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Altherrentraum?

Die Würde des Liedes ist unantastbar

Man hätte glücklich sein können: ein Liederabend in voller Länge im Fernsehen! Wann gibt es schon eine solche Chance für die zarten lyrischen Gebilde, von denen man meint, dass sie ihre Wirkung (und Würde) nur in einem kleinen Kreis unter Kennern entfalten. (Wenn man allerdings die Ankündigung sieht, können einen durchaus dunkle Ahnungen beschleichen.) Zumindest die heutige Jugend, so weiß man, kann man jagen mit dem sogenannten „Kunstlied“, schon die gestelzte bzw. kunstvoll gestützte, hochkultivierte Stimme signalisiert den jungen Leuten: wir sind auf einem anderen Niveau zuhaus als eure Schlagerfuzzys, die ein Vibrato fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Vielleicht fängt man sie mit dem Stichwort Liebe?

Aber bedenken Sie: geht noch jemand in irgendeinem Text den Umweg mit, wenn er über die Blätter oder Blüten des Nussbaums verläuft. Wer spricht so? Wer will das gesungen hören? Der Nussbaum breitet blättrig seine Äste aus,  „viel liebliche Blüten stehen dran, linde Winde kommen, sie herzlich zu umfahn. Es flüstern je zwei zu zwei gepaart, neigend, beugend, zierlich zum Kusse die Häuptchen zart.“  Wollen Sie? Es ist die Musik, die diese Lyrik in den Himmel hebt.

Was geschieht hier?

Technisch gesprochen: das einleuchtende Hauptmotiv, mit dem das Klavier begonnen hatte, kehrt sehr oft wieder, ehe es eine neue Tendenz angibt, aus einer These wird eine Frage. Ich gestehe, es ist diese Wendung bei 1:19, die mir die Tränen in die Augen treibt und eine Wachsamkeit erzeugt, als nähere sich eine nicht genauer bestimmbare Gefahr. Es ist ernst, auch der Sänger ist schutzlos, aber er tut, als könne er einfach still weitererzählen. Was für eine Geschichte? Gar keine.

„Mägdelein“  – dass ich nicht lache! Ich höre jemanden sagen: das ist ein Altherrentraum, typisch, – vom Mägdlein, das nicht weiß wie ihm geschieht… Andererseits: wer Ohren hat für das Lied, ist für Zweifel unerreichbar… Er (?) ist gebannt und lauscht in einen hintergründigen Raum: da ist (fast) nichts: man horcht, es rauscht im Baum, sehnend, wähnend, sinkt lächelnd in Schlaf und Traum.

Man höre es ein ums andere Mal, – wie erfahre ich wohl den Traum in einer anders gestalteten  „Erzählung“? Wie war es damals?

Elly Ameling singt Schumann

Jetzt sind wir wach genug für einen Liederabend im Fernsehen, nicht wahr? Heute, Jahrzehnte nach Elly Amelings (und Fischer-Dieskaus) großer Zeit? Öffnen Sie das Programm „Liederabend“, – ach, leider scheint das Titelbild nicht zu passen, Anfassen geht ja gar nicht. Aber warum? Der Sänger, die Sängerin singt nicht als leibhaftige Darsteller:in einer lebendigen Person, diese wird von beiden nur“ lebhaft imaginiert, – als deren lyrisches Ich. So wird es völlig entgleisen…

HIER

Noch im ersten Lied könnte man glauben, es gelingt (er fixiert sie nicht, sie wirkt glücklich, vielleicht, weil sie innerlich die gleiche Imagination hat, sie fühlt sich nicht „persönlich“ angesungen, – hoffentlich).

