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Humor und Tragik

Die Tageszeitung als Katalysator

Ein Beispiel: man wacht am Morgen auf und ist gut gelaunt, – ohne zu wissen warum. Man ist halt lebendiger als in der Nacht um eins, als man einschlief. Und noch beim Lesen der Zeitung sucht man nach Stoff, der zum Lebendigerfühlen passt, man bleibt hängen bei bestimmten Punkten der Synapsenbildung. In der SZ beginnend bei dem Namen (und dem Gesicht) „Glucksmann“, wie war der Vorname? André, das war der, dessen Buch ich damals nicht gelesen habe, es steht im Keller, am Klavier muss ich mich nur um 180 Grad drehen, um es aus dem Regal zu greifen. Über die Dummheit. Ich las es nicht, es war mir zu rechts (? – ein Geigenschüler hatte es mir geschenkt, um mich von Adorno zu lösen). Und nun der Sohn namens Raphaël (den ich bis dato nicht kannte).

Mit einer Ästhetisierung der Politik suche Macron den realen Machtverlust des Staatslenkers, der zusehends den Spielregeln der Märkte ausgesetzt ist, mehr zu überspielen als zu bekämpfen. Hinter seinem „enthusiastischen Konformismus“ werde paradoxerweise ein Mangel an politischer Ambition erkennbar.

Aus dieser kritischen Position heraus strebt Glucksmann ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab. Mit seinem Plädoyer für eine „tragische Ökologie“ beispielsweise will der Autor die Klima- und Umweltfrage aus der Perspektive abstrakter Hypothesen in den Horizont des „Tragischen“ überführen, in dem das Ende unserer Welt die höchstwahrscheinlich auf uns zukommende Lebensrealität ist.

Hat das mit der seltsamen Ästhetisierung des Katastrophischen zu tun, die ich vor einigen Tagen verwundert zur Kenntnis nahm, siehe Rauterberg hier? Mein Missverständnis wahrscheinlich, ich brauche mehr Text; es erinnerte mich eben noch an die Parade in Paris, auch YoYo Ma spielte, und zwar die tragische Sarabande aus der Bach-Suite C-moll:

Macron wollte die in Frankreich blockierten Energien freisetzen, sein Land aus dem rebellischen Abseits holen und den Gegebenheiten der Welt anpassen, ist nach Ansicht Gluckmanns aber unfähig, die von der Globalisierung verunsicherten Bevölkerungsschichten anzusprechen.

„Ihr seid  Zehntausende und ich sehe nur ein paar Gesichter“ – dieser vom jungen Präsidenten in der Wahlnacht vor zwei Jahren im Louvre an sein Publikum gerichtete Satz machte für Glucksmann Macrons Volksblindheit offensichtlich. Er spreche zu einer Vielzahl von „Ichs“, sei als Sprössling der individualistischen Revolution aber zu keiner anderen Vorstellung des „Wir“ fähig als jener, die spiegelbildlich aus der Eigeninszenierung  seiner Macht und aus der Beschwörung historischer Mythen hervorgehe.

Quelle Süddeutsche Zeitung 6. August 2019 Seite 11 Die leere Menge Jenseits von intellektueller Überheblichkeit und moralischer Rechthaberei: Raphaël Glucksmann versucht, den Gesellschaftsvertrag neu zu begründen / Von Joseph Haniman

Der andere „Stoff“ stand im Tageblatt und erinnerte mich merkwürdigerweise an das vor einigen Tage gesehene Youtube-Video, das Henryk M. Broder bei einer Rede vor der AfD zeigt und mir als eine von prekärem Witz gezeichnete Veranstaltung in Erinnerung blieb. Wie er, im peinlichsten Einvernehmen badend, die Klimakatastrophe ironisierte. Diese unkenntliche Vermischung von intellektueller Arroganz und André-Glucksmannscher Dummheit. Man möchte es vergessen, aber es bildet ein Schleife des Erinnerns. (Damals vor 40 Jahren im WDR, als eine Kollegin den offenbar undankbaren Broder als ihre „Entdeckung“ reklamierte.) Schließlich ein fast therapeutisches Thema – als Frucht der Sommerlocherntezeit – „Der Witz als Forschungsobjekt“.

Worüber gelacht wird, hängt sehr stark mit dem kulturellen Repertoire, dem kollektiven Gedächtnis und dem Selbstbild einer Gesellschaft zusammen. Deshalb könne der Humor auch ganz schnell kippen und etwas Beleidigendes und Verletzendes bekommen, wenn Beteiligte einen anderen kulturellen Hintergrund besäßen. Als Beispiel nennt der 45-Jährige den Karikaturenstreit. „Im Westen gehört es mittlerweile meist zum Standard, selbst religiöse Autoritäten zu verlachen. In muslimischen Ländern ist das aber ganz und gar nicht so.“ Da die Menschheit in einer globalisierten Welt lebe, würden die unterschiedlichen Humorkulturen heute sehr viel schneller aufeinanderprallen als noch vor 100 Jahren: „Dann wird aus Humor ganz schnell Verletzung, weil man selbst andere Tabutoleranzen hat.“

Doch in vielen Fällen lache die Welt gemeinsam über dieselben Sachen, meint Koch. [Beispiele Charlie Chaplin oder Mr. Bean].

Quelle Solinger Tageblatt 6. August 2019 Seite 23 Der Witz als Foschungsobjekt Humor kann durchaus eine ernste Sache sein. An der TU Dresden widmet sich ein Forscher Witzen mit viel Ernst. Für ihn [Lars Koch] gehören Humor und Lachen zum Menschen wie das Herz oder der Verstand. / Von Jörg Schurig.

