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Französische Perspektive

Ein Blick auf das Sprachvermögen

Ich stelle mir vor, ich hätte kürzlich an einen Freund geschrieben, z.B. an den, der damals mein Interesse an der französischen Sprache beflügelt hat, nachdem er in Freiburg bei Hugo Friedrich zu studieren begonnen hatte, ich (zwei Jahre jünger und noch vor dem Abitur) ihn besuchen und zu einer der Vorlesungen begleiten durfte. Sagen wir so:

Seit 14 Tagen bin ich nun hier [sagen wir: in Concarneau oder – auf Texel], und wenn auch nicht von ausgelassener Fröhlichkeit, so komme ich doch ein wenig zur Ruhe. […] Ich bin weder Christ noch Stoiker. Bald werde ich XX. In diesem Alter fängt man sein Leben nicht neu an, ändert man seine Gewohnheiten nicht. Die Zukunft hat mir nichts Gutes zu bieten, und die Vergangenheit frisst mich auf, und ich denke an die verflossenen Tage und an die Menschen, die nicht wiederkommen. Ein Zeichen von Alter und Verfall.

Liebe Leserin, lieber Leser: setzen Sie doch in diesen Brief bei XX Ihr eigenes Alter ein. Könnten Sie ihn geschrieben haben? Und stellen Sie sich vor, dass Sie an einem bedeutenden Kunstwerk arbeiten, von dessen Endzustand Sie jedoch noch wenig wissen. Wie fühlen Sie sich?

Ich bin leider noch nicht alt genug, also außerstande, mir das vorzustellen. Andererseits kann ich nicht beschwören, dass ich jetzt ganz ehrlich bin. (Sie sollen nachdenken, nicht ich!) Ich habe – trotz bester Vorsätze und Anregungen – nicht einmal ordentlich Französisch gelernt. Ich kann es einigermaßen lesen („La musique arabe“), auch praktisch fehlerfrei vor-lesen (Vortrag im Goethe-Institut Algier 19xx), – aber nicht frei sprechen. Gern füge ich hinzu: auch Latein und Griechisch kann ich nicht mehr gut,  und auch früher nicht besonders, würde aber den Namen Menander ähnlich vertraut finden wie den des Mannes, der den obigen Brieftext geschrieben hat.

Und wer war es?

Abu Simbel

Abu Simbel in Ober-Ägypten. Mein Freund, von dem zu Anfang die Rede war, lebt dort, wenn nicht gerade in der Schweiz oder in der Toskana, was keineswegs bedeutet: auf großem Fuße. (Sie müssen nur seinen Namen in das Suchfenster oben rechts eingeben: z.B. „Scheich Hans“.) Auf großem Fuß so wenig wie dieser Mann, der immerhin auf dem Haupt des Ramses steht oder sitzt (falls Sie ihn erkennen):

Gustav Flaubert. In dem oben zitierten Brief, der vom 3. Oktober 1875 stammt, hieß es tatsächlich: „Bald werde ich 54“, – und wenn es uns heute unfassbar scheint, dass man in diesem Alter nichts mehr von der Zukunft erwartet, so muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass er recht hatte: er hatte keine 5 Jahre mehr vor sich. Und war im Begriff, sein kleinstes und vielleicht bedeutendstes Werk in Angriff zu nehmen.

Ich rekapituliere gerade dieses Werk, an dem ich in jungen Jahren gestrandet bin. Nicht aus Nostalgie, denn romantisch war es nicht, das eigene Ungenügen zu fühlen und nicht begründen zu können. Ich wollte Zugang zu einer fabelhaften Sprachform finden und ärgerte mich zunehmend am Inhalt, durchaus wahrnehmend, dass gerade diese Texte sich nicht im Ablauf der Geschichten erschöpfen. Besonders unausstehlich die Sage von Sankt Julianus dem Gastfreien, nichts als eine besonders detaillierte christliche Heiligenlegende.

