Schlagwort-Archive: Vittorio Ghielmi

Geheimnisse des Gambenspiels

CD Le Secret de Monsieur Marais (reinhören hier)

Luca Pianca / Il Suonar Parlante Orchestra / Vittorio Ghielmi

DLF-Sendung Hier

Fotos: D.R. und Z.Hanakova, Cover Foto Plainpicture/Nordic Life/Terje Rakke

Die Werk-Kommentare des Booklets, die im Original kaum leserlich sind, wurden in der folgenden Kopie vergrößert (bitte anklicken):

  

Blick in ein altes Lehrwerk, herausgegeben von Albert Erhard (München-Salzburg 1980):

    

Das letzte farbige Bild gibt die Seite des CD-Booklets wieder, auf der Beispiele der neu entdeckten und entschlüsselten Einzeichnungen zu sehen sind. Als Nr. 2 erkennt man das Thema des schnellen Teils aus dem Prélude Tr. 17, dieser Teil beginnt bei 2:24, die dritte abgebildete Zeile hört man ab 3:07; dort sollen also die folgenden Techniken realisiert sein: tapé, jetté, enflé, élevé, appuyé, mordant, was in der DLF-Sendung folgendermaßen verstanden wird:

Die Kürzel, die jetzt entziffert werden konnten, bedeuten „tapé“, „jeté“, „enflé“ und „élevé“, übersetzt „geklopft“, „geworfen“, „lauter werdend“ und „erhöht“. Jeder Ton soll also seine eigene Charakteristik bekommen.

An manchen Stellen übertreibt Marais regelrecht und notiert sechs Kürzel über einem einzigen Ton. Demnach soll er gleichzeitig „springend“, „gezogen“, „anschwellend“, „unterdrückt“, „abgeschnitten“ und „still“ gespielt werden. Wie das gehen soll, erklärt Vittorio Ghielmi im Begleitheft: Die Kürzel seien keine statischen Anweisungen, sondern Marais habe versucht, das Gambenspiel in Aktion zu beschreiben. Er meine nicht den Klang, sondern die Gesten – die dann den richtigen Ton automatisch erzeugen.

Leider kann ich Ihnen jetzt kein Video zeigen – aber man kann sich gut vorstellen, wie der Spieler den Bogen aufsetzt, ihn zieht oder springen lässt, wenn man diese Klänge hört.

Man sollte niemanden am Staunen hindern, welches ja die Mutter aller Weisheit sein soll. Aber ich kann keinen grundsätzlichen Unterschied erkennen zwischen dem, was Ghielmi an neuen Hinweisen entdeckt hat, und dem, was 1980 schon bekannt war. Beziehungsweise dem, was Marin Marais schon in den Vorworten seiner gedruckten Werke seit 1686 offengelegt hat. Es ist ja nicht unmöglich, dass in einer Musikertradition Werkstattgeheimnisse gehütet werden, die den eigenen wirtschaftlichen Erfolg sichern. Warum jedoch sollte ein Komponist technische Tricks verbergen, wenn sie zum sinnvollen Vortrag seiner Werke gehören, die er in die Welt hinausschickt? Und dass dies wiederum erst ans Licht kommt, als er längst gestorben war (1728) und die Gambe als Träger ästhetischer  Ideen mühsam verteidigt werden musste (1740). Nebenbei: diese Rolle übernahm ein Jurist (Hubert le Blanc), kein Musiker, geschweige denn einer der Söhne des alten Marin Marais.

Ich liebe den Ton der Viola da Gamba, denke allerdings als erstes an Bach, an die ergreifende Aria „Es ist vollbracht“, die an schmerzlichem Ausdruck nicht zu überbieten ist, nein, auch an einziges anderes Werk, das Konzert von Telemann, mit einem bestimmten Interpreten, ein bestimmtes Datum, Wieland Kuijken mit dem Collegium aureum im Gürzenich zu Köln, 70er Jahre, ich kannte ihn flüchtig, aber ich hatte noch nie ein solch gequältes  Mienenspiel bei einem Barocksolisten erlebt, es gab ungläubiges heimliches Kichern, bis wir begriffen, dass da ein Virtuose und Meister des Espressivo-Spiels am Werk war. Bei Telemann! In Kirchheim (Bayrisch-Schwaben) bedeutete das Alarius-Ensemble mit den Kuijken-Brüdern für mich ein kleines Damaskus-Erlebnis: so also kann Alte Musik interpretiert werden, – eine neue Welt, ein im wahrsten Sinne unerhörter Ausdruck ohne die gängigen romantischen Hilfsmittel wie Bogendruck und Vibrato. – Es wundert mich nicht, dass jemand solche Wendepunkte der Perspektive auch heute noch auferstehen lassen will, aber er dürfte verbal nicht allzu starke Worte wählen, schon die Überschrift lässt Schlimmes ahnen: EIN „STEIN VON ROSETTA“ DER FRANZÖSISCHEN MUSIK. (Zum Stein ohne Anführungsstriche hier. Was für ein Fehlgriff als Anspielung!) Und wenn dann im Text die Anführungsstriche sich mehren, frage ich mich, ob der Schreiber der Zeilen den alten Wieland Kuijken überhaupt nicht kennt? Oder ob er gar bei ihm – studiert hat… (ja, er hat).