Dann kommen wir im zweiten Lied zu dem uns so vertrauten Titel „Der Nussbaum“, mit der Sängerin, – hoffentlich nicht, weil es „zur Frau passt“… hatte er im ersten, vorhergehenden Lied nicht schon dies Kopfnicken und Augenaufschlagen, als er sang: „… mein guter Geist, mein bess’res Ich“ (bei 1’59) ? Gottseidank, ohne sie anzuschauen. Im Nachhall des Liedes wendet er sich ihr erwartungsvoll zu, die Hände faltend. Und nun kommt im „Nussbaum“ ein Mienenspiel, das man nicht ignorieren kann, sein zartes Kopfnicken zu „viel liebliche Blüten stehen dran“ kaum noch (3:15) – sieht er dasselbe Bild, muss ers bestätigen? – , sie lächelt, windet sich etwas, er lächelt, wendet sich ihr zu, schaut bereits auf ihren Mund, (3:30) „sie zärtlich zu umfahn“. Ja, und ihre eigenen Hände finden zueinander, umschmeicheln sich, er neigt den Kopf zu ihr, dann bei „es flüstern je zwei zu zwei gepaart“ weicht er zurück mit geöffnetem Mund, gleichsam staunend (3:36), es ist ein „Ach so!“, dazu auch noch die Handgeste „Na klar!“, und wenn dann kommt „neigend, beugend, zierlich zum Kusse die Häuptchen zart“ (3:54), lacht er verständnisinnig. Man sieht die Hände von Helmut Deutsch – zu ihm wäre viel zu sagen, schade dass er sich nicht zu schade ist – und die zu Tränen rührende Wendung kommt wie ein Hohn. Die Sängerin mit übertriebenem Schmerz: „das Mägdlein, das dächte die Nächte und Tage lang“, dann wie als Clou: „und wüsste ach selber nicht was“ (4:13), Kaufmann nickt neckisch, wie zum flüchtigen Kuss ansetzend, sie beide wissen, worum es geht. Er dreht sich demonstrativ ab, mit zusammengekniffenen Lippen, das meint: so ist die Jugend, beratungsresistent, die Sängerin, lockend: „sie flüstern, sie flüstern“ … sie betont das „nächste Jahr“ und zeichnet die Größe des Baumes in die Luft, in dem es rauschet. Unerträglich, das alles. Bei 5:31 ist alles vorbei. Erwartungsvolle Stille. Nicht zu lang. Endlich als Antwort – das Tenor-Lied „Lieben von ganzer Seele“. Der Liederabend soll eine Art Dialog ergeben, das ist nun ganz deutlich. Eine Art herabgemindertes Bühnendrama.

Wenn Sie Elly Ameling noch im Ohr haben, hören Sie doch auch das Lied „Mein schöner Stern“ in diesem Damrau/Kaufmann-Lieder-Dialog. Natürlich wird es hier von dem Mann gesungen, heldenmäßig, und der Stern ist keine Imagination, er steht ihm zur Seite. Jegliche Erschütterung bleibt aus…

Die Würde eines Liedes aber ist unantastbar. (Man kann die wahrhaft lyrischen Lieder nicht einem angeblich neuen Zeitgeist anpassen. Auch mit gutem Willen re-interpretiert, sind sie zwar noch identifizierbar, aber nur als lebende Leichen. Ein solcher Liederabend scheint mir  kontraproduktiv, und wenn es der Leistung eines Regisseurs oder Image-Beraters geschuldet ist: null und nichtig.

Brauchen wir dafür ein musikalisches Grundrecht?

ARTE Liederabend noch abzurufen bis August 2023

https://www.arte.tv/de/videos/111755-000-A/liederabend-mit-jonas-kaufmann-und-diana-damrau/  hier  27:15 „Mein schöner Stern“

Wagen wir doch die Frage: Wer braucht ein lyrisches Ich? Ein Versuch steht hier.

Abschließend: zum Vibrato (Rat eines Cellisten, – so einfach ist die Regel cantabile)

es erinnert mich an die erste Hörbegegnung mit Anner Bylsma,1970er Jahre, als er mit dem Collegium Aureum das Beethovensche Tripelkonzert aufnahm, Anfang des langsamen Satzes, eine absolut neue Idee des solistischen Auftritts, vibratofrei, aber expressiv sprechend

…wem bricht das Herz entzwei?

War es Heinrich Heine?

Der folgende Ausschnitt gehört zu einer Sendung, die ich am 22. September 2004 für die Musikpassagen in WDR 3 produziert habe (das vollständige Skript finden Sie hier). Rekapituliert also am 7. Juni 2017. Und jetzt noch einmal, mit gutem Grunde, hoffe ich. Am besten, Sie hören vorweg aufmerksam das Schumann-Lied aus der „Dichterliebe“, falls Sie es noch nicht kennen. Mich hat es seit Jugendzeiten verfolgt, wie auch viele andere Lieder und die der „Dichterliebe“ ganz besonders. (Etwas Geduld, falls es nicht sofort „anspringt“: per Hand auf 14:43 einstellen:)

ZITAT (Ausschnitt Sende-Manuskript)

Meine Damen und Herren, passt es Ihnen überhaupt, wenn ich an dieser Stelle zurückkomme auf das Heine-Lied: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen…“?