Flaubert 1962 Die Suggestion der Übersichtlichkeit 1962

Flaubert Notiz Die Liste und die Essenz

Ich weiß nicht mehr, welche Bedeutung ich meiner eigenen Notiz auf dem hinteren Deckblatt beimaß, ob es sich vielleicht um eine abschließende Distanzierung handelte: „Flaubert hat allen Dingen gegenüber die gleiche wissenschaftliche Haltung. Dramatische Wendungen (Ereignisse) habe keine suggestiven Entsprechungen im Stil. Sie werden eher abgekühlt, auf Einheitstemperatur gebracht.“ Dann der Hinweis auf den Maler Leibl. Mein Hauptmanko war damals, – in einer Zeit, als es noch kein Internet gab -, dass ich nicht genug über Flaubert wusste, mich sowieso in erster Linie für Proust interessierte, und das Einfachste und Wichtigste unterließ, nämlich das Nachwort zu lesen. Ich wollte an das Original heran, an die Sprache. Und so wurde alles zu schwer, ohne dass ich recht wusste warum. (Und vor allem: ich hatte nicht die Zeit, mir Zeit zu lassen. Im Vordergrund ging es nur um Musik und die ganz normale emotionale Unordnung.) Das Nachwort, das ich heute so schätze – weil eine Rezension der neuen Übersetzung der „Trois Contes“ deren Nachwort und die Hinzufügung des ausgewählten Briefwechsels rühmt – stammte von Walter Boehlich, der – was ich nicht wusste – bei Ernst Robert Curtius studiert hat, von dem ich immerhin schon grundlegende Bücher besaß, z.B. „Französischer Geist im Zwanzigsten Jahrhundert“. Kurz und gut: dies Nachwort mache ich mir heute erst zueigen – 55 Jahre später -, während ich gleichzeitig den neuen Band studiere, die Übersetzung von Elisabeth Edl (ohne den französischen Originaltext, – den ich aber gleichzeitig auf dem Bildschirm vor mir habe).

Flaubert neu Edl-Übersetzung Hanser 2017

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Aus dem Nachwort von Boehlich, das ich damals offenbar gar nicht gelesen habe, – meine jugendliche Beschränktheit! – zitiere ich jetzt, was ich bei verspätetem Nachsitzen unterstrichen habe:

(…) Man weiß, unter welchen Mühen er arbeitet, mit welcher Sorgfalt er sein Material sammelt, wie oft er streicht, aufgibt, verändert. (…)

„Bis dahin werde ich mich daran begeben, die Legende des Heiligen Julian zu schreiben, nur um mich etwas zu beschäftigen, um zu sehen, ob ich noch einen Satz machen kann, woran ich zweifle…“ [Oktober 1875]

Unleugbar hat die religiöse Thematik eine Rolle dabei gespielt. Nie sonst hat sich Flaubert Fragen des Glaubens so unkritisch genähert; und doch war er nicht gläubig. Aber er war fähig, den Glauben zu schildern, fähig, an der Beruhigung teilzuhaben, der [sic!] von ihm ausgehen kann. (…)

Aber es geht ihm diesmal keineswegs um Religion, schon gar nicht um Erbauung, sondern um Geschichte, um den Punkt, an dem Rom, das Judentum und das Christentum zusammenstoßen, auf der Burg des Herodes Antipas, während eines einzigen Tages. (…) Die Beruhigung schwindet, die Angst, in die Salammbô-Manier zu verfallen, erwacht, die Technik des Stils droht, über das Mitzuteilende zu siegen. (…)

Man hat beobachtet, daß die kleinsten Einheiten bei Flaubert die vollkommensten sind, daß die Komposition des Untergeordneten der Komposition des Übergeordneten regelmäßig überlegen ist. Der Satz ist ehern, der Abschnitt unauflöslich, das Kapitel kunstvoll zusammengeschlossen – das Ganze aber zerfließt leicht. Dieser Gefahr ist Flaubert bei den kurzen, überschaubaren Erzählungen entgangen. jede für sich ist eine Einheit, wie sie gemeinsam wieder eine Einheit bilden, jede für sich ist dreigeteilt, wie sie gemeinsam eine Dreieinigkeit bilden. Das Grundelement des Flaubertschen Stils ist die Triade; wir wissen das seit 40 Jahren. [Durch wen?] Die Gesetze dieses Kunstmittels sind genau erforscht und analysiert worden, und es hat sich gezeigt, daß Flauberts Triade weit eher eine Triade der Variation als eine solche der Analogie ist. Ihre Glieder sind unterschieden durch Länge, durch Tempus, durch Syntax oder auch nur durch Rhythmisierung. In der einfachsten Form sieht das etwa so aus: „Sie trafen sich im Dunkel der Höfe, hinter einer Mauer, unter einem einsamen Baum.“ Oder in dreifacher Variation: „Er ging voran in der Glut der Sonne, unter dem Regen, durch den Sturm, trank das Wasser der Quellen aus seiner Hand, aß im Laufen wilde Äpfel, ruhte sich, wenn er müde war, unter einer Eiche aus; und kehrte mitten in der Nacht zurück, bedeckt von Blut und Schmutz, mit Dornen in den Haaren und den Geruch wilder Tiere verströmend.“ (…)

