung des ARCH+ Vereins und des IGmA zur europäischen Situation der rechten Räume in der Volksbühne fördert.

01  Walter Benjamin: „Geschichtsphiloso­phische Thesen“, in: ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Ansätze, Frankfurt a. M. 1965 [verfasst um 1938/40, posthume Erstausgabe 1950], S. 78–94, hier S. 82

02  Ebd.

03  Ebd., S. 83

04  Ebd.

05  Claus-M. Wolfschlag: „Heimat bauen – Für eine menschliche Architektur“, in: Andreas Molau (Hg.): Opposition für Deutschland – Widerspruch und Erneuerung, Berg am See 1995, S. 113–51, hier S. 114

06  Philipp Oswalt: „Vorbild Frankfurt – Restaurative Schizophrenie“, in: Merkur, 27.8.2018, www.merkur-zeitschrift.de/2018/08/27/architekturkolumne-vorbild-frankfurt-restaurative-schizophrenie/ (Stand: 7.5.2019)

07  Benjamin 1965 (wie Anm. 1), S. 83

Die Quelle und der Link zum Heft: Hier

Sehen Sie im Link auch die Inhaltsangabe des Heftes und insbesondere (für meine Belange) den Artikel „Die Countryside als Politisches Projekt“ von Joe Kennedy, Seite 200 – 205. Mich faszinierte das besonders, weil die Lektüre mich zurückführte auf das kleine Buch von John Berger, das ich vor genau 45 Jahren mit Begeisterung studiert habe.

Quelle John Berger: Sehen / Das Bild der Welt in der Bilderwelt / Sachbuch rororo Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1974 / Eine schönere Version des obigen Bildes:

 siehe Wikipedia hier

(Fortsetzung folgt)

Fiktion und Gefühle

Musik – Bühne – Film

Kürzlich las ich ein Interview mit dem Regisseur François Ozon und es geriet einiges in Bewegung: was sind die Gefühle des Künstlers, wenn er eine Rolle spielt? Im Film ganz anders als auf der Bühne? Spielt er auch Rollen, wenn er am Klavier sitzt? Oder – geigend – die Augen schließt? Auch unglaubwürdig schnell wechselnde Gefühle nach Maßgabe des Komponisten? Wie sehr muss er übertreiben, damit es alle merken? Oder soll er lieber zeigen, dass er den äußeren Ausdruck der Gefühle nur „abruft“? Man will keinen Schauspieler, sondern einen Menschen sehen, der sich erinnert. Wie? Ist denn Schauspieler zu sein ehrenrührig? Nein, aber ein Musiker „spielt“ auf einer anderen Ebene; es passt zu ihm, dass er cool bleibt, während er Leidenschaften entfesselt. Aber bei wem? Darf man auch als Zeuge seiner Entfesselungskünste – betont cool bleiben?

Couperin Miene am Clavecin François Couperin 1717

Man lacht, wenn man sich die Situation vorstellt. Aber ich habe das bei Friedrich Gulda erlebt: er spielte Mozarts A-dur-Sonate in vollkommener Weise, und er schaute dabei ins Publikum: von einem zum andern, mit unbeweglicher Miene, man fühlte sich als Einzelner persönlich gemeint (oder sogar geprüft) , vielleicht weniger von ihm als vom Kunstwerk. „Du musst dein Leben ändern.“

Was ist Leben, was ist Fiktion? Was Wunschdenken? Was Scharlatanerie?

François Ozon wurde gefragt, ob er die Vermischung von Realität und Fiktion auch im wahren Leben schon einmal erlebt habe:

Ja, bei den Dreharbeiten für einen meiner ersten Filme, einen Kurzfilm, ist etwas sehr Dramatisches passiert. Eine der Schauspielerinnen durchlebte eine heftige Krise. Sie verletzte sich während der Dreharbeiten selbst, sie drehte wirklich durch, beschmierte die Wände mit ihrem Blut und kritzelte damit herum. Sie spielte in dem Film eine Frau, die jemanden umbringt, und plötzlich wurde mir klar, dass ich sie als Regisseur so gut auf ihre Rolle vorbereitet und die Geschichte so gut entwickelt hatte, dass sie selbst glaubte, dieser Charakter zu sein. Das machte mir sehr, sehr große Angst.