Seit ich es kenne, habe ich es immer nur in der Vertonung Robert Schumanns gehört, ich fand es toll – und habe doch immer verdrängt, dass mir die Logik der Aussage nicht ganz einleuchtete. Um wieviel Personen geht es da eigentlich?

18) Schumann/Heine Dichterliebe Tr. 11 Ein Jüngling liebt… 1’01“

Wieso war jetzt der Jüngling übel dran, er war doch längst aus dem Spiel?

Am vergangenen Freitag war ich in der Kölner Philharmonie, in einem der schönsten Chor-Konzerte, die ich je gehört habe. Mit dem Balthasar-Neumann-Chor. Es war aber nicht nur die Qualität dieses Chores, sondern auch die dramaturgische Gestaltung des Programms, die dichte Kombination von gesprochenen Texten, Chor- und Sololiedern. Michael Heltau sprach, und er sprach unter anderem dieses Heine-Gedicht „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“, das ich bisher eigentlich nur in Schumanns Vertonung kannte und dessen zweite Strophe ich deshalb so gesprochen hätte:

Das Mädchen nimmt aus Ärger / den ersten besten Mann, /

der ihr in den Weg gelaufen; / der Jüngling ist übel dran.

So konnte ich das auch derartig falsch verstehen, als ob der Jüngling aus der ersten Strophe gemeint sei. Der war natürlich übel dran, aber warum jetzt schon wieder?!

Und nun las Michael Heltau folgendermaßen:

Das Mädchen nimmt aus Ärger / den ersten besten Mann, /

der ihr in den Weg gelaufen; / der Jüngling ist übel dran.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: dieser „Mann“, der erstbeste, ist natürlich auch der zuletzt genannte Jüngling, natürlich. Auch er ein Jüngling. Und der muss nun lebenslang den ganzen Frust seiner Frau ausbaden, keineswegs der Jüngling aus der ersten Strophe, der hat vielleicht sogar noch einmal Glück gehabt.

Die Personenzahl bleibt gleich, fünf. Zwei Paare und der erste Jüngling

Sehen Sie, so kann man nach Jahrzehnten des Irrtums durch einen einzigen Gang in die Philharmonie messbar klüger werden!

Wem also bricht das Herz entzwei? Na, jedenfalls nicht uns Rechenkünstlern!

19) Schumann/Heine Dichterliebe Tr. 11 Ein Jüngling liebt… 1’00“

Robert Schumann, Heinrich Heine; vorhin mit Olaf Bär, jetzt mit Fritz Wunderlich.

Ende des ZITATS und freie Fortsetzung nach rund 15 Jahren, anhand eines Buches, das ich damals nicht recht zu schätzen wusste:

Marcel Reich-Ranicki: Ein Jüngling liebt ein Mädchen / Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen / Insel-Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2001

Dieses Büchlein muss ich damals schon besessen haben, aber die Interpretation ergab nichts zu meinem (möglichen) Missverständnis, das der Verfasser offensichtlich nicht geteilt hätte; er kannte von vornherein den realen Hintergrund:

Die Sache ist längst geklärt: Der junge Heine liebte seine Hamburger Cousine Amalie, die von ihm nichts wissen wollte, da sie in einen anderen verliebt war; dieser wiederum gab einem anderen Mädchen den Vorzug – weshalb die verärgerte Amalie eiligst einen John Friedländer aus Ostpreußen heiratete. Heine ging leer aus und war, wie man sich denken kann, enttäuscht und verbittert. Er hat sich darüber in Briefen an Freunde mehrfach geäußert – nicht sehr ausführlich, doch unmißverständlich.