Auf die Unterschiede kommt es letztlich an. Ob man eher über Mario Barth lacht oder über Olaf Schubert. Slavoj Žižek ist für mich erledigt, seit ich seine Witze kenne bzw. das ganze enthemmte Interview im SZ-Magazin vom 2. August; dabei nehme ich ein paar heikle Stellen aus, z.B. über die Korrektheit in der Sexualität, wo er verständlicherweise dem Mainstream vor den Kopf stoßen will. Ich meine auch nicht seinen leicht pöbelhaften Ton; dergleichen hat seltsamerweise Nietzsche salonfähig gemacht. Unerträglich eher, dass er die Kategorie „geschmackloser Witze“ bedient, selbst zu der Frage „Wo war Gott in Auschwitz“. Andererseits habe ich sein „Parallaxe“-Buch wieder vorgenommen (das einzige von Žižek, das ich besitze, aber nur kursorisch gelesen habe), – ich bin nicht sicher, ob er wirklich was von Musik versteht, oder nur das, was sich in zugeordneten Texten als „Narrativ“ anbietet. Seine Assoziationsketten und Gedankensprünge, scheint mir, suggerieren neben souveräner Themenbeherrschung die Neigung zu bloßer Selbstinszenierung.

Ende der 80er Jahre las man an manchen PKWs ein Spruchband, das witzig sein sollte: „Mein Auto fährt auch ohne Wald“. Wer weiß, ob sich das heute noch jemand trauen würde. Ich studiere als Korrektiv zu widersprüchlichen Zeitungsberichten parallel die beiden Büchlein von Paech (und Eppler), die später zum Thema werden sollen, aber angesichts des Hitzerekordes und des vertrocknenden Waldes macht man keine Witze mehr (außer vielleicht Henrik M. Broder), man greift wieder einmal nach dem Strohhalm, oder ich darf sogar sagen: Strohbaum. Zitat aus der NZZ:

In der langen Lebensdauer eines Baumes von 150 Jahren wechselten sich immer wieder schlechte mit guten Jahren ab. So war zum Beispiel 2017 ein sehr gutes Jahr für das Wachstum. Und auch 2018 konnten viele Bäume nach einer «Sommerpause» noch Holz bilden. Sanders [Tanja Sanders, Leiterin des Arbeitsbereichs Waldökologie und Biodiversität am Thünen-Institut in Eberswalde]   mag jedenfalls nicht von einem Waldsterben sprechen, sondern nennt es ein Baumsterben.

Baumsterben statt Waldsterben

Der Wald wird in Mitteleuropa nicht grossflächig verschwinden. Trotzdem sei die Lage vieler Waldeigentümer angespannt, gibt Peter Elsasser vom Thünen-Institut für internationale Waldwirtschaft und Forstökonomie in Hamburg zu bedenken. Er erklärt das an einem Beispiel: Wenn in einem Wald Bäume im Mittel hundert Jahre alt werden, kann jedes Jahr 1 Prozent geerntet werden, damit er im Gleichgewicht bleibt. Wenn nun wie letztes Jahr rund 0,5 Prozent der Bäume absterben oder geschädigt werden, ist das für den Wald selbst noch verkraftbar. Für die Waldbesitzer heisse dies aber, dass sie auf die Hälfte des kompletten Jahresumsatzes verzichten müssten.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung 6.8.2019 Deutschland beklagt das «Waldsterben 2.0», aber wie schlecht geht es dem Wald wirklich? In Mitteleuropa nehmen die Waldschäden zu. Deutsche Waldbesitzer sprechen bereits von einer «Jahrhundertkatastrophe», ihre Schweizer Kollegen sind nervös. Experten sprechen jedoch lieber von einem Baum- statt einem Waldsterben. / Von Christoph Eisenring, Berlin.

Nachtrag: siehe dazu auch: DIE ZEIT 8. August 2019 (online hierSelbst ist der Wald Die aktuelle Forstpolitik droht alte Fehler zu wiederholen / Von Fritz Habekuss

Sie erraten es, inzwischen habe ich im Keller Klavier geübt (Brahms op.117 Nr.2) und bin mit dem Buch von André Glucksmann zurückgekehrt. Es war damals (1985) eine Dummheit, es nicht zu lesen, oder jedenfalls nur in Stichproben. Seite 167 sehe ich einen wunderbaren Vorspruch, der von Immanuel Kant stammen soll:

Voltaire sagt, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können; wenn die Mittel es bei Vernünftigen zu erregen nur so leicht bei der Hand  wären, und der Witz oder die Originalität der Laune, die dazu erforderlich sind, nicht eben so selten wären, als häufig das Talent ist, kopfbrechend wie mystische Grübler, halsbrechend wie Genies, oder herzbrechend wie empfindsame Romanschreiber (auch wohl dergleichen Moralisten) zu dichten.

Glucksmann hat das Zitat aus der Kritik der Urteilskraft, dank Google leicht zu finden: hier.

Vorgestern, am Sonntagmorgen habe ich mein Elternhaus (seit 1954) in Bielefeld wieder aufgesucht, stark verändert durch den metallenen Zugang, aber praktischer als damals (wir betraten das Haus von der Giebelseite her durch den Keller). Mein Zimmer ganz oben links, das Fenster ist durch Blätter verdeckt. Gern hätte ich die junge Dame dort gefragt, ob im Mai die Nachtigall noch oben im Garten singt, aber die Antwort hätte wohl nicht in ihr Handy-Gespräch gepasst.