Quelle Zeitmagazin Nr. 13 26. März 2015 (letzte Seite) „Das war meine Rettung.“ Als eine Schauspielerin durchdrehte, wurde Regisseur François Ozon zu ihrem Psychologen. (Interview: Louis Lewitan)

Soll ich das glauben? Der Regisseur betont auffälligerweise, dass er seine Sache vorher „so gut“ gemacht habe. So gut, dass die Frau nicht mehr weiß, dass sie spielt? An dieser Stelle fing ich an zu begreifen, dass es offenbar einen Riesenunterschied gibt zwischen Theater und Leben, Bühne und Film.

Ich stoße auf folgendes Zitat von Richard Blank („Schauspielkunst in Theater und Film“ Berlin 2001):

Der Alltag ist nicht die Bühne, nicht der Film, und wie verhält sich die Person in diesen Bereichen, die nicht identisch sind? Was ist ‚eine Person als Ganzes‘? Marianne Hoppe machte mich auf einen Aspekt aufmerksam, den ich vorher nicht bedacht hatte. Die Hoppe ist außerordentlich klar im Kopf, hat ein umfangreiches intellektuelles Wissen und die seltene Gabe einer exakten, kühlen Selbsteinschätzung. Als Hannelore Schroth 1987 gestorben war, versuchte ich Marianne Hoppe für eine Rolle zu gewinnen. Sie hat mit fortschreitendem Alter nur noch wenig gedreht und galt als sehr wählerisch. Sie kam in mein Haus, um sich fünf Stunden lang meine Filme mit ihrer verstorbenen Kollegin anzuschauen. Dann sagte sie: „Ich mache die Rolle, okay.“ Als ich mein Entzücken äußerte, unterbrach sie mich: „Aber glauben Sie nicht, dass ich das leisten kann, was die Schroth da bei Ihnen macht!“ Ich war verblüfft. Etwas ratlos erinnerte ich sie daran, dass sie immerhin als die bedeutendste deutsche Schauspielerin der Nachkriegszeit gelte. Sie schien das überhört zu haben, dachte eine Weile nach und sagte dann: „Sie müssen in Ihrem Buch etwas ändern. Streichen Sie alles, wo ich deprimiert oder traurig sein soll!“ Ich glaubte, mich verhört zu haben und antwortete nichts. „Ich kann es nicht“, sagte sie. „Aber gnädige Frau, Sie haben unter Gründgens, in Düsseldorf, auf der Bühne …“ „Die Bühne“, unterbrach sie, „hat nichts mit Film zu tun, rein gar nichts! Auf der Bühne kann ich allerhand darstellen, deklamieren, spielen – aber Film!, da merken Sie doch zumindest bei jeder Großaufnahme, ob einer etwas vortäuscht oder nicht! Im Film muss ich das, was ich spiele, immer auch sein.“ Mir verschlug es die Sprache, und als ich nichts sagte, insistierte sie: „Ich bin weder traurig noch deprimiert. Das mag ein Mangel sein oder ein Tick, aber ich bin es nicht, niemals, basta!“ Ihr Geständnis der Unvollkommenheit war für mich wie eine Offenbarung.

Und ich erinnere mich an einen Text, den ich neuerdings einmal im Zusammenhang mit Diderots Schrift „Paradox über den Schauspieler“ abgeschrieben habe. Ich kannte ihn seit meiner Schulzeit, und zwar aus dem „Deutschen Lesebuch“ (Walter Killy 1958): „Der beseelte und der psychologische Mensch“ von Paul Kornfeld, geschrieben 1918. (Da spielte der Film also noch keine Rolle.) Es ist nirgendwo ersichtlich, ob Kornfeld sich auf den Diderot-Essay bezog; mir war er damals, als ich Kornfeld zum erstenmal las, ohnehin nicht bekannt. (Heute ist das Paradox des Schauspielers für mich ein Fass ohne Boden geworden.)