So auf Seite 54. Womit ich meinerseits nichts anfangen konnte, noch weniger mit Reich-Ranickis Vorbehalt gegenüber Robert Schumanns Vertonung; er sagt: „Den düsteren, den alarmierenden Hintergrund hören wir sowenig wie den Aufschrei des Liebenden. Die zwischen den Zeilen verborgene Dramatik hat Schumann übersehen. Da hilft auch nicht das Ritardando bei wem sie just passieret. Nach den letzten Worten kehrt die Begleitung sofort zum ursprünglichen Zeitmaß zurück, dem raschen, dem heiteren.“

Ja, wieso denn nicht?! Wäre ein Trauermarsch passender? Die verborgene Dramatik wird einem auch im gesungenen Text niemals entgehen, wenn man nur weiß, von welchem Jüngling die Rede ist. Beide Sänger, sowohl Bär als auch Wunderlich, dürften allerdings das Wörtchen der  vor Jüngling etwas dehnen. Aber auf diese helfende Hervorhebung ist selbst Reich-Ranicki nicht gekommen, auch er denkt nicht nur, dass der Jüngling genau jener ist, mit dem das Gedicht anhebt, er weiß es sogar, und dementsprechend betont er in der Rezitation. Er meint: „Heine ging leer aus“. Der arme!

Und ich? Ich bin enttäuscht, denn ich war – mit Heltau – der felsenfesten Überzeugung, dass es ein John Friedländer aus Ostpreußen war, dessen Namen ich aber nicht kannte und auch jetzt nicht zur Kenntnis nehmen will. Es war ein weiteres Glied in der Kette derer, die – nicht gerade leer ausgehen –  die aber ganz übel dran sind. Und am Ende bricht auch ihm das Herz entzwei, wenn auch weniger dramatisch.

Was sagen Sie? Das ist doch eine alte Geschichte!

Wikipedia folgt übrigens der Interpretation von Reich-Ranicki, lesen Sie hier. Dann bleibe ich eben allein mit Michael Heltau

Und festzuhalten bleibt aus meiner Sicht auf jeden Fall: für die Interpretation von Lyrik spielt der reale (lokale) Ausgangspunkt überhaupt keine entscheidende Rolle. Da würde ich ausgehen von Walter Killy „Wandlungen des lyrischen Bildes“, – bezogen auf das Goethe-Gedicht: „Früh, wenn Thal, Gebirg und Garten…“, das sich wiederum auf den 5. September 1828 bezog, als Goethe etwa in meinem jetzigen Alter war. Einst von mir – einem Jüngling zweifellos – gelesen „im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen“: 1959. Könnte einem da nicht auch heute noch das Herz im Leib zerspringen?

Zurück in die Schule (des Lebens)! Z.B. hier.

ENDE

Rhythmus üben?

Ausgerechnet bei Schumann

Wieso „ausgerechnet“, – gerade bei ihm! Die Schwerpunktverschiebung im dritten Satz seines Klavierkonzertes kennt wohl jeder musikalische Mensch, aber wer hat sie im Blut? Bitte die Melodie singen und die Taktanfänge klopfen. Und zwar ohne Noten, denn die Melodie ist wirklich leicht zu behalten. Hier – schauen Sie auf die Uhr, nach genau 60 sec. kommt’s, unmittelbar nach dem Klaviersolo!

Was man in meinem Notenbild sieht, wäre ein 6/4 Takt, vielleicht besser als 3/2 aufzufassen, das wäre jedenfalls ganz „natürlich“. In Wahrheit hat Schumann seine eigene Melodie offenbar absichtlich missverstanden. Sonst wären Sie eben nicht aus dem Takt geraten…

Anders gesagt: wir hatten bis hier einen schnellen 3/4 gezählt, 2 Takte davon (zusammengedacht) ergäben auch einen 6/4, allerdings eben als „2 mal 3“ aufgefasst; man kommt nicht auf die Idee, plötzlich „3 mal 2“ zu denken, und hört bei (weiterhin) „2 mal 3“ die Viertelanschläge plötzlich auf „falschen“ oder leeren Taktteilen.

Er muss es gewollt haben, er hat eine Irritation eingebaut, jedenfalls für uns Zuhörer, die das Werk nicht am Klavier studiert haben: es ist ein Vexierspiel, nein, es gleicht im Visuellen einer Kippfigur. Schlagen Sie ruhig noch einmal den Takt ab Anfang – einfach „ganze Takte“ – das sind hier die Betonungen, die sich „natürlicherweise“ anbieten, etwa im Sekundenabstand, und beobachten Sie, was nach ziemlich genau einer Minute mit Ihnen passiert.