 Foto: E.Reichow

Es ist nicht die Veränderung, die mich schlagartig traurig stimmt, es ist die Erinnerung an das Glück der 50er Jahre, das auf letztlich ganz unbegründeten Hoffnungen beruhte. Mein Vater starb, aber die Zukunft schien glänzend.

Lieber will ich – näher an der Realität – weiterlesen:

Wer je das Wort „Tragik der Allmende“ richtig begriffen hat (siehe auch hier), wird erschrecken, wenn er allenthalben einer ähnlichen Aporie bei scheinbar aussichtsreichen Neuerungen begegnet. Gleich folgt eine Beispielseite aus dem danach abgebildeten Buch. Es geht um Nebenwirkungen innovativer, durchaus intelligenter Entwürfe, nach deren Umsetzung es plötzlich für Korrekturen zu spät ist: [ZITAT] erstens weil die bereits eingetretenen ökologischen und gesundheitlichen Schäden nicht mehr rückgängig zu machen sind, zweitens [und nun lesen Sie bitte im Scan weiter: insbesondere den Satz von den Verwertungsinteressen, die sich herausgebildet haben und sich bestens zu verteidigen wissen, sowie von der unverzichtbaren Symbolik für individuelle Selbstdarstellung! Es ist völlig klar, dass sich auch hier das Wort TRAGIK einstellen wird:]

Ich hatte in einem früheren Blogbeitrag bereits einen erhellenden Vortrag von Niko Paech verlinkt und tue es hier noch einmal, um an einem allzu selbstgefälligen Kulturbewusstsein zu rütteln, das auch mir – so fürchte ich – nicht fremd ist; und neuerdings bedient es sich argumentativ bei Niko Paech, wenn ich mich nicht irre. Ich lese bei dem hochgeschätzten Hanno Rauterberg:

Kann eine Kunst, die das Gute und Richtige propagiert, mehr sein als ästhetischer Ablasshandel?

Niemand der die Biennale in Venedig besucht, die gerade ganz im Zeichen des Klimawandels steht, muss erst davon überzeugt werden, dass Plastik im Meer nichts zu suchen hat. […]

Wenn sich aber Künstler und Publikum so wunderbar einig sind, entwickelt die Kunst weniger eine aufklärende als eine besänftigende Wirkung. Der Besucher investiert Geld und Zeit, um die Werke zu betrachten, und bekommt im Gegenzug das gute Gefühl vermittelt, selbst keiner der geschmähten Touristen zu sein, sondern etwas ganz anderes, etwas Besseres: ein Reisender in Sachen Kultur, der garantiert auf der richtigen Seite steht. Gerade dieses Wohlgefühl ist natürlich die beste Voraussetzung dafür, dass alles schön beim Alten bleibt.

Wie wirkungslos eine sozial und politisch gepolte Kunst in der Regel ist, zeigt sich bereits daran, dass Künstler-Appelle grundsätzlich nur die anderen meinen. Diese anderen sind es, nicht die Künstler selbst, auch nicht die Museen, Theater oder Filmstudios, die sich ganz dringend ändern sollen. Es gilt die alte Regel: Je moralisierender das Pathos der Kunst, desto schwächer die Bereitschaft zur Selbstkritik.

(Bemerken Sie, wie schlau ich vor diesem Zitat Selbstkritik habe aufleuchten lassen, um ja nicht selbst in die Schusslinie zu geraten!? Und nun folgt die Quelle des Zitates, danach aber gleich die Fundstelle im Paech-Vortrag, an der der Mechanismus mit der Selbstreinigung durch Ablasshandel studiert werden kann.)

Quelle DIE ZEIT 1. August 2019 Seite 33 Die Kunst der Scheinheiligkeit Natürlich ist die Kulturwelt ganz entschieden für den Klimaschutz – und produziert doch Treibhausgase in gigantischem Ausmaß. Ist das der Preis der Weltläufigkeit? Von Hanno Rauterberg.

Und nun noch einmal – Stichwort Ablasshandel – der Link in den Paech-Vortrag HIER , gehen Sie dort aber gleich auf den Punkt 24:12, Textbeginn „Vor 500 Jahren hat Martin Luther den Anschlag zu Wittenberg verübt“.

Nachtrag zum Rebound-Effekt 

Der wurde schon 1865 von einem britischen Wirtschaftswissenschaftler entdeckt. Die Wirkungsweise ist simpel: Alles, was eingespart wird, wird woanders investoiert. Unternehmen steigern ihren Umsatz, die Profite stecken sie in die Entwicklung neuer Produkte oder in die internationale Ausdehnung, was wiederum mehr Nachfrage zur Folge hat. Und Konsumenten sparen durch Effizienzsteigerung Kosten: Wer ein Elektroauto fährt, spart Benzin. Und was macht er oder sie mit dem Gesparten? Es wird höchstwahrscheinlich in ein anderes Konsumgut gesteckt. Effizienzsteigerung führt zu noch mehr Konsum. (…)

Niemand weiß, wie Wohlstand ohne Wachstum aussähe. Allerdings weiß auch niemand, wie eine durch Erhitzung der Atmosphäre veränderte Natur sich auf die Wirtschaft auswirken wird. Tatsache ist, dass Effizienzsteigerung bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum allein nicht zur Reduktion von CO²-Emissionen geführt hat, und wenn es in der Vergangenheit nie funktioniert hat, taugt es vermutlich auch nicht ohne Weiteres als Zukunftsmodell.

