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Matthäuspassion in der Kritik

Das Musterbeispiel

… einer schlechten Rezension. Unbegreiflich eigentlich, dass dergleichen in einer großen Tageszeitung durchgeht. Da wird der Eindruck erweckt, es gehe um eine Neuaufnahme, nämlich die im Mittelpunkt abgebildete, in Wirklichkeit gilt ihr nur ein Bruchteil des Textes. Am meisten ist von Gillesberger die Rede, der nun wirklich einem glücklich überwundenen Zeitalter der Bach-Interpretation angehört.

Was hat die Zeit der frühen Wiederentdeckung Bachs, die ganze historische Ahnungslosigkeit jener Wendezeit (Respekt für Zelter, Goethe und andere große Geister!) mit der heutigen Zeit der Gesamtfassungen zu tun? Steht etwa Hans Gillesberger für die alte unbefangene Zeit der großen Gefühle und der kurzen Geduld? Und gibt es tatsächlich kein anderes diskutables Aufführungsereignis der vergangenen 60 Jahre als John Neumeyers Ballettfassung? Nichts von Ton Koopmann, J.E.Gardiner, René Jacobs, Peter Dijkstra? Und wenn man neue Interpretationen prinzipiell pars pro toto behandeln will, – warum diese dumme Rede von der angeblich „schwarzen Pädagogik“ des Bass-Rezitativs, das sich auf Bibelworte bezieht? Samt der anschließenden Gamben- Arie, wobei suggeriert wird, dass diese irgendwo auch mal von einem Knaben oder Kind gesungen worden sein könnte. Da wird in kryptischen Anspielungen eine nicht vorhandene Kennerschaft vorgespiegelt. Es ist ein Bass, und muss so sein.

Die beiden zitierten Texte haben offensichtlich mit den Stichworten des Evangelisten zu tun, wo vom „Kreuzigen“ die Rede ist und davon, dass die Leute einen Mann namens Simon ZWANGEN, das Kreuz zu tragen, was dann – im Kommentar – auf jedermann, jede/n von uns projiziert wird: „Ja! freilich, will in uns das Fleisch und Blut gezwungen sein, je mehr es unsrer Seele gut, je herber geht es ein“. Und das soll nur ein gestandener Bass singen dürfen und kein Kind, weil sich sonst die Gemeinde nicht identifizieren kann? Die Begründung ist absurd. Was für ein kindliches Denken! Tatsächlich ist es ja eine Bass-Partie, und der Rhythmus der Solo-Gambe in der nachfolgenden Arie spricht von Schlägen des Rohrs, von der Geißelung, die Jesus erlitten hat (s. vorvoriges Rezitativ). Ein Kind steht gar nicht zur Debatte, obwohl allen bekannt ist, dass wir sämtlich Kinder Gottes sind, erst recht Jesus selbst. Der übrigens auch kein „gestandener Bass“ gewesen sein müsste, obwohl seine Christus-Worte grundsätzlich dem Bass zugeteilt sind. – Wenn es heißt, dass von den „zween falschen Zeugen“ einer Falsettist singt (was erstens Bach nicht vorschreibt und zweitens schlechtes Deutsch ist), dann soll das gewiss nicht signalisieren, dass er „ein falscher Sopran“ ist, wie der Rezensent meint. Er oder sie ist Alto, wie es wohl in der Partitur steht.

Und noch ein anderes Detail, das hier zur Schlüsselszene erklärt wird (wobei zu bedenken ist, dass die Passionsgeschicht vor allem aus Schlüsselszenen besteht):

„Herr, bin ich’s?“ Das sind 5 schnelle Frage-Takte, die von der darauf folgenden Antwort des Chorals leben: „Ich bin’s, ich sollte büßen“. Soll man glauben, dass irgendein Chor der Welt oder einzelne Chorsolisten diese Frage jemals „herausbrüllen“ durften? Und dass nur in einer ängstlich verschüchterten Interpretation „der Schrecken seine tiefe Wirkung“ entfalten kann, eine Wirkung, die für jedes empathisch mitfühlende, mitbüßende Herz gewiss erst im Choral zutagetritt.