 Schumann original

Sobald man es weiß, ist es leicht, und bleibt reizvoll, Brahms hat diesen Wechsel oft genutzt, allerdings nicht mit den irritierenden Pausen. Siehe Intermezzo C-dur op. 119, Nr 3. Hier eine Studie erstaunlicher Dissensen, die aber eher das Tempo betreffen. Und hier die rhythmische Verwandlung des Themas visuell:

 am Anfang

 in der Mitte

 am Ende

Ich will aber letztlich auf etwas anderes hinaus, jedenfalls auf eine nützliche rhythmische Übung, vielleicht eher für Streicher. Oder Leute, die ein sensibles Thema singen können und dazu auf den Tisch hauen wollen. Auch wenn das barbarisch ist. Das Thema beginnt im folgenden Beispiel genau bei 1:34, Sie können es also ruhig schon üben!)

Das bloße Thema sieht also folgendermaßen aus:

Auch hier hört man die Melodie anders als er dasteht, nämlich so, als fiele die Eins des Dreier-Taktes jeweils auf die Note mit Punkt. Aber das ist nur ein Teil-Problem, denn es sind die nachschlagenden Achtel der begleitenden Instrumente, die den Schwerpunkt der Melodie auf andere Weise in Frage stellen. Jedenfalls aus Sicht der armen Spieler.

Die Melodie liegt in Zeile 1 beim Cello, die drei anderen schlagen in Achteln nach. In Zeile 2 übernimmt Violino 1, die anderen drei schlagen nach. Ab Zeile 3 und 4 spielt Violine 1 die Wiederholung der Zeilen 1 und 2, das Cello spielt einen Kontrapunkt dazu in gleichmäßigen Vierteln, Violine 2 gebundene Achtelketten, die Viola durchgehend Synkopen zu den Viertelnoten, führt also die Kette der nachschlagenden Achtel auf seine Weise allein fort. Die Chromatik am Ende der Zeile 4 führt aus dieser Periodik hinaus in eine Ritardando-Passage.

Es geht jetzt darum, dieses Thema auswendig zu können, es singen zu können, um sich dabei auf die in Achteln nachschlagende Begleitung zu konzentrieren. Der rechteckige Schlüssel vorn bedeutet: auf dem Tisch, rechts (oben) die Melodiehand zum Mitsingen, links (unten) die Nachschlaghand… Zeile 1, Zeile 2 … Sie dürfen nach einer Weile des Übens auch auf die Noten oben in der 4-zeiligen Version schauen. Aber bleiben Sie locker… Es ist nur ein Spiel…

Schumann – Ende. Von hier kann man leicht nach Afrika kommen, wenn Sie wollen. Es ist gesund. Ich behaupte, in den Hirnkammern bewegt sich was, die Moleküle reiben sich freundlich aneinander. Oder so ähnlich.

Mein Lieblingsrhythmus („Omele“) wird in dem schönen Lehrbuch von Volker Schütz folgendermaßen dargestellt:

Quelle Volker Schütz: Musik in Schwarzafrika / Arbeitsbuch für den Musikunterricht in den Sekundarstufen / Institut für Didaktik populärer Musik / Oldershausen bzw. später: 21436 Marschacht 1992 / Seite 56

Ich selbst bevorzuge die integrierte Schreibweise beider Hände und beobachte einmal die gleichmäßig schlagende linke, ein andermal die rechte mit ihrer afrikanischen „Urformel“:

Schumann op. 41,2 am Dienstag 23. Juli 2019 Köln-Refrath

Es geht weiter mit den rhythmischen Finessen, die so leicht aussehen und im Flug vorübergehen:

 Scherzo ⇒Trio Geige II

Auf Youtube hier, dann gleich auf 13:00 gehen, der abgebildete Übergang vom Scherzo zum Trio erfolgt nach 14:08 (genau bei 14:20).

(Frühere Stationen Okt. 2015 mit demselben Streichquartett op.41,2 hier, hier und hier.)

Rhythmus üben? Ja, mit Händen und Füßen im Gehirn.

Warum ein „Opus“ keinem Schloss gleicht

… aber im Einzelnen wie im Ganzen erschlossen werden muss.

