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Vom Hören sehr Alter Musik

Einiges Material (Perotin, Ockeghem, Dufay)

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aus dem Booklet ©Frédéric Castello

L’homme armé

Ich gebe mir einen geharnischten Ruck und mache den Anfang, ohne Ehrgeiz und Vorsatz der Vollständigkeit, eher die eigenen (zufälligen) Stationen memorierend. Keine gepflasterte Heerstraße. Eher Bruchstücke, die gewisse Spuren hinterlassen haben. Aktueller Anlass war die Lektüre des Vortrags von Hans Darmstadt (Skript siehe ganz unten).

1970

 

        

Quelle: Der Wandel des musikalischen Hörens Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt / Verlag Merseburger Berlin 1962

Stilistische Voraussetzungen, die man kennen sollte (nach Dahlhaus):

Das um 1500 herrschende Formgesetz war, nach Johannes Tinctoris, das der Varietas, der Verschiedenheit. Die Repetition oder Wiederkehr von Teilen war suspekt; und der Versuch, in einem Werk von Josquin des Prés ein formales Gerüst zu entdecken, das durch ein Buchstabenschema darstellbar ist, wäre vergeblich und würde den Sinn der Komposition verfehlen. (…)

Die Ergänzung zum Prinzip der Varietas bildete die Forderung der Kontinuität, des lückenlosen musikalischen Fortgangs. Deutliche Einschnitte waren ebenso wie einfache Repetitionen Merkmale der niederen Musik, von der die artifizielle sich abzuheben suchte. (…)

Ist im 18. und 19. Jahrhundert das Wiederholen und Sequenzieren primär formal begründet und musikalischer Ausdruck an die Differenz von bereits Bekanntem gebunden, so gilt um 1500 gerade umgekehrt die Varietas als Regel des Komponierens und die Repetition als expressive Ausnahme.

Quelle: Diether de la Motte: Musikalische Analyse / mit kritischen Anmerkungen von Carl Dahlhaus / Bärenreiter Kassel Basel etc. 1968 (Dahlhaus-Zitat S.123f)

ca. 1470 Ockeghem Missa Prolationum

„Der Name der Messe bezieht sich auf den Begriff ‚prolatio‘. Im Notationssystem der Zeit konnten Notenwerte entweder dreizeitig oder zweizeitig sein. Auf jeder Notenwertebene ergaben sich neue Kombinationsmöglichkeiten. Eine dieser Ebenen wurde mit ‚prolatio‘ bezeichnet.“ (Clemens Goldberg)

Soeben ausgezeichnet:

Siehe Preis der Deutschen Schallplattenkritik Bestenliste Mai 2021 HIER

Immer auf der Suche nach Hör-Hinweisen, muss ich aus dem schönen Booklettext von Clemens Goldberg zitieren, der mich wiederum an einen Text von Hans Blumenberg erinnert (darüber später):

Die philosophische Deutung von Identität und Differenz in dieser Komposition ist faszinierend. je nach Standpunkt im vorbestimmten Taktsystem kann Identisches sich völlig verschieden entwickeln, gleichzeitig muss aber darauf geachtet werden, dass die Stimmen miteinander wohlklingend korrespondieren. Grundvoraussetzung ist dabei ein Grundwert, der in allen Stimmen identisch ist, eine pulsierende Schwingung, die alle Stimmen vereinigt. Was wäre das für eine produktive und glückliche Gesellschaft, in der jeder sich individuell entwickeln könnte, aber mit Achtsamkeit für seine Umwelt und die Mitmenschen!

(Natürlich klingt das leicht ideologisch, hineingelegt und untergeschoben, – aber vielleicht auch mutig in die richtige Richtung weisend? JR)

Ockeghem hat nun aber noch eine weitere Schwierigkeit eingebaut. In jedem Satz verändert sich das Einsatzintervall der Kanonstimme. (…) Die Welt des 15. Jahrhunderts ist voller Symbole. Die Oktave gilt im Verhältnis 1:2 als perfektes Intervall. Sie ist vor dem Osanna erreicht. Hier geschieht die Wandlung in der Messe. Ihr magischer, göttlicher Moment. Die Zeit des Menschen wird von der göttlichen Zeitlosigkeit abgelöst. Nach der Wandlung und der Kommunion sind die Menschen wieder offen für die Sünde, deshalb verändern sich die Einsatzintervalle in die als konsonant angesehenen Intervalle Quart und Quint zurück, die gleichwohl nicht so perfekt wie die Oktave sind. Zum zeitlichen Aspekt tritt also ein räumlich-symbolischer Aspekt hinzu.

Die mathematische und symbolische Ordnung war für Ockeghem sicherlich gottgegeben. Sie aber zur Grundlage des menschlichen Schöpfergeistes zu machen, der diese Ordnung letztlich als Ordnung vergessen lässt und zu völliger Freiheit führen kann, dies ist die einzigartige Erfahrung in der Missa Prolationum.