Quelle DIE ZEIT 8. August 2019 Seite 3 Der Schein trügt Die Grünen nennen ihre Politik gern radikal. Wer das glaubt, sollte mal ihr Programm lesen. Wenn es verwirklicht wird, ändert sich: Nicht viel / Von Elisabeth Raether

Anschließend wäre noch zu empfehlen: das Gespräch zwischen Cem Özdemir und VW-Chef Herbert Diess, – der in einzigartiger Logik darlegt, weshalb er möglichst viele SUVs verkaufen muss, um sich die Entwicklung des extrem klimafreundlichen Elektroautos leisten zu können.

Quelle DIE ZEIT 1. August 2019 Seite 20 Ist das Auto schuld am Klimawandel ? Der Grünen-Politiker Cem Özdemir und VW-Chef Herbert Diess über SUVs, das Ende des Verbrenners und die dreckige Seite der E-Mobilität. [Online abzurufen hier.]

Heute, am 7. August 2019, lese ich noch etwas anderes, an die Stelle des oben erwähnten Vitalprotzes Žižek tritt eine Frau, deren Namen ich bisher nicht kannte, 1937 als Tochter jüdischer Eltern im algerischen Oran geboren, seit 1955 in Paris lebend.

Natürlich ist es wichtig, dass Frauen schreiben. Aber, und das ist etwas, das ich schon im Lachen der Medusa schrieb, jede große Literatur hat Merkmale dieser Weiblichkeit, egal ob sie von einer Frau oder einem Mann unterschrieben ist. Das ist das Geheimnis des Schreibens. Meine persönliche Bibliothek ist voller lebender Toter, sie schreiben alle, sie erschaffen alle Figuren, die so kraftvoll menschlich sind. Sehen Sie zum Beispiel Dostojewski an: Im echten Leben war er ein Mann mit allen Schwächen des Mannes, der vollkommen von seiner Frau abhängig war, die sein Überleben gesichert hat. In seinem Schreiben wird dieser Mann Nastassja Filippowna – eine Frau unter Frauen, mit all dem Begehren und der Verzweiflung echter Frauen. Das ist das Wunder des Schreibens. Aber es gibt nur wenige Schreibende, die dieses Menschliche schaffen können, die diese vollständige Öffnung vollziehen können, der immer eine Weiblichkeit zugrunde liegt.

Quelle DIE ZEIT 8.August 2019 Seite 37 Ist die Frage nach der Frau noch wichtig? Ein Gespräch mit der Pariser Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous. Von Anna Gien. [Über Das Lachen der Medusa siehe hier]

In derselben Viertelstunde lese ich in der Süddeutschen den Text einer Schriftstellerin, die 1981 in Petersburg geboren ist und als Kind nach Deutschland kam.

 Eine schwäbische Kleinstadt, die vierte Klasse, Mai 1992: Ich verstehe Mathe – die Zahlen – und Musik – die Noten. Sonst verstehe ich nichts. Deutsch, Heimat- und Sachkunde, und was man sonst in der Grundschule so lernt, sind keine Fächer, weil sie Farben sind. Das sehe ich, erst verwundert, dann bewundernd. Jedes Fach scheint einen andersfarbigen Heftumschlag zu haben. (…)

In Mathe schreibe ich geliebte Zahlen, sie ergeben einen Sinn. Ich schreibe die Lösungen so schnell herunter, dass es dem Lehrer auffällt, der mich an die Tafel ruft. Dorthin schreibt er eine Aufgabe, die schwieriger ist, als was wir bis eben gerechnet haben. Das Ergebnis weiß ich, ich grabe in meinen Deutschkenntnissen nach den deutschen Zahlen. „Fünfunddreissig“, sage ich, ich flüstere es. Die Sprache muss ich noch lernen, und die Lautstärke muss ich noch lernen. Und erst recht „ich“ in dieser Sprache sagen. Der Lehrer sagt nichts. Ich sage auch nichts, ich rechne noch einmal im Kopf. Und noch einmal, obwohl das Ergebnis stimmt. Da drückt er mir die Kreide in die Hand, ich soll die Zahl an die Tafel schreiben.

Es ist klar, wie die Geschichte endet. ich schreibe das richtige Ergebnis, die Dreiundfünfzig an die Tafel, das soll mal einer verstehen, warum die Deutschen die Zahlen richtig herum schreiben, aber falsch herum aussprechen. Da klatscht der Lehrer, dann klatschen sie alle, die Deutschen klatschen, für mich. Die Deutschen, unter denen mehrere türkisch-, polnisch-, kroatisch- und so weiter-stämmige Schüler und Schülerinnen sitzen, aber auch das verstehe ich noch nicht. Der Lehrer schickt mich von Tisch zu Tisch, ich soll den anderen beim Rechnen helfen. Er nennt mich Matheexpertin. Er fragt herum, ob jemand dem Schriftstellerklub beitreten will, den er heute mit mir begründet habe.

Quelle Süddeutsche Zeitung 8. August 2019 Seite 9 Vierte Klasse, keine Deutschkenntnisse Wie ich eine schwäbische Grundschule überstand und Schriftstellerin wurde. Von Lena Gorelik.

 SZ 6. August 2019 Seite 12 (Sofia Glasl)

Gestern fragte ich C.A. per Mail, was sie von diesem neuen Buch über Tango halte, heute antwortet Hélène Cissoux in der ZEIT (Quelle s.o.):

In den letzten Jahren, wenn mich eine Arbeit – und es ist immer die ganze Arbeit, nicht ein einzelnes Buch – aufgewühlt hat, waren es leider immer Werke von Männern. Der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes war eine Offenbarung für mich. Er ist mir nicht so nahe wie Clarice. Antunes ist ein Psychiater, und seine Welt ist nicht meine Welt. Es ist eine Welt voller Gewalt und Sex, aber sein Schreiben ist absolut herausragend.