JR Mannheim_Schloss_Ehrenhof

Der Vergleich mit Musik ist beliebt, ebenso der Hinweis auf den Spruch, dass Architektur gefrorene Musik sei. Und die formale Abrundung einer symmetrischen Form wirkt so unmittelbar einleuchtend, dass man sie für universal gültig hält. Sie scheint ihre perfekte akustische Entsprechung zu finden, wenn ein Musikstück von einem kontrastierenden Mittelteil abgelöst wird und danach unverändert wiederkehrt: bekannt als ABA-Form, wie man sie z.B. im barocken Dacapo-Satz findet, oder im Marsch mit einem „Trio“ als Mittelteil. („Trio“, weil dieser Mittelteil im Gegensatz zum Tutti-Hauptteil oft von nur drei Instrumenten ausgeführt wird.) Ein entscheidender Unterschied gegenüber schlossähnlichen Bauwerken besteht darin, dass die identischen Außenteile musikalisch gewichtiger sind als der Mittelteil, während beim Schloss alle sekundären Gebäudeabschnitte links und rechts auf den zentralen Bau bezogen sind, der auch alle Seitenteile überragt. Man „liest“ dieses Gebäude von der Mitte aus, und jedes Detail zusammen mit der ihm gegenüberliegenden Entsprechung, jede Abweichung würde irritieren;  eine Musik, auch wenn man sie sich nur vorstellt, von links nach rechts. Die Wiederkehr des Gleichen wird wahrgenommen, aber eine Abweichung würde nicht irritieren, vielleicht sogar gar nicht wahrgenommen.

Eine Musik aber, die insgesamt so „simpel“ konstruiert wäre wie dieses Gebäude, mit diesen Fensterfronten, Flächen und Dächern, hätte vielleicht wenig Kunstanspruch. Ein schematisches Gebilde ohne charakteristische Motive ergäbe allenfalls eine einfache Art Minimal Music. Sollte man von vonherein in Betracht ziehen, dass die Innenräume dem Auge (dem Ohr) Überraschungen bieten, die der Besucher zu schätzen wüsste? Kaum. Sie hätten keinerlei zwingende Verbindung zur äußeren Form, was etwa der Folge von Zimmern und Sälen pro Stockwerk einen Sinn gäbe. Als Musik hätte jeder einzelne Raum eine Ausgestaltung, die mit der äußeren Form in Wechselwirkung stünde.

Man vergleiche die Wiederholungen einer Fensterfolge mit der relativ  sinnlosen Wiederholung einer Silbenfolge und deren höchst sinnvoller Wiederholung, sobald sie von Musik getragen wird (die Idee stammt von Victor Zuckerkandl):

Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen,
Tönt freier und freudiger der volle Choral:
Trallala lala, trallala lala,
Trallala! Trallala! Trallalala lalala lalala lalala!
Lala, trallala! Trallalala lalala lalala lalala!
Trallalala! Trallalala! Trallalala lala!

Stimmt die Silbenfolge? Oder gibt es irgendwo ein „lalala“ zuviel? Schwer zu entscheidende Frage, – in der entsprechenden Musik jedoch wäre ein ähnlicher Zweifel an der richtigen Zahl der Motiv-Wiederholungen ausgeschlossen. (Siehe im folgenden Beispiel – passend zum wiedergegebenen Text – ab 0:31).

Ein scheinbar einfaches Opus, genial erfunden, strophisch, nicht symmetrisch gebaut, musikalisch sinnvoller Unsinn:

Carl Maria von Weber: Jägerchor aus „Der Freischütz“

Vielleicht kann nur ein größer gestaltetes, vielfach gegliedertes Musikwerk als Ganzes – von außen gesehen und von ferne erinnert – das Wort vom „opus perfectum et absolutum“ evozieren. Im Fall – sagen wir – der Ciaccona für Violine solo von J.S.Bach könnte man in der Reihung der Variationen und der großen Dreiteiligkeit der „Blöcke“ in d-moll / D-dur / d-moll auf die Idee kommen, dass es einem Bauwerk gleicht, einer Kathedrale etwa. Trotzdem ist das ein völlig unzureichendes Bild. Jeder macht einmal die Erfahrung, dass „Die Chaconne“ jeden Rahmen zu sprengen scheint, was ja dazu geführt hat, dass sie isoliert wird. Manche Geiger spezialisieren sich auf dieses „Opus“, Busoni hat nur diesen Satz für den Konzertvortrag am Klavier bearbeitet, und viele Musikkenner schenken den übrigen Sätzen der zweiten Partita kaum besondere Beachtung. Der Mensch neigt dazu, Dinge aus ihrem Zusammenhang zu lösen, um sie als Einzel-Dinge handhabbar zu machen, auch wenn sie leben, – Chamissos Riesentochter vergleichbar, die einen Bauern samt Pferdegespann und Pflug in ihr Tüchlein packt und als niedliches Spielzeug nach Hause trägt. (Siehe hier.)