Der Mensch des Dramas, wie der jeder Kunst, und wie alle Kunst, ist, losgelöst von den Bedingungen der Wirklichkeit und von allen Beschränkungen, Hemmungen und Zufälligkeiten, in Parallelität zu seinem Wesen und Inhalt, pathetisch, und Schauspieler, die Dramengestalten so darstellen, wie diese wären, wenn sie unserem Leben angehören würden, spielen nicht Theater und stellen nicht Kunst dar, sondern verstellen sich nur. Dem Menschen nachzumachen, genügt nicht, um den Menschen darzustellen. So befreie sich also der Schauspieler von der Wirklichkeit und abstrahiere von den Attributen der Realität und sei nichts als der Vertreter des Gedankens, Gefühls oder Schicksals! Muss er auf der Bühne sterben, so gehe er nicht vorher ins Krankenhaus, um sterben zu lernen, und nicht in die Kneipe, um zu sehen, wie man’s macht, wenn man betrunken ist. Er wage es, groß die Arme auszubreiten und an einer sich aufschwingenden Stelle so zu sprechen, wie er es im Leben niemals täte; er sei also nicht Imitator und suche seine Vorbilder nicht in einer dem Schauspieler fremden Welt, kurz: er schäme sich nicht, daß er spielt, er verleugne das Theater nicht und soll nicht eine Wirklichkeit vorzutäuschen suchen, die ihm einerseits niemals voll gelingen könnte, die andererseits aber auch nur dann aufs Theater zu stellen wäre, wenn die dramatische Kunst sich so heruntergebracht hätte, nur eine mehr oder weniger gelungene, und sei es mit Empfindungen, sei es mit moralischen Forderungen, sei es mit Aphorismen durchtränkte Imitation der körperlichen Realität und Psyche des Alltags zu sein.

Wenn der Schauspieler die Gestalten im Erlebnis der Empfindungen oder des Schicksals, das er darzustellen hat, und mit diesem Erlebnis adäquaten Gesten, und nicht in der Erinnerung an Menschen, die er von dieser Empfindung erfüllt oder diesem Schicksal verfallen gesehen hat, formen, ja, sogar diese Erinnerung vollkommen aus seinem Gedächtnis bannen wird, dann wird er erfahren, daß gerade sein Ausdruck eines Gefühls, das doch nicht wirklich und dessen Anlaß nur fingiert ist, reiner, eindeutiger und stärker sein wird, als der jenes Menschen, dessen Gefühl aus wirklichem Anlaß wirklich ist; denn des Menschen Ausdruck kann nie eindeutig sein, weil er selbst nie eindeutig, indem er niemals nur Eines und, wäre er nur Eines, es immer in anderer Beleuchtung ist. Glaubt er nur einem Erlebnis hingegeben zu sein, so sind es doch unzählige psychische Tatsachen, die in ihm existieren und manches verfälschen: der Schatten der gegenwärtigen Umgebung, der Schatten der Vergangenheit fällt auf ihn.

Quelle Das Junge Deutschland / Jahrgang 1 / Nr.1, Berlin 1918 (Rowohlt), zitiert nach „Zeichen der Zeit“ Herausgegeben von Walther Killy Ein Deutsches Lesebuch 4 Fischer Bücherei Frankfurt am Main und Hamburg 1958 (Seite 154)

Eine Erweiterung des Arbeitsfeldes ergibt sich aus der Lektüre von Lee Strasberg’s „Einführung zu Denis Diderots Das Paradox über den Schauspieler“ (1957). Siehe auch den  Wikipedia-Artikel über Strasberg, insbesondere über  seine „Method of Acting“. – Desgleichen aus dem Nachwort der Insel-Ausgabe 1964 von Reinhold Grimm.

… und der Text einer SWR2-Radiosendung von Christian Schärf über das Thema „Denis Diderot und das Paradox des Schauspielers“ vom 8.9.2013. Bemerkenswert hier besonders die Verknüpfung mit Rousseau und mit Hegel (!).

(Hinweise in dieser Thematik verdanke ich Kirsten Lindenau und JMR)

Reinhold Grimm:

Es ist freilich ein dialektischer Zusammenhang. Ursprünglich stand Diderot, der Vorkämpfer einer natürlichen Spielweise, durchaus auf der Seite der sensibilité, die man mit Recht eine ‚Zeitkrankheit‘ des 18. Jahrhunderts genannt hat. Erst allmählich löste er sich von dieser Auffassung, und man wird Dieckmann gern zustimmen, wenn er in diesem Vorgang eine Reaktion Diderots ‚gegen eigene Schwächen oder das, was ihm nun als Schwäche erschien‘, zu erkennen glaubt. Der erste Unterredner im ‚Paradoxe‘ erklärt ausdrücklich: ‚Wenn die Natur je eine gefühlvolle Seele erschaffen hat, so ist es die meinige.‘ Aber bereits ‚Le neveu de Rameau‘, begonnen 1761, zeigt die Wendung an. Am Beispiel des krankhaft reizbaren Neffen, dem das doppelte Attribut des comédien und der sensibilité beigelegt wird, demonstriert Diderot in einer zentralen Szene dieses anderen großen Dialogs, was zu geschehen pflegt, wenn ein Schauspieler von der Gewalt seiner Empfindung übermannt wird. Der Unglückliche nimmt nichts mehr wahr; er verzerrt die Züge, verdreht seinen Leib; ein Strom von Tränen entstürzt ihm, ja Schaum tritt ihm vor den Mund. Dieser Zustand, sagt Diderot, grenze so nahe an den Wahnsinn, daß es stets ungewiß bleibe, ob einer daraus wieder zurückfinde. Auf den Zuschauer wirke eine solche ‚aliénation d’esprit‘, bei aller Bewunderung für den Darsteller, eher peinlich und lächerlich als genial.