Das heißt: wenn gleich geöffnet sein wird, rufe ich meine Buchhandlung an: bitte gleich zweimal für mich (und meine Tochter XX). Siehe hier.

 das Bielefelder Elternhaus am 4. August 2019

Die Holzwand müsste tiefbraun sein, nicht schmutzig-weiß. Da oben, hinter den Rosen, am Hang der Promenade, die bis zur Sparrenburg führt, sang im Frühling die Nachtigall. Im Verandazimmer starb 1965 meine Loher Großmutter in den Armen meiner Mutter.

 Handy-Fotos: JR

Der Garten, der weiter oben schon in Wildnis überging, am vergangenen Sonntag noch wie vor 60 Jahren, gehörte zu den prägenden Erinnerungen. Was ich heute hier bei uns sehen will, ist nichts anderes als eine erweiterte Reminiszenz der Verhältnisse damals. Entscheidendes Kriterium, – was ich höre: wieviel Vögel singen. (Die Nachtigall fehlt in Solingen.)

 die Loher Großeltern 1964

An der Wand der Sohn, seit 1944 in Russland vermisst. Sie warteten immer noch auf ihn. Eines Tages in den 50ern hatten sie jemand bestellt, der einen Ring über dem Foto pendeln ließ, das Ergebnis war positiv… (die Realität nicht).

Warum Wirtschaftswachstum?

Ende der Fahnenstange

  Es geht doch wieder?

Zufällig fragt man gerade danach nicht, mehr nach dem Wachstum der Temperatur.

Was also soll das mit dem Wirtschaftswachstum? Ich habe keine Ahnung warum, aber ich will wissen, warum wir daran nicht rühren sollen. Es ist doch das Lebensprinzip, sagen alle. Ich müsste also zunächst erklären, warum ich so schwarz sehe. Für mich selbst vielleicht nicht, – das wäre albern -, aber für meine Enkel. Andererseits weiß ich, dass mir niemand zuhört, wenn ausgerechnet ich die Kassandra spielte. Mein Wissen beziehe ich ja von anderen und vermag es auch nur mit Hilfe anderer zu überprüfen. Kurz und gut, ich beschränke mich auf Hinweise und lasse Menschen reden, denen ich vertraue. Nehmen Sie es hin. Und einer heißt eben Niko Paech. Mich interessiert, warum er ganz anderer Ansicht ist als die erfolgreichsten Ökonomen unserer Zeit. Heute Morgen wurde mir das Interview zugespielt, und es hat mich beeindruckt. Schauen Sie HIER .
Soll ich Zeit investieren, darüber nachzudenken? Oder reicht’s schon?! Es geht aber um viel mehr als meine Zeit heute, siehe oben: es geht um die ganze Lebenszeit meiner Enkel.

Also erkundige ich mich, ob der fremde Onkel eine vertrauenswürdige Biographie vorweisen kann. Wikipedia würdigt ihn mit überraschender Ausführlichkeit: HIER.

Und jetzt hätte ich es gern live von ihm selbst erklärt. Das folgende Video gefällt mir, weil der Vortrag durch zahlreiche Schautafeln ergänzt wird. Man braucht allerdings 50 Minuten dafür. Aber was ist das schon angesichts der nächsten 50 Jahre unsrer Enkel!?

Zugleich muss ich auf einen Zeitungsartikel eingehen, den ich inhaltlich letztlich so erschütternd fand, dass der Strohhalm einer „Postwachstumsökonomie“ sich gerade noch im rechten Moment bot. Wobei der Artikel aber auch so gut gemacht ist, dass ich mir vornahm, die narrative Technik, die mich sonst oft stört, geduldig zu betrachten; diesen journalistischen Eifer, die Trägheit des Lesers zu überlisten, – als dürfe sie einfach vorausgesetzt werden. Man glaubt, man habe sich über die Herrschaft von Menschen über Menschen schon oft genug aufgeregt, die Älteren unter uns haben zumindest dies in der 68er-Zeit gelernt. Ganz zu schweigen von der Geschichte Sklaverei, die einer ganz und gar vorrevolutionären Epoche anzugehören scheint. Trotzdem ist es gut, von einer tüchtigen Frau zu hören, die 2 Jahre jünger war als Mozart, sie lebte nicht weit von Birmingham, malte zeitlebens Bilder von Raupen und Schmetterlingen, trank täglich ihren Tee mit Zucker und wurde 71 Jahre alt. Ihr Name war Katherine Plymley, und das Schönste: es gab sie wirklich, man kann es mit ihrem Wikipedia-Artikel beweisen (hier), auch ihre Bilder findet man leicht im Netz. Natürlich wird keine Idylle daraus. Das entscheidende Signal ist das harmlose Wörtchen Zucker:

Es gab im 18. Jahrhundert noch keine Cola und keine Schokoriegel, trotzdem verzehrten die Engländer damals im Schnitt bereits fast zehn Kilo Zucker im Jahr, das Geld dafür verdienten sie zum Beispiel mit der Menschenjagd. Die Engländer waren die größten Sklavenhändler der Welt. In den Schaufenstern der Schiffsausrüster in Liverpool lagen Fußeisen, Daumenschrauben und spezielle Zangen, um Sklaven, die sich durch Nahrungsverweigerung das Leben nehmen wollten, den Mund aufzusperren.