Man unterscheide zwischen dem, was man fühlt und hineinlegen möchte, und dem, was man sieht und hört…

Strand De Slufter 160616

(Foto E.Reichow)

Der schwarze senkrechte kleine Strich auf dem Foto, das bin ich. In Wahrheit – wenn man ihn anklicken und aufklappen würde – stünde dort das Mannheimer Schloss, an das ich fortwährend dachte, zugleich im Sinn den Lerchengesang und die Seevögelschreie, die ich bis eben – noch auf grasiger Fläche wandernd – von allen Seiten gehört hatte.

Zur Frage der großen Form und der (entscheidenden) Binnenstruktur lese man auch im Bach-Blogartikel hier ab Seite 417.

Wildes Geflecht Texel 17062016 (Foto: E.Reichow)

Es könnte ein Garten sein, ein Urwald, auch ein Gebäude, ein Labyrinth, oder besser ein Luftschloss, dessen Räume sich verändern, wenn man erst Eingang gefunden hat. Sind es Wesen, die einem begegnen, Geister oder Tiere, die zu sprechen beginnen, wenn man sie anschaut? Da gibt es niemanden, dem all dies gehört, vielleicht wohnen sie hier oder sie lösen sich in Nichts auf, nachdem sie ihre Spuren hinterlassen haben. Vielleicht kehren sie plötzlich wieder. Vielleicht sind wir es, die weiterwandern. Das eine steht fest: das Gebäude steht nicht einfach da, – was da steht und geht und sich wandelt, muss durch unsere innere Bewegung erschlossen werden. Da ist kein Besitzer. Der einzelne Raum, die weiteren Sphären, die Wege, der Garten, das Blumenbeet, die gesamte Anlage, der Blick in den Sternenhimmel.

Um der Beliebigkeit auszuweichen, behaupte ich, dass die Umschreibung, ein Pianist, der ein großes Werk vorträgt, sei einem Schlossherrn zu vergleichen, der den Besuchern stolz seine Schätze präsentiert, hier einen kostbaren Leuchter, da einen edlen Gobelin und dort oben die schmucken Stuckarbeiten, schlicht ehrenrührig ist. Das Wort „Schloss“, das die immanente Gewichtigkeit des musikalischen Kunstwerks andeuten soll, steht für nichts anderes als dessen Verdinglichung, der Präsentator für nichts anderes als den dümmlichen Erben, der anderen vorführt, was ihm selber fremd geblieben ist. Das genaue Gegenteil aber verkörpert jeder Pianist von Rang: seine Arbeit changiert zwischen Interpretation und Identifikation. Und er versucht, sein Publikum auf den gleichen Trip zu bringen. Sonst würde er nicht da vorn auf der Bühne sitzen. Alles andere ist Unterstellung oder Projektion.

Vielleicht kommt der absurde Vergleich mit dem Gebäude aus der klassischen Rhetorik: wo man den Inhalt einer Rede, um sie besser im Gedächtnis zu behalten, thematisch geordnet in den Räumen eines Hauses verteilt, die man dann beim freien Vortrag nur systematisch abzuschreiten braucht. Das bedeutet aber durchaus nicht, dass es für das Verständnis der Rede notwendig sei, an ein Gebäude zu denken.

Worauf haben vielmehr die barocken Meister selbst die Phantasie des Fürsten, der höfischen Gesellschaft oder des aufstrebenden Bürgertums am ehesten zu lenken versucht?

Im Zusammenhang mit Bachs „Kunst der Fuge“ verweist Peter Schleuning auf das Vorbild der Kunstbücher, die oft auch „Kunststück“-Sammlungen waren.