Da ist einerseits die vorgespiegelte Sensibilität der Detailkenntnis, andererseit ein unglaublich pauschales Denken: wer vergleicht denn schon Bach mit Schütz, wenn es um eine Matthäus-Passion geht!? Was für eine Taktlosigkeit! Was für ein Sprachverständnis, was für eine Spiegelfechterei, hier zwischen dem gesprochenen und dem vertonten Wortklang zu unterscheiden. Nichtmuttersprachler! Was für ein Dilettantismus, was für ein jämmerlicher Versuch, den Dilettanten zu imponieren! Und solch ein Schreiberling spricht von Einspielungen vergangener Jahrzehnte als einem Wettbewerb um „den originalsten Instrumentalklang oder die plakativste Dramatik, bis hin zum musikalischen Schmierentheater“.  Das Wort „Gehirnwäsche“ scheint ernst gemeint. Und da soll eine neue Unaufgeregtheit als Tugend ausgerufen werden??? Sind denn Blitz und Donner jetzt endgültig in Wolken verschwunden? Ich hoffe nicht. Und werde mir heute Nacht die „Pygmalion“-Aufnahme anhören. Hoffentlich nicht ohne die zugehörige Erschütterung, die mir durchaus ein bisschen wie Aufgeregtheit vorkommen darf. Es wäre nur angemessen.

Mit einer verkappten Unverschämtheit geht die Rezension zuende:

Und doch dienen alle kunstvollen Mittel hier nur einem Zweck: der Erhebung des Menschen, wie man das damals pathetisch sagte, durch die Kunst.

… Erhebung des Menschen??? Hybris statt Demut? Bach jedenfalls hat „als Finis und Endursache“ aller Musik immer „Gottes Ehre“ hervorgehoben und dann erst „die Recreation des Gemüts“. Sonst sei es ein „teuflisches Geplärr und Geleyer“. Aber vermutlich will der Rezensent nur eine zeitgemäße Anspielung unterbringen, – und will gleichzeitig nichts gesagt haben:

In Zeiten, in denen gute Kunst allerdings nur von guten Menschen hervorgebracht werden kann, wird das schwieriger. Gut, dass wir von Bachs Privatleben so gut wie nichts wissen.

*     *     *

A propos Gillesberger: Harnoncourt soll sich angeblich an dessen Stelle aufs Cover der CD-Fassung katapultiert haben? Rufmord. Mir schien, jener hat die Chorpartien einstudiert, dieser den Concentus Musicus geleitet. Wer hat vorn gestanden? Nun stehen sie wohl beide auf dem Cover, und es ist klar, welcher Name nach so vielen Jahren aus Sicht der Firma attraktiver war. Die optische Aufteilung entspricht halt der gefühlten Realität. Und da sollte man einfach nochmal gründlich recherchieren, wer von beiden die respektablere Lebensleistung präsentieren kann. Gerade im Blick auf Bach. Wie dem auch sei: man spürt eine latente Demagogik. Mit einer Korrektur beginnen könnte man z.B. hier. Aber es lohnt sich auch, eine Reihe von Aufnahmen durchzuschauen, in denen ein Chor mitwirkt, dessen Leiter einmal die Gesamtleitung innehat (z.B. Tölzer Knabenchor: Gerhard Schmidt-Gaden), während sie ein anderes Mal bei jemand anderem liegt (Gustav Leonhardt), ohne dass man eine listige Amtserschleichung argwöhnen muss. (Beispiele ganz unten)

Es folgt die Kostprobe einer Promo-Aufnahme mit „Pygmalion“ und Raphaël Pichon („Sind Blitze, sind Donner“):

Andere Ausschnitte gibt es bei dem Journalisten Manuel Brug, der es allerdings nicht einmal schafft – pars pro toto – den Namen des Bass-Solisten (Christian Immler, nicht Irmler!) in einer vorproduzierten Radiosendung korrekt auszusprechen, hier (bei 4:24)…

Beispiele einiger CD-Titel (soeben – fast wahllos – abfotografiert)

P.S. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es mir nicht um Kritikerschelte überhaupt geht; eine gründliche Rezension ist für musikverständige Menschen eine nicht zu verachtende Entscheidungshilfe. Als sehr positives Beispiel kann die Besprechung zweier Neuaufnahmen – darunter ebenfalls die von Raphaël Pichon – gelten, ich gebe das Handyfoto wieder, das mir ein Freund zugeschickt hat. Ich merke mir den Namen des Kritikers und werde bei Gelegenheit gern die FAZ bevorzugen, wenn ich musikalischen Rat suche: Gerald Felber. Hier ist der Artikel – wie ich hoffe – abrufbar, zudem mit schönen Links versehen. Mustergültig! Ansonsten hier die etwas mühsamer lesbare Nachhilfe-Kopie für alle Fälle:

Zur Diskussion (bzw. Nach-Denken):

Nach der Lektüre einer Kritik (20.03.) in der Rheinischen Post Düsseldorf –

Johannes-Passion neu Gardiner, nachzuhören bis 10. Juli hier

Pauschalurteile zur Musik

Ein letztes (?) Wort von Nikolaus Harnoncourt

Vorgestern, am 8. März, stand in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem Dirigenten und Pionier der „Alten Musik“, und da er gerade verstorben ist, hat es (zu Unrecht!) den Charakter eines „letzten Wortes“, obwohl es schon zwei Jahre alt ist und aus unerfindlichem (oder durchaus gutem) Grund in der Schublade verblieben war.