Der Text stammt von Clemens Goldberg und sollte, wenn sich die Skepsis gelegt hat (oder gestiegen ist?), als Ganzes zu lesen sein…

Andererseits mache man sich keine Illusionen: ein solcher Text allein hilft einem nicht viel, wenn man diese Musik auch nur im entferntesten ähnlich wie – sagen wir – ein Werk von Bach verstehen will. Was den lateinischen Text der Messe angeht, wird man sich relativ schnell im Internet helfen können (eine Übersetzung gibt es im Booklet nicht). Aber völlig im Dunkeln tappt man, wenn man nach der Bedeutung des letzten Stücks fragt, das die CD bietet, und es dauert immerhin fast eine Viertelstunde: „Mort tu as navré“, – keine Übersetzung und auch kein Sterbenswörtchen über den Typus, nicht einmal ob geistlich oder weltlich: man sieht den Namen BINCHOIS und in der letzten Strophe die Anrufung „Jhesu“. Französischkenntnis vorausgesetzt, was bedeutet „feaulté“? Fidelitas? Erste Schritte siehe hier. Zu Binchois hier, dort auch der Satz:

Johannes Ockeghem komponierte auf Binchois‘ Tod die „Deploration sur la mort de Binchois“ und Guillaume Dufay, den Verlust eines Freundes beklagend, das Rondeau „En triumphant de Cruel Dueil“.

Schon vorher war dort zu lesen:

Aus dem musikalischen Nachruf („Deploration“) des Komponisten Johannes Ockeghem auf Binchois geht die Aussage hervor, Binchois sei in seiner Jugend Soldat gewesen.

Damit sollte nun auch auf den Wikipedia-Artikel zu Ockeghem verwiesen sein…

Man glaube nicht, dass man mit dem Lexikon MGG ausreichend gerüstet ist: da wird z.B. über die Kanon-Technik der Missa prolationum berichtet und doch steht 3 Seiten später unter der Überschrift „Irrationalität, Imitation, Motivik und Form“:

Bekanntermaßen enthält Ockeghems geistliche Musik fast keine Imitation. (…) Riemanns kuriose Apostrophierung von Ockeghem als »Vater des durchimitierten Stils« basierte auf der Missa »Pour quelque paine«, die fast sicher nicht von Ockeghem stammt…

Quelle MGG (2004) Band 12 „Ockeghem“ (David Fallows) Sp.1297

ZITAT

Johannes Ockeghem (um 1430-1495), Schüler Dufays, und Zeitgenossen führen diese Entwicklung zur „Durchimitation“ weiter, zunächst in der Steigerung des Kanons.

Forts.:

diem vertere“ läßt schwarze Noten als weiße lesen, also augmentieren. Solche „Spielereien“ kennzeichnen aber die Vorliebe für die Variierung einheitlicher Themen im Satz, die in größter Kunstfertigkeit die thematische Einheit der Stimmen im Satz herstellen. Der selbständigen Führung kontrapunktische Stimmen zu einem Cantus firmus wie in Ockeghems Missa Caput tritt eine Themenvereinheitlichung in der Variierung gegenüber.

Quelle Das Musikwerk / Karl Gustav Fellerer: Altklassische Polyphonie / Arno Volk Verlag Köln 1965 (Seite 7f) Missa Caput in Das Musikwerk R.B.Lennaerts (Die Kunst der Niederländer) Nr.5 – Hier folgt der Anfang der Messe:

Dazu im Anhang die Anmerkung:

Der im 15. Jh. vielbenutzte Tenor Caput wurde von M.Bukofzer identifiziert als das Schluß-Melisma des Responsoriums Venit ad Simonem Petrum für Gründonnerstag (Ad Mandatum), erhalten in [etc.]. Hier wurde zum ersten Male dargelegt, daß in der Praxis des 15.Jh. ein Choraltenor nicht immer der Anfang einer liturgischen Melodie zu sein braucht, sondern daß auch innere Fragmente und Schluß-Melismen gewählt wueden. Die Tenor-Struktur von Ockeghems Messe wurde unverändert von Obrecht in seiner gleichnamigen Messe übernommen [etc.]. Gegenüber Ockeghems Tenor in längeren Notenwerten bewegen sich die drei Oberstimmen in kräftiger linearer Führung mit selbständigem Rhythmus. (Lennaerts)

Also: man ist allein mit seinen Ohren und wird ohnehin vergeblich im Gesamteindruck des Klangraums (oder Raumklangs) nach Kanontechnik oder geheimen Künsten suchen… Auch deshalb die obige Beigabe einer Aufnahme mit Darbietung des Notentextes. Aber niemand muss darin den einzig wahren Schlüssel zur tieferen Einsicht wittern. Ich habe zum ersten Mal im Sept.1958 versucht, mir diese Klänge vorzustellen, die seltsamen Kadenzen, „Klauseln“ genannt, anhand eines Büchleins von Georgiades:

Seite 37

Heute rühren mich die Eintragungen von damals: was konnte das nützen? Immerhin die vage Ahnung: eine „Kadenz“ kann in anderen Zeiten völlig anders empfunden worden sein.

