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Musikanalyse fürchten?

Jeder weiß: man kann nicht erwarten, dass die Analyse genau so attraktiv ist wie das Musikstück selbst, dessen rätselhafter Schönheit man vielleicht gerade durch genauere Betrachtung näherkommen will. Greifen wir ein Bruchstück heraus: Wird am Ende herauskommen, dass dieser Dschungel aus Tönen übersichtlich wird?

Bach cis-moll Fuge Detail

Mit Bestimmtheit wäre zu antworten: Ja, ganz gewiss! Auch wenn ich es noch nicht neu geübt hätte, könnte ich sagen: Bach Wohltemperiertes Clavier II Fuge cis-moll, „irgendwo in der Mitte“. (Genau: die Takte 32 bis 47  aus einer Gesamtzahl von rund 70 Takten.) Die längeren Notenwerte oben am Ende der ersten Zeile sind das zweite Thema der Fuge. Als ich sie in den 80er Jahren zum ersten Mal geübt habe, hat mir mein Sohn heimlich in die Spielnoten eine Mahnung geschrieben, weil ich lange Zeit nicht mehr von vorn begann, sondern immer hier auf der zweiten Seite, wo zum erstenmal dieser chromatische Abstieg thematisch wird (er hatte wohl heimlich nachgeschaut, ob dies das Thema der Fuge sei):

Bach cis-moll Fuge Seite 2 Detail

Nein, das zweite Thema, – aber wo genau beginnt es? Die durchgehenden Sechzehntel jedenfalls gehören zum ersten Thema… Ich muss analysieren und vorläufig aufhören zu spielen… Aber soll ich mich etwa in eine graphische Analyse wie die folgende versenken? Das braucht doch eine Stunde mindestens. Soll ich nicht lieber weiterüben???

Bach cis-moll Fuge DÜRR

Quelle Alfred Dürr / Bärenreiter ISBN 3-7618-1229-9 Seite 278

Und wo steht in der Analyse, wie schön die Fuge ist? Natürlich nirgendwo. Das ist nicht die Aufgabe der Analyse. Es ergibt sich ja auch nicht beim Blick auf die Noten. Sondern erst wenn sie erklingen, und nicht schon beim ersten Mal, sondern erst nach zwanzig Mal hören und (am besten) Spielen, – und dann erst entstehen die Fragen nach dem Warum.

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Ich stehe nicht allein mit meiner Verwunderung darüber, dass mich die eigenen Fragen nerven. Peter Schleuning schreibt einmal in seinem Buch über die Brandenburgischen Konzerte von Bach:

Es ist eine Binsenweisheit, wenn immer wieder – anklagend oder entschuldigend – beteuert wird, dass eine Analyse nicht den Eindruck der Musik wiedergeben kann. Dazu ist sie auch nicht da. Sie soll ergründen und darzustellen suchen, was sich unter der unmittelbar hörbaren Oberfläche an Beziehungen und Zusammenhängen tut und wie dieses sich auf den Höreindruck auswirken oder diesen gar bereichern kann. Selbstverständlich kann keine noch so einleuchtende Analyse und ebenso wenig eine noch so schöne Tabelle einen Eindruck von der unermüdlichen Kraft und Frische dieses Konzertsatzes vermitteln, von diesem quasi-naiven, munteren Ernst, mit dem die Musik uns fortträgt.

Er schreibt das anlässlich des dritten Konzertes in G-dur und erwähnt wenigstens in seiner Analyse die Spannung, die von diesem „munteren“ Satz ausgeht. Und in diesem Sinne ist die Fuge – zwar nicht munter – aber doch auch unablässig in Bewegung und entwickelt ebenfalls eine außergewöhnlich Spannung.

Im Fall des Brandenburgischen Konzertes gibt es noch ein separates, geradezu unlösbares psychologisches Problem: da gibt es drei Instrumentengruppen, und jeweils drei einzelne Instrumente, die dasselbe spielen, einen ganzen Satz lang, viele viele Töne, und Bach schreibt dreimal diese selbe Sache untereinander. Warum??? Warum nicht nur einmal und an den Anfang ein „alle drei“? Aber das ist ein völlig anderes Problem, das lese man bei Schleuning nach. In unserer Fuge ist kein Takt mit einem anderen identisch, und selbst die Themen und die Relationen wandeln sich.

Noch einmal zu Chopin (ergänzend zu diesem Beitrag)

Was der analytische Blick zum Beispiel zutage fördert, – in meinem Fall erst nach Jahrzehnten -, ist folgende Auflösung für den Schluss des Impromptus in As-dur. Früher habe ich es einfach als schöne aber irgendwie beliebige Idee hingenommen, wie diese choralähnliche Formel sich auflöst und quasi in der Ferne entschwindet, im letzten Terzklang Unendlichkeit andeutend.

Chopin Impromptu As Schluss

Die „choralähnliche Formel“ – das ist doch nichts anderes als der Abschied von der Melodie des Mittelteils! Die aufsteigende Linie g – as – b – c ist übriggeblieben, sie ist das Ziel der Linie gewesen, das die Cantilene des Mittelteils so oft vergeblich oder jedenfalls stockend angestrebt hat. Sehen Sie hier den rasanten Abgang und dann die 4 Takte mit der Melodielinie (vereinfacht  gesagt:)  c – f – g – as –  b  – c  (und dann das Verweilen, das Nichtzurechtkommen mit diesem Ton c, die Rückkehr und das Zurückfallen auf den Ausgangston c und Neubeginn derselben Melodielinie mir neuem Scheitern). Und nun betrachten Sie, wie das harmonisiert ist: es ist bereits das Gerüst des abschließenden Chorals, wenn wir einmal bei der willkürlichen Benennung bleiben wollen. Die Behandlung des Tones c , sowohl in Takt 38 als auch in Takt 46 mit der vorangehenden bedeutungsverstärkenden Figur, und dann die Riesen-Corona vor dem großen c in Takt 49: das alles will uns doch eine Geschichte erzählen! Eine Geschichte, in der es scheinbar nur um bestimmte Töne geht. Ich breche ab… sonst erzähle ich sie noch, in wortreicher Attitüde. Da spiele ich sie doch lieber!

Chopin Impromptu As Mittelteil

Ich habe noch einmal die Beschreibung dieses Stückes bei Tadeusz A. Zielinski gelesen (Chopin 1999 Seite 524) und finde sie völlig inakzeptabel. „Brillante Eleganz“? Ist es nicht eher die Unrast eines Verzweifelten, die dieses Stück umtreibt? Alles andere ist nur Maskierung, die für Salonfähigkeit sorgt. Oder soll ich doch sagen, an welche Geschichte ich denke? Stellen Sie sich doch einfach mal vor, dass der Ton c nicht nur ein Ton ist, sondern ein Mensch, eine Person. Ich phantasiere. Angenommen, sie hieße Caroline. Wie spannend wäre alles, was um ihren Ton herum geschieht, – wie er inszeniert wird, wie sich ihr Gesicht verändert…

Ach, ich ahne es: jetzt wollen Sie plötzlich viel mehr Analyse als mir lieb ist … ich ziehe die Reißleine, also Schluss damit! Nur noch ein kurzer Blick auf die Widmung des Werkes … wie bitte? A Mademoiselle … Caroline de Lobau… Nein!!!!!!!!!!