Die Schockwirkung dieser Zeilen liegt auf der Hand, es ging um den Zuckeranbau auf Kuba, in großem Stil war das offenbar nur mit Sklavenarbeit durchzuziehen; man liest mit großer Wachsamkeit weiter, Gottseidank, unsere Heldin in spe war auf der Seite des Guten:

Katherine Plymley hörte auf, Zucker in ihren Tee zu rühren. Sie saß nicht im Parlament. Sie führte kein Sklavenschiff. Sie durfte nicht einmal wählen.

Undsoweiter, der Erfolg war bald abzusehen:

Katherine Plymley war nicht allein. Mehr und mehr Engländer fingen an, den Zucker aus der Karibik zu boykottieren. Tausende Menschen ohne Macht und Einfluss, die kein Gebäck mehr aßen und ihren Tee ungesüßt tranken.

Der Zuckerabsatz brach ein. Und was niemand erwartet hatte, geschah: Der Sklavenhandel kam tatsächlich zum Erliegen.

Ist das eine gute Geschichte? Man traut der Sache natürlich nicht. Die kurzgefasste Geschichte der Sklaverei sollte man wenigstens einmal überfliegen, es ist nicht zu fassen: HIER.

Und nun kommt die Volte des Journalisten, unglaublich, aber auch unglaublich wirkungsvoll. ZITAT:

Es gibt Zahlen aus der Gegenwart, die in einem interessanten Gegensatz stehen zu dieser Geschichte aus der Vergangenheit.

71 Prozent aller Deutschen halten die Sklaverei für das größte Problem der modernen Welt.

55 Prozent finden es in Ordnung, wenn Schulkinder den Unterricht schwänzen, um gegen die Sklaverei zu protestieren.

20 Prozent der Wähler haben bei der Europawahl für die Grünen gestimmt, eine Partei, die ihr Hauptziel in der Bekämpfung der Sklaverei sieht.

Aber fast 100 Prozent essen weiterhin Zucker. Das gilt auch für mich. Ich bin Teil eines Volkes von Scheinheiligen.

Ja, eine herrliche Wendung zum eigenen Ich und zum eigenen Volk… Finden Sie nicht? Lassen Sie diese Provokation auf sich wirken. Aber machen Sie mich ja nicht zum Schuldigen, ich bin nicht der Autor des Artikels, ich lobe ihn nur. Und er ist ein preisgekrönter Journalist. Da muss man auf alles gefasst sein. Er fährt fort:

Natürlich beziehen sich die genannten Zahlen nicht auf die Sklaverei, sondern auf die Erderwärmung. Das große Thema der Gegenwart ist nicht die Versklavung der Menschen, sondern die Zerstörung der Natur. Aber ich glaube, dass es da eine Parallele gibt. In beiden Fällen geht es darum, die Dinge billiger zu machen.

Ich vergaß, die Geschichte von der Sklaverei wirklich prägnant abzuschließen. Also die Geschichte der modernen Sklaverei in Zahlen, hier als Zitat aus dem oben angegebenen Wikipedia-Artikel:

 Von der Entdeckung Amerikas 1492 bis ins Jahr 1870 wurden mehr als 11 Millionen afrikanischer Sklaven nach Amerika verkauft. Die meisten davon (4,1 Mio.) gelangten über den transatlantischen Dreieckshandel in die britischen, französischen, holländischen und dänischen Kolonien in der Karibik. Fast ähnlich viele Afrikaner (4 Mio.) wurden von portugiesischen Händlern nach Brasilien gebracht. 2,5 Mio. wurden in die spanischen Kolonien in Südamerika verkauft. Die kleinste Gruppe bilden die ca. 500.000 afrikanischen Sklaven, die in die dreizehn britischen Kolonien auf dem nordamerikanischen Festland und in die 1776 gegründeten Vereinigten Staaten gelangten.

Aus dem Werk MUNTU von Janheinz Jahn („Umrisse der neoafrikanischen Kultur“ Verlag Diederichs Düsseldorf 1958) habe ich eine eindrucksvolle „Migrations“-Karte in Erinnerung:

Fortsetzung der Geschichte, – also: die Zahlen vorhin bezogen sich nicht auf die Sklaverei. Es ging darum, die Dinge billiger zu machen.

Zucker zum Beispiel war in Europa jahrhundertelang eine teure Rarität, verzehrt von Kaisern und Königen, bis Christoph Kolumbus im Jahr 1493, ein Jahr nach seiner ersten Fahrt, zum zweiten Mal die Neue Welt erreichte. Diesmal hatte er Zuckerrohr dabei, das damals auf kleinen Feldern auf den Kanaren wuchs. Innerhalb weniger Jahre entstanden in der Karibik große Plantagen. Was fehlte, waren Arbeiter.

1503 überquerte das erste Sklavenschiff den Atlantik. Es gibt Historiker, die in der Zuckerproduktion einen der Anfänge der Industrialisierung sehen: (….)

Zu Lebzeiten von Katherine Plymley ist Zucker das, was heute Erdöl ist: die meistgehandelte Ware der Welt. Er wird so billig, dass selbst Tagelöhner und Hilfsarbeiter ihren Getreidebrei süßen.

Den wahren Preis bezahlen die Sklaven.

Heute ist die Sklaverei abgeschafft. Stattdessen gibt es Überstundenzuschläge, bezahlten Urlaub und Kündigungsschutz. Das gilt vor allem für die Industrieländer, aber nicht nur. Auch in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern steigen die Löhne von Jahr zu Jahr. Noch immer gibt es Zwangsarbeit auf der Welt, noch immer schuften Arbeiter mancherorts für ein paar Münzen am Tag. Die Ausbeutung des Menschen ist noch existent, aber sie hat stark abgenommen.