Quelle Nachwort von Reinhold Grimm zu Denis Diderot „Paradox über den Schauspieler“ Insel-Bücherei Nr.820 Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig 1964 (Seite 73f)

Folgendermaßen beschrieb Abbé Raguenet im Jahre 1702 einen italienischen Geiger, der eine Symphonie der Furien interpretierte:

Der Violinist / welcher dergleichen spielet / kann nicht umhin / er muß dadurch aus sich selbst gesetzet und grimmig werden; da martert er gleichsam sein Instrument sowohl / als seinen ganzen Leib / ist sein selbst nicht mehr Meister / drehet und windet sich / als ein Besessener / und kann solches nicht ändern.

Und wie ging die Sache mit François Ozon und seiner Schauspielerin aus?

Ich sagte ihr dann ganz vehement: Du hast kein Recht, das zu tun. Du bist Schauspielerin und spielst bitte nur deine Rolle. Du kaufst jetzt Farbe und streichst die Wände. Das hat sie dann auch getan, mehrfach, weil das Blut nach dem ersten Anstrich wieder durchkam. Es war wie in einem Film. Ich habe mich um sie gekümmert und ihr klargemacht: Es gibt die Fiktion des Films, und es gibt die Realität. Ich wurde im Grunde zu ihrem Psychologen.

Quelle Zeitmagazin (a.a.O. siehe oben)

Nachtrag 5. Juli 2015

Als ich diesen Beitrag vor einigen Monaten schrieb, habe ich nicht bedacht, dass mir darüber eigentlich das Klügste, was es zum Thema gibt, entfallen sein könnte: es steht bei Walter Benjamin.

Definitiv wird die Kunstleistung des Bühnenschauspielers dem Publikum durch diesen selbst in eigener Person präsentiert; dagegen wird die Kunstleistung des Filmdarstellers dem Publikum durch eine Apparatur präsentiert. Das letztere hat zweierlei zur Folge. Die Apparatur, die die Leistung des Filmdarstellers vor das Publikum bringt, ist nicht gehalten, diese Leistung als Totalität zu respektieren. Sie nimmt unter Führung des Kameramannes laufend zu dieser Leistung Stellung. Die Folge von Stellungnahmen, die der Cutter aus dem ihm abgelieferten Material komponiert, bildet den fertig montierten Film. Er umfaßt eine gewisse Anzahl von Bewegungsmomenten, die als solche der Kamera erkannt werden müssen – von Spezialeinstellungen wie Großaufnahmen zu schweigen. So wird die Leistung des Darstellers einer Reihe von optischen Tests unterworfen. Dies ist die erste Folge des Umstands, daß die Leistung des Filmdarstellers durch die Apparate vorgeführt wird. Die zweite Folge beruht darauf, daß der Filmdarsteller, da er nicht selbst seine Leistung dem Publikum präsentiert, die dem Bühnenschauspieler vorbehaltene Möglichkeit einbüßt, die Leistung während der Darbietung dem Publikum anzupassen. Dieses kommt dadurch in die Haltung eines durch keinerlei persönlichen Kontakt mit dem Darsteller gestörten Begutachters. Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet. [Hier bezieht sich Benjamin auf Brecht, den er in einer Fußnote zitiert und bedenkt.] Das ist keine Haltung, der Kultwerte ausgesetzt werden können. (Seite 23 f)

Im nächsten Kapitel setzt Benjamin bei einem Pirandello-Zitat zum Stummfilm an und fährt fort:

Man kann den gleichen Tatbestand folgendermaßen kennzeichnen: zum ersten Mal – und das ist das Werk des Films – kommt der Mensch in die Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr. Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten. (Seite 25)

Ich zitiere nur das, was mir im Moment hilfreich ist,- das Umfeld im Original ist aber letztlich unentbehrlich. Zu „Aura“ siehe hier.

Quelle Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie edition suhrkamp SV Frankfurt am Main 1966, 1974, 1977. ISBN 3-518-10028-9