Immer wieder begegnet man dieser triadischen Gliederung. Dreiteilig ist die Geschichte von Herodias, dreiteilig auch die Legende von Julian, und die fünf Teile von Felicité können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei dem ersten und letzten, die sich schon durch ihren Umfang von den anderen unterscheiden, nur um Einleitung und Abschluß handelt, die die generelle Dreiteiligkeit nicht zerstören.

Flaubert hat dieses Stilprinzip, dem wir im Kleinen in jedem seiner Werke, im Großen vor allem in der ‚Madame Bovary‘ begegnen, nicht erfunden, aber vor ihm hat es die französische Literatur in dieser Vollkommenheit nicht gekannt. Nach ihm ist es in die Weltliteratur eingegangen und hat dreißig Jahre später eine direkte und große Folge gehabt, die am Beginn unserer Moderne steh und diese recht eigentlich eingeleitet hat: die ‚Three Lives‘ der Gertrude Stein.

Quelle Nachwort (Walter Boehlich) zu: Flaubert Trois Contes Drei Erzählungen Fischer Bücherei EC 44 Dezember 1961 (Flaubert-Übersetzung: Ernst Hardt 1904 bzw. 1912, 1913).

Soweit die Rekapitulation der eigenen Versäumnisse, – hatte ich gedacht und finde weitere in dem Buch von Hugo Friedrich, das ich mir bald darauf (11. Nov. 1963) zulegte: Drei Klassiker des französischen Romans / Stendhal – Balzac – Flaubert. Und gerade im Flaubert-Teil fehlt jegliche Lesespur, stattdessen jede Menge roter Unterstreichungen im Balzac, von dem ich nie Buch gelesen habe.

Es hat tiefere Gründe, wenn Flaubert vom modernen zum orientalisch-historischen Thema wechselt. Der Anstoß zu dieser Wahl geht gewiß von seiner Faszinierung durch Exotisches aus, – dafür gibt es hinreichend Belege in der Korrespondenz. Aber erlaubt hat er sich die Verwertung des exotischen Bildes darum, weil in diesem alle Gegenwartssensation ausgetilgt ist, und weil hier der Haß auf die aktuelle Welt schweigt, der den in dieser disziplinierten Kunst gesuchten Akt der Entselbstung und Reinigung erschwert. Das erstrebte Erlöschen des Autors vor dem Gegenstand, das Heraustreten des reinen Seins ist hier in der Tat vollkommener, feierlicher und unheimlicher verwirklicht als in den anderen Romanen. (S.127)

Die in der Sehweise des Fatalismus begründete Technik der unkausalen Situationsabfolge erfordert eine besondere Füllung der Romane mit Tatsachen und Ereignissen, mittels derer der Ablauf vergegenwärtigt wird. Daher die außerordentliche Arbeit Flauberts an der Stoffbeschaffung, die Besessenheit, im „exakten“ Material die Massen zu gewinnen, die das pausenlose , immer neue, vorübertragende Dahinströmen darstellen. (…) Die Stoff-, Szenen- und Situationsanhäufung hat etwas Betäubendes; es gehört zu den bezeichnendsten Wirkungen der Flaubertschen Romane, daß man von ihnen benommen wird wie von einem Narkotikum, – eine Wirkung, die durchaus zur Wirkung des Schicksalsablaufs auf die Gestalten der Romane stimmt. Denn diese Vielzahl ist keine freudige Fülle wie bei Balzac, sondern sie ist die Variation des bloß Erscheinenden, hinter dem die Leere und Geschehnislosigkeit gähnt, die Wiederholung der ewig gleichen Unfruchtbarkeit alles Menschlichen. (S.146 f)

Quelle Hugo Friedrich: Drei Klassiker des französischen Romans / Stendhal – Balzac – Flaubert / Vittorio Klostermann Frankfurt a.M. 1961

(Fortsetzung folgt)