Was zugenommen hat, ist die Ausbeutung der Erde. So wie damals die Sklaven als billige Arbeitskräfte dienten, dienen heute die Erde und ihre Atmosphäre als billige Rohstoffquelle, als Mülldeponie, als Auffanglager für Treibhausgase.

Seit den Lebzeiten von Katherine Plymley ist die globale Durchschnittstemperatur um ein Grad gestiegen.

Jetzt sind wir bald am Ziel, nicht wahr? Wir brauchen nur noch die Schuldigen. Der Autor weiß es, und lässt uns nicht im Stich. er sagt uns, was mit den Bäumen los ist, beschreibt uns die neuesten Bilder des Klimawandels, dessen Beschleunigung durch das Auftauen der Permafrostböden. Und bricht ab:

Aber genug davon. das alles wurde tausendfach beschrieben, tausendfach erklärt, jetzt soll es um die Schuldigen gehen, die Täter. Die britische Umweltorganisation Carbon Disclosure Project (CDP) hat einen Report veröffentlicht, der ihre Namen nennt. Saudi Aramco aus Saudi-Arabien ist dabei, Gazprom aus Russland, BP aus Grossbritannien, RWE aus Deutschland. Es sind die Konzerne, die das Öl, das Gas und die Kohle dieser Welt aus der Erde holen. Rund um den Globus gibt es Millionen von Unternehmen, aber nur 100 von ihnen sind nach Kalkulation von CDP für 70 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Der Report ist eine beeindruckende Rechenarbeit. Und ein Dokument der Irreführung.

Wieder so eine journalistische Volte! Sollen wir ärgerlich werden? Wir brauchten doch ein glaubwürdiges Ziel unserer Wut, und zwar auf der Basis eines echten Beweisganges! Was soll das jetzt!? Moment, es geht noch ein paar Zeilen weiter, dann können wir eine Pause einlegen…

Denn so wie es damals im 18. Jahrhundert nicht die Sklavenhändler waren, die all den Zucker aßen, so verbrennt heute nicht Saudi-Aramco all das Benzin. Gazprom heizt nicht die Häuser. RWE verbraucht nicht den Strom. Wir tun das. Ich.

Es gibt noch andere Weltprobleme, aber der Klimawandel ist das einzige, für das nahezu jeder Weltbürger mitverantwortlich ist. Ich auch.

Wenn jeder Einzelne von uns sich so verhielte wie Katherine Plymley, brauchte es keine Klimakonferenzen mehr, keine Klimaabkommen, keine Klimaschutz-Gesetze, keine Demonstrationen. Wir müssten nur aufhören, Zucker zu essen.

Der Klimawandel mag ein politisches Problem sein, aber er ist vor allem auch ein privates. Das ist der Grund, weshalb ich in diesem Text von mir selbst schreibe.

Reden wir also über mich.

Ja, genau, wir müssen den Autor haftbar machen, vielmehr: namhaft. Ignorieren wir, dass er hintergründig uns alle in Haft nehmen will, lassen Sie es ihn persönlich ausbaden. Es muss doch einen solchen Artikel online zu lesen geben, und zwar unerbittlich, ohne Sprünge, irgendwo wird sich zeigen, dass er übers Ziel hinausschießt. Der Mann heißt Wolfgang Uchatius und sagt: „Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr / Warum es in Ordnung ist, in den Urlaub zu fliegen, Fleisch zu essen – und trotzdem für mehr Klimaschutz einzutreten.“ DIE ZEIT 11. Juli 2019 Dossier Seite 13.
Nehmen Sie doch hier diese Titel-Zeile und geben Sie sie bei Google ein. Oder gehen Sie gleich zu den Leser-Reaktionen, da rühren sich auch nicht nur Dummköpfe, nämlich Hier.

Leider kann ich, was die Lektüre des originalen Papiers angeht, nicht verschweigen, dass hier auf der zweiten Seite (Seite 14) die Gefahr wächst, dass ich aussteige; es wird mir zu „anekdotisch“, besonders wenn der Autor von sich selbst als Thema zu der Lichtgestalt Leonardo DiCaprio übergeht. Dabei ist ja alles richtig und treffend gesagt, aber es ermüdet und weckt niedere Instinkte (Prominentenneid), – zu unrecht, aber es ist so! Bis man urplötzlich wieder ganz anwesend ist, auch wenn man bemerkt, dass man auf ein uraltes, aber offenbar unlösbares Problem gestoßen wird: die Tragik der Allmende. Nehmen Sie sich Zeit dafür! Sie ahnen, dass die Kuhweide – so überschaubar sie für die frühe Agrargesellschaft war – sich inzwischen in ein gigantisches Bild verwandelt hat, das auf den amerikanischen Philosophen und Ökologen Garret Hardin zurückgeht. Er verglich „die zertrampelten Weiden der Vergangenheit unter anderem mit dem überfischten Meer. Er schrieb, der freie, uneingeschränkte Zugang zum Allgemeingut führe zum Ruin aller“. Jedoch:

Von der mit Treibhausgasen angereicherten Atmosphäre schrieb er nichts. Ende der Sechzigerjahre dachten viele noch, die Erdatmosphäre lasse sich nicht von Menschenhand beeinflussen.

In Wahrheit ist sie die größte denkbare Kuhweide.

Hätte man damals, als auf der Wiese noch Gras wuchs, die Bauern gefragt, welches Problem ihnen am meisten Sorge bereite, hätten sie vermutlich geantwortet: die Überweidung. So wie die Menschen in Deutschland heute sagen: der Klimawandel. Danach hätten sie wieder ihre Kühe auf die Weide getrieben.