Viele von ihnen geben im Titel und (…) auch in der Titelabbildung Hinweise auf Gärten und Blumen – „Hortus musicus“, „Musicalischer Blumenstrauss“, „Hortulus violinicus chelicarum modulationum floribus curioso amoenus“, „Musicalisches Blumen-Büschlein“, „Giardino del piacere ovvero Raccolta di diversi fiori musicali“, Musicalischer Lustgarten“, „Fiori musicali“ – um durch deren Symbolik „eine dem „Captum nostrum“, dem althergebrachten Wissensgut, entsprechende Einbindung des Neuen in das Bewährte, Alte zu demonstrieren“ (Defant, 148).

Schleuning fragt sich, ob Bach nicht auch einen solchen Titel im Sinn gehabt haben könnte, zumal der Erstdruck der „Kunst der Fuge“ mit Blumenornamenten geschmückt war. Also vielleicht: „Musikalische Pflanzschule“ oder „Musikalischer Blumengarten“? Wobei er quasi augenzwinkernd hinzufügt: Manche Analysierenden würden gewiß eher zu „Musikalischer Urwald“ raten… (S.229)

Quelle Peter Schleuning: Johann Sebastian Bachs ‚Kunst der Fuge‘ / dtv Bärenreiter Kassel 1993

Schleuning Bach Blumen

Eins der Beispiele, die Schleuning in seinem Kapitel „Blumen und Patriotismus – Ideologie III“ wiedergibt.

Wenn all dies für Bach gilt, um wieviel mehr für den Romantiker Schumann, eines seiner Lieblingsbücher von Jean Paul – „Siebenkäs“ – trug den barockisierenden Untertitel „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke“. Nichts da von symmetrischen Fensterreihen und hohlen Schlössern, die vielleicht als Ruinen wieder interessant würden. (Den ersten Satz seiner monumentalen C-dur-Phantasie hatte Schumann ursprünglich mit „Ruinen“ überschrieben.) Nicht selten kam ihm bei Meisterwerken pflanzliches Wachstum in den Sinn:

Beethoven, der bis zum letzten Atemzuge rang, steht uns als ein hohes Muster menschlicher Größe da; aber in den Fruchtgärten Mozarts und Haydns stehen auch schwerbeladene Bäume, über die sich nicht so leicht hinwegsehen läßt …

Aus einer Rezension Schumanns über ein Streichquartett von Herrmann Hirschbach (1842).

Um den besonderen Fall der Schumannschen großen Form zu beleuchten, könnte man Bach, Beethoven, Jean Paul und Eichendorff heranziehen, aber einfacher wäre der Einblick nicht zu haben.

Das „opus perfectum et absolutum“ darf – anders als der provinzielle Kantor aus dem 16. Jahrhundert, der die Formel aufbrachte, meinte – muss nicht unveränderlich stillstehen und ein für allemal austariert sein wie ein Schloss des absolutistischen Monarchen. Horst Bredekamp hat ein wunderbares Buch geschrieben über „Leibniz und die Revolution der Gartenkunst“ , Untertitel: Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter (Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2012).

ZITAT (Seite 130):

Der Große Garten von Herrenhausen (…) bietet darin einen Sonderfall, dass er gegenüber dem ihn bedingenden Schloss von Beginn an einen eigenen Rang entwickelt hat. Die Spannung zwischen Bestimmung und Autonomie ist in Herrenhausen in einer Weise auf die Seite des Gartens verschoben, dass dem Schloss ein eher begleitender denn dominierender Status zukommt. Damit konnte der Große Garten zum Gegenmodell der zeremonialen Gestaltung werden. Indem er die Unendlichkeit der Schöpfung als interne Entfaltung zeigt, ist er von künstlicher Natürlichkeit, und seine geometrische Anlage vollzieht nicht etwa eine Bändigung von Einzelformen, sondern einen Ausschnitt theoretisch unendlicher Möglichkeiten. Er verkörpert nicht den Zwang, sondern die Freiheit, und seine technischen Finessen suchen die Natur nicht zu überwältigen, sondern die in ihr wirkenden Kräfte als Ineinander von Geometrie und Vielfalt zu aktivieren.

Robert Schumanns Opus 17 hier:

Zum Vergleich: Svjatoslav Richter – hier. Wunderbar, klar und ergreifend.