Also Lully ist ein wirklich schlechter Komponist, der in Italien, wo er herkommt, unmöglich reüssieren konnte. Dann ist er nach Frankreich gegangen, und da hat er genau die Form gefunden, die für die französischen Musik gut war. Wie die gestutzten Hecken, die es ja in Italien noch nicht gegeben hat. Für mich eine Non-Musik.

Schlechte Musik? Von schlechten Komponisten? Kurz vorher hat er gesagt:

Das ist vielleicht nicht einfach schlecht zu finden, aber Mahler könnte ich nicht aufführen, Berlioz könnte ich nicht aufführen, Bruckner könnte ich nicht aufführen. Lully könnte ich nicht aufführen.

Hatte er die von ihm aufgeführten, auf CD eingespielten und mit großem Tamtam von der Kritik propagierten Bruckner-Sinfonien vergessen?

Jean-Philippe Rameau?

Das ist große Musik, und wenn Bruckner, dann Rameau. Denn Bruckner versucht so zu schreiben wie der Rameau, und das gelingt ihm nie.

War er recht bei Verstand? Waren solche Sätze verantwortlich dafür, dass dieses Gespräch unter Verschluss geblieben ist? Muss man es ausgerechnet jetzt hervorholen, um den verstorbenen Meister lächerlich zu machen? Hatte er je sein Placet zum Abdruck gegeben?

Gustav Mahler?

Immer“Ich!“ Das ist etwas, was mir unangenehm ist. Wenn ein Künstler immer von sich spricht. Ich hab das Gefühl, alles, jeder Ton von ihm heißt „Ich“. Das Gleiche wie bei Berlioz. Eklig.

„Ich hab das Gefühl“?? Ich, ich, ich? Entsetzlich. Oder wie soll man sagen? Jedenfalls: Mahler – „eklig“???

Kaum ein Wort, das man in größerem Zusammenhang nicht zumindest schon etwas differenzierter gehört hätte, insgesamt ein Interview (alle Originalzitate in Rot), das wie ein schlechtes Kondensat wirkt, wenn man es mit älteren, sorgfältiger ausgearbeiteten Texten vergleicht, zum Beispiel mit dem Spiegel-Interview aus dem Jahre 2007: Schön durch Schmutz / Von Kronsbein, Joachim / Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt über seine Liebe zu Alter Musik, über Ego-Komponisten und musikalische Genies in DER SPIEGEL 45/2007 vom 5.11.2007 – siehe HIER.

Zu Mahler sagt er hier immerhin noch folgendes:

Harnoncourt: Am auffallendsten ist der Ego-Bezug bei Berlioz und Mahler. Jetzt kann ich natürlich nicht sagen, dass Mahler schlechte Musik ist. Ich habe nur keine Beziehung dazu.

SPIEGEL: Auch nicht zu den berührenden Liedern?

Harnoncourt: Dazu müsste ich mich zu sehr verändern. Die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ haben mich sehr ergriffen. Ich habe selbst im Orchester gespielt, als Fischer-Dieskau sie sang. Und das ging unter die Haut. Und dann frage ich mich: Will ich das aufführen? Und ich sage sofort: Nein. Ich kann nicht genau sagen, warum.

Das ist ehrlich und relativ differenziert. Damals äußerte er sich auch noch über Bruckner ziemlich angemessen:

Harnoncourt: Nehmen Sie Bruckner und Schubert: Das sind zwei Komponisten, die beide keine Vorgänger und keine Nachfolger haben.

SPIEGEL: Wie Bach und Mozart.

Harnoncourt: Das sind zwei Gipfel, die aus der Musikgeschichte herausragen.

Viel ist damit auch nicht gesagt, aber immerhin, die Geistesverwandtschaft zwischen Schubert und Bruckner wird angedeutet. Sehr erfreulich auch die Würdigung der Lebensleistung Leopold Mozarts.

Besonders merkwürdig jedoch im SZ-Interview die Herabminderung der Bedeutung des Wissens in der Musik. Wie er dem Irrationalismus zuarbeitet, indem er zuerst sagt:

Für mich war es immer wichtig, alles zu wissen, was man wissen kann, was man erreichen kann. Um dann alles vergessen zu können, wenn es um die Aufführung geht. Denn wenn ich das Wissen höre, dann ist es eine schlechte Aufführung.