Quelle Thrasyboulos Georgiades: Musik und Sprache / Das Werden der abendländischen Musik / Dargestellt an der Vertonung der Messe / Berlin etc.1954

1436 Dom Florenz Dufay „Nuper rosarum flores“ Hilliard Ensemble

1200 Perotin Hilliard Ensemble

Hilliard Ensemble 2007

oben: The Early Music Consort Of London / David Munrow 1976

unten: Musik-Konzepte Heft 60 1988 Hans Ryschawy / Rolf W.Stoll: Die Bedeutung der Zahl in Dufays Kompositionsart: Nuper rosarum flores

CD Booklet Machaut / Dufay 1993 Helga Weber

HANS DARMSTADT Musikalisches Denken Über Sehen und Hören Anhand von drei Klangbeispielen aus dem späten 12. bis 15. Jahrhundert (Perotin, Dufay, Ockeghem) hier

Vorweg zwei Zitate zum Kyrie der Missa prolationum, das zeigt, wie der Autor affectus und numerus aufeinander bezieht, also klanglicher Erscheinung [nach außen, für uns] und Konstruktion [Organisation, von innen]:

Was haben wir gehört und wahrgenommen? Es sind nur wenige Takte:eine schwerelose Musik in völliger Balance, in vollkommener Harmonie, in vollkommenemWohlklang, subtile Klangverschiebungen konsonanter Klänge, bewegter Stillstand, stehende Bewegung u.s.w.Vielleicht ließe sich so der affectus beschreiben. (Seite 4)

Zu bestaunen ist nicht nur die strukturelle Idee des Meisters mit ihren rhythmischen Komplikationen, sondern auch das lineare und harmonische Innenleben des Satzes. Die gestrichelten Linien (s. NB 1) folgen Tonhöhen, die durch die Stimmen wandern. Dem Einklang bzw. der Oktave f‘/ f werden zunächst die Quinte c‘, dann die Terz a‘/ a hinzugefügt. Wunderbar ist der Übergang vom FDurzum aMollKlang in der Mitte der Zeile! Verständlich wird, dass Ockeghem zu Beginn nicht mit Sekundschritten arbeiten konnte, da es durch die Kanonstruktur sofort zu dissonanten Klängen gekommen wäre, die sich nicht den Regeln entsprechend hätten auflösen können. Es ist kaum nachvollziehbar, wie Ockeghem sich diese Musik in ihrer Komplexität und mit allen satztechnischen Konsequenzen hat denken können! (Seite 5)

Zu Seite 8 dieses Textes dort über „Nuper rosarum flores“ (Dufay): anstelle der oft beschworenen Proportionsverwandtschaft zwischen der Motette und der Domarchitektur wird hier die Lehre von der Perspektive als maßgeblich betrachtet. Der englische Wikipedia-Artikel zu „Nuper rosarum flores“ bestätigt zumindest die Zweifel an der Proportionstheorie:

In 2012, the architect and musician Tiago Simas Freire presented a hypothesis in which none of the figurative relationships previously established between the motet and an architectural object are valid, from both theoretical and practical approaches. This was the result of two Master studies in both Architecture and Ancient Music and presented in NEXUS2012-Milano.

ZITAT (betr. Dufay *1400 – Ockeghem *1420 – Josquin *1440 )

Der bekannteste musikalische Neuerer der Frührenaissance, Josquin Desprez, wurde um das Jahr 1440 geboren. Aus Cambrai in der Picardie stammend, gelangte er, wie zuvor Guillaume Dufay (um 1400–1470) und sein mutmaßlicher Lehrer Johannes Ockeghem (um 1420–1495), als Kapellsänger unter anderem an die Höfe der einflussreichen Sforza in Mailand, des Papstes in Rom und der mächtigen Este in Ferrara. Die letzten Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1521 verbrachte er in seiner Heimat, wo er in Condé eine Stelle als Dompropst innehatte. In dieser Zeit dürften die beiden reifen Messen »Pange lingua« und »Da pacem« entstanden sein, die wesentlich zum Ruhm Josquins beitrugen.

Quelle hier

Ockeghems Sanctus aus der „Missa Prolationum“

Es lohnt sich, diesen Notentext beim Hören der CD mitzulesen, auch die kleinen Abweichungen zu registrieren, z.B. ob h oder b; wesentlich, nicht nur Klänge zu hören, sondern auch Töne (Motive?). Natürlich haben wir hier nicht 1:1 den Notentext des Komponisten, sondern eine moderne Übertragung. Ein andere finden sie in einer anderen Youtube-Aufnahme, mit dem Ensemble um David Erler („The Sound and the Fury“) hier

   

Quelle Das Musikwerk – DIE MESSE von Joseph Schmidt-Görg / Arno Volk Verlag Köln 1067 Seite 54 ff

„However, not one iota of this structural tour de force is actually audible. Ockeghem preferred the ‚hidden construction‘.“

(Bossuyt, p.89 ü. Missa Prolationum)

Woher kenne ich sie?

Amiata Records 1996

Dank an JMR:

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