Viele Untersuchungen zur Interpretation „Alter“ Musik, die in letzter Zeit veröffenlicht wurden, zeigen, dass die von den „Pionieren“ in dern 1970-er Jahren entwickelten Aufführungsformeln, die heute universell eingesetzt werden, den alten Notentexten nicht gerecht werden. Leider erscheint die Distanz zwischen der Musikwissenschaft und der Welt der Interpreten inzwischen unüberbrückbar zu sein. Die Klangvorstellungen ersten Musikergeneration, die sich in den 1970-er Jahren der Wiederentdeckung der europäischen Musik aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert widmeten, war nicht ausreichend, um diese Musik expressiv umzusetzen, obwohl sie heute zum Mainstream geworden ist. Im Booklet zu einer früheren, Marais gewidmeten Einspielung schrieb ich ich ich einmal: „Da es sich um eine lang zurück liegende musikalische Rhetorik handelt, die mit der modernen unvereinbar ist, können wir annehmen, dass eine von Marin Marais selbst à la Marais eingespielte CD heutzutage wohl kaum einen Kritikerpreis erhalten oder höchstens in einer Reihe musikalischer Völkerkunde Platz finden würde.“

Wie bitte? Hat das Wort „Rhetorik“ in der Musik nicht gerade damals, „in den 1970-er Jahren“ seine Renaissance erlebt? Die „Pioniere“ lasen als erstes das folgende Buch, – das seit wann existierte? Seit 1941 !

Quelle: Hans-Heinrich Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert / Würzburg 1941 / Nachdruck Georg Olms Verlag 1985

Man las natürlich auch Quintilian im Original. Aber auch etwa ein solches Buch:

Quelle: Jacobus Kloppers: Die Interpretation und Wiedergabe der Orgelwerke Bachs / Frankfurt am Main 1966

Und nun kommt jemand und erklärt, dass die Rhetorik der Schlüssel jeglicher Marais-Interpretation sei… Hervorzuheben wäre in jedem Fall, dass mit „Rhetorik“ im Fall Marais etwas ganz Spezielles gemeint ist, was bei uns in die Rubrik „Deklamation und Vortrag“ fällt, also mit dem Verzierungswesen und der Artikulation zu tun hat. Neu ist allenfalls die Hervorhebung eines Teilaspekts, der Gestik, die dem Charakter der melodischen Formel (Figur) oder des Einzeltones zugute kommen soll. Andererseits auch gerade nicht neu: normalerweise gehört das zu den Themen, die im Instrumental- oder Gesangsunterricht der Hochschulen geradezu omnipräsent sind. Mit einem Fremdwort: MIMESIS. Ein Sänger z.B. müsse also nicht nur „über eine schöne Stimme und gute Intonation sowie über expressiven Ausdruck verfügen, sondern seinen Gesang auch mit Gesten und Bewegungen unterstützen (…), um die Affekte noch besser darzustellen.“ (So schon E. de Cavalieri in Rappresentatione di anima et di corpo, Rom 1600.)

Wunderbar, wenn nun gewisse Vortragshinweise des Interpreten Marais ans Licht kommen, die sich detailliert auf einzelne Töne beziehen, ja, das ist zweifellos interessant, aber auch nicht sensationell; wenn sie sich dort nun sogar doppelt einfinden und einander widersprechen, so muss man das nicht mystifizieren, als gebe es einen Trick, den Bogen zugleich springen und nicht springen zu lassen.

Sobald ich diese CD auflege, erscheint mir doch alles – trotz manchen Effekts – im Bereich des interpretatorisch Möglichen, ja – Gewohnten. Allerdings sehr, sehr gut gemacht. Trotzdem werde ich die CD beim nächsten Mal erst mit Tr. 9 (Gigue) beginnen lassen, ich finde auch die kompositorische Substanz manchmal etwas schwach. Aber das liegt an Bach, bzw. an meiner Einseitigkeit, nicht an mangelnder Kunst der Interpreten.

Ein Gutes hat die ganze Übung mir gebracht: ich habe Lust, Couperins „L’art de toucher le Clavecin“ mal ganz gründlich am Klavier durchzugehen und anhand der Bachschen h-moll-Partita zu überlegen, welche ungewöhnlichen Bogentechniken ich mal in den Doubles ausprobieren könnte.

Rückblick: Mein vielleicht allzu überhöhtes „Damaskus-Erlebnis“ 1976 im Cedernsaal von Schloss Kirchheim, wo alternierend zu den Aufnahmen des Collegium Aureum die Aufnahmen des Alarius-Ensembles stattfanden. Und dort – in dem provisorischen Technik-Abhörraum hinter der schweren Türe – haben einige von uns (Helmut Hucke, Klaus Giersch und ich) die ersten Fassungen der neuartigen „Musica Instrumentalis“ kennengelernt. Die Begeisterung war groß.

(Foto: Daniela Maria Brandt für harmonia mundi)

Und eines Tages werde ich noch einmal zu dieser neuen CD, zu „Le Secret de Monsieur Marais“ und auch der dort erwähnten Dokumenten-Forschung des Gambisten Dr. Christoph Urbanetz zurückkehren. Denn es ist nicht das Projekt „Vatermord“, welches ich witterte. Die Urheber denken bescheidener als manche Journalisten, die nun mal Schlagzeilen brauchen:

Von: „Vittorio GHIELMI“ <Vittorio.GHIELMI@xxx>
Betreff: R: Fwd: Ghielmi
Datum: 17. Juni 2020 um 12:01:15 MESZ
An: <goebel-musik@xxx>

 

My dear,

I never diminish the pioneers, on the contrary, I always say we are dwarf on their big shoulders. But I try to wake up my and next generation to go on with the same spirit of research and intelligent innovation, as these venerable musicians made in their period.

The manuscripts we are studying, with a sign on EACH note, made by Marais and his school, is a real Rosetta stone; we do not have any other example so detailed in the history of music, or not in this form, as far as I know.

I hope not to be misunderstood and hope you can explain it to your friend, to whom I send my deepest respect, as, you know, is in my style.

Abbraccio
Vittorio