Und dann der absurde Vergleich:

Man hört, es wirkt studiert. Das finde ich auch, wenn ein Philosoph eine Rede hält. Kann mich sehr interessieren. Aber wenn ich den Denkvorgang verfolgen muss, das mag ich nicht.

Philosophie wäre also etwas anderes als ein Denkvorgang? Zweifellos ist das altersbedingt, und es ist vielleicht nicht in Ordnung, so etwas zu veröffentlichen. Harnoncourt war nicht mehr auf der Höhe seiner früheren Argumentation. Von daher vielleicht wird auch die Fehlleistung verständlich, den Schein-Pianisten Lang Lang in das letzte Mozart-Projekt einzubeziehen, als sei das alles im Vorübergehen lehr- und lernbar. Ausgerechnet bei Mozart, dem der Kollege Haydn vor allem höchste Kompositionswissenschaft bescheinigte.

Wie erfrischend ist es da, einen wachen Geist wir Reinhard Goebel über die Notwendigkeit des Wissens in der Musik reden zu hören, wie kürzlich im VAN-Magazin:

Für mich ist die Musik wie ein verschlüsseltes Bild, das man nach der Nomenklatur des 18. Jahrhunderts rückentwickeln kann. Sie können die Brandenburgischen Konzerte mit dem Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs vergleichen und Strukturen aufbauen. Was ist los, wenn wir ein Horn hören? Dann denken wir an Jagd. Was ist los, wenn wir eine Trompete hören? Dann denken wir an Fama. Was ist los, wenn wir Blockflöte hören? Dann denken wir an pastorale Güte. Was ist los, wenn wir Gamben und Bratschen hören? Dann denken wir an Trauermusik, dann denken wir ans Sterben. Das sind die objektivierbaren raisons d’être der Musik. Meine Student/innen müssen in der Lage sein, ein Stück aus sich heraus hermetisch abgeschlossen zu diskutieren: was zeigt ihnen die Partitur über die Manier des Spielens, wie ist die Beweisführung, wenn in Takt 16 das steht und in Takt 18 aber das? (…)

Diese junge Generation, die ist zum Teil so maßlos unbeschlagen, dass es schon fast wehtut. Es ist ihnen nie vorgemacht worden, etwas erklären zu müssen, außer sich selbst. „Ich will das so, also machen wir es jetzt so.“ So fängt das an. Die Selbstverliebtheit und Selbstvernarrtheit der Musiker. Und das ist ein völliges Fehlbild, was Komposition oder Kunst anbelangt, das muss ich jetzt sagen. Wenn man das nicht grundsätzlich gelernt hat, dann ist es unter Umständen später schwer, es nachzuholen. Deswegen versuche ich allen klarzumachen: suchen Sie sich irgendein Spezialgebiet, und sei es nur, weil Sie eine Meise haben. Wir brauchen ja irgendwelche Synapsen, Wachheit. Eine Studentin, eine große Virtuosin, kam einmal völlig entleert zu mir, „ich weiß nicht mehr, warum ich Musik mache, ich weiß nicht mehr wo vorne und hinten ist.“ Da habe ich gesagt, „nehmen Sie doch mal ein Buch zur Hand“. Und dann kam sie drei Tage später zurück und meinte, „das hat am Anfang so weh getan im Kopf.“ Da fiel mir ein, wie ich als Zehnjähriger meine ersten Lateinvokabeln lernen musste, irgendetwas zu lernen, wo wir keine Verbindung zu haben. Agricola, der Bauer, ara, der Altar, avia, die Großmutter, das hat so wehgetan, ich habe gebrüllt zu Hause. Bei meiner Studentin hat das dann aber total angeschlagen, heute gewinnt sie jeden Preis, kann Wissen mit Können verbinden, eine hinreißende Mischung, der kann man sich gar nicht entziehen, die spielt zehnmal so gut Geige wie der Goebel ever und hat Charme und eben Wissen!

Am schönsten Goebels Antwort auf die Frage, OB ES SCHADEN KÖNNE, ZU VIEL ZU WISSEN:

Das kann nicht sein, das Wissen ist doch die Quelle der Inspiration! Das ist atemberaubend. Im letzten Semester bin ich von Lexikon zu Lexikon gestiegen auf der Suche nach einer Erklärung eines Satzes, der gegen Johann Sebastian Bach ist. Es hat mich elementar glücklich gemacht, als ich sie gefunden habe. Das Wissen kann berauschen. Und das Mehr-Wissen berauscht noch mehr.

Quelle „Leute, ich weiß es immer noch am besten“. Ein Interview mit Reinhard Goebel. (Autor: Hartmut Welscher) in: VAN Magazin 2.3.2016 online nachzulesen HIER.