In der Debatte um den Klimawandel heißt es oft, die Menschen seien eben nicht zum Verzicht bereit. Ich glaube, das stimmt nicht. Hätte die Kuhweide im England des frühen 19. Jahrhunderts einem einzigen Bauern gehört, hätte er mit Sicherheit darauf verzichtet, zu viele Kühe grasen zu lassen. Das Problem sind die anderen.

Soweit wiederum Wolfgang Uchatius, und ich sehe den ganzen Leserkreis wie mich selbst in ein fast fieberhaftes Nachdenken verfallen, wie man das Problem lösen kann. Es muss doch gehen. Aber man ist schnell bei den politischen Radikalmaßnahmen, denn: wir haben keine Zeit mehr für einen demokratischen Wandel des Verhaltens (der „anderen“). Der Klimawandel ist schneller!

Jetzt kommt bei Uchatius wieder der anekdotische Teil (Helmgebrauch beim Eishockey). Ich springe einige Blöcke weiter:

Immer wenn im Zusammenhang mit der Klimapolitik jemand vorschlägt, etwas zu verbieten oder zu verteuern, heißt es, dies sei ein Angriff auf die Freiheit. Ich glaube, das stimmt, es geht tatsächlich um die Freiheit. Karl Marx hat dazu eine Geschichte geschrieben, sie ist ganz kurz: „Nach England kommt ein Yankee, wird durch den Friedensrichter gehindert, seinen Sklaven auszupeitschen, und ruft entrüstet: Do you call this a land of liberty, where a man can’t larrup his nigger?“ („Nennen Sie das ein freies Land, in dem ein Mann seinen Neger nicht durchprügeln kann?“)

Die Befreiung der Sklaven verringerte die Freiheit ihrer Herren. Genau wie später die Arbeits- und Sozialgesetze die Freiheit der Unternehmer verringerten. Durch den Kündigungschutz sind sie nicht mehr frei, ihre Arbeiter und Angestellten grundlos zu entlassen. (…)

All diese Gesetze, diese Verbote und Verteuerungen haben die Freiheit des Menschen, andere Menschen auszubeuten, eingegrenzt. Nun geht es darum, die Ausbeutung der Erde zu reduzieren. Auch das wird kaum möglich sein, ohne die Freiheit des Menschen ein wenig zu mindern. Der Klimawandel mag auch ein privates Problem sein, aber er ist vor allem ein politisches. Auch die Natur braucht Sozialgesetze.

Ich rate, auch den Schluss des großen Artikels nachzulesen, obwohl er mich ein bisschen enttäuscht. Es geht um die Freitagsdemonstrationen der Kinder, was sie bewegt haben und was sich in Zukunft bewegen könnte. Aber liege ich falsch, wenn ich mich an dieser Stelle nicht auf die Kinder („die Kraft der Schwachen“) verlassen möchte, sondern gerade für sie alles von der Politik erwarte? Und zwar Handlungsstärke in allen wesentlichen Fragen. Kein Warten auf Freiwilligkeit von seiten der Verursacher.

Quelle DIE ZEIT 11. Juli 2019 Dossier Der Mythos vom Verzicht ab Seite 13 Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr Warum es in Ordnung ist, Auto zu fahren, in den Urlaub zu fliegen, Fleisch zu essen – und trotzdem für mehr Klimaschutz einzutreten. Von Wolfgang Uchatius.

P.S. Übrigens wurde die „Tragik der Allmende“ schon von Rolf Dobelli in seinem Bestseller „Die Kunst des klaren Denkens“ (München 2011) einleuchtend beschrieben, auch was die Freiwilligkeit der Gegenmaßnahmen betrifft. Er schließt mit den Worten:

Natürlich: Es gibt Leute, die sehr darauf bedacht sind, den Effekt ihres Handelns auf die Menschheit und das Ökosystem zu berücksichtigen. Doch jede Politik, die auf solche Eigenverantwortung setzt, ist blauäugig. Wir dürfen nicht mit der sittlichen Vernunft des Menschen rechnen. Wie sagt Upton Sinclairso schön: „Es ist schwierig, jemanden etwas verstehen zu machen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“

Kurzum, es gibt nur die beiden besagten Lösungen: Privatisierung oder Management. Was unmöglich zu privatisieren ist – die Ozonschicht, die Meere, die Satellitenumlaufbahnen -, das muss man managen. (Seite 79)

„Management“, so hatte er vorher erläutert, „kann zum Beispiel bedeuten, dass ein Staat Regeln aufstellt: Vielleicht wird eine Nutzungsgebühr eingeführt, vielleicht gibt es zeitliche Beschränkungen, vielleicht wird nach Augenfarbe (der Bauern oder der Kühe) entschieden, wer den Vorzug erhält.“

Das ist nicht nur ein Scherz: es muss eben von außen geregelt werden  – und nicht nach der Einschätzung der Einzelnen.

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Ich verabschiede mich von dem beeindruckenden Artikel über die Stärke der Schwachen, die für Wolfgang Uchatius am Ende ausschlaggebend erscheint: sie müssen nur die Straßen bevölkern und zeigen wo es langgeht. („Sie haben dafür gesorgt, dass plötzlich fast alle Parteien über neue, echte Klimagesetze reden.“)

Das Reden hilft nur bedingt, man sieht es am Pariser Abkommen. Ein Hoffnungsschimmer zeigt sich erst, so scheint mir, wenn die Politik sich auf das Wortungetüm Postwirtschaftswachstum eingelassen hat. Und damit bin ich wieder am Anfang dieses Artikels.