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Anlässlich der Gülke-Lektüre

Zur Bratschen-Melodie am Anfang der Zehnten von Mahler

Eine Übung

Ich folge einer spontanen Idee: anknüpfend an meine frühe Mahler-Begeisterung möchte ich genau verstehen, was Peter Gülke zum Beginn der Zehnten Sinfonie schreibt. Ich weiß, jeder Satz hat Hand und Fuß, aber es fällt mir doch schwer, Wort für Wort zu verstehen, – was Note für Note gemeint ist; ich möchte den Weg über den Notentext zur deutlich imaginierten Melodie abkürzen. Ich bezeichne daher jeden Ton der Melodie mit einer Zahl und vermerke diese in roter Farbe an der jeweiligen Stelle des Gülke-Textes Seite 325 f.

Mahler X Bratsche

Zur vergleichenden orthographischen Orientierung sei hier die Mahlersche Handschrift eingefügt (per Screenshot dem Petrucci-Faksimile entnommen, siehe hier):

Mahler Adagio Handschrift Anfang

ZITAT Gülke (mit Einfügung der roten Ton-Nummerierung laut Notenbeispiel oben)

Dem einleitenden, 15-taktigen Solo der Bratschen schreibt er „Andante“ und „pp“, sonst außer drei Akzenten nichts vor; danach hingegen begegnen detaillierte Anweisungen zuhauf. Gewiss in seinem Sinn ist das „pp“ in der Einrichtung für Orchester von Deryck Cooke zu „teneramente, pp e sotto voce“ erweitert worden. Damit wird fast Unmögliches verlangt – Enthaltsamkeit beim Vortrag einer von rhetorischer Gestik, thematischer Potenzialität und Expressivität berstenden Melodie, die zugleich sich den Anschein frei schweifender Beliebigkeit gibt.

Dreimal in ähnlichen Wendungen holt sie in einer Ab-auf-Kurve Schwung, um die Höhe der Töne g‘ (4), dann h‘ (10), endlich cis“ (14) zu gewinnen – Letzteres in einer abgeflachten Schleife. Dort kommt es im Crescendo (?) zu einem durch die spröde Lage der Bratschen betonten Energiestau, der sich zum d“ (15) als höchstem Melodieton hin entlädt. Es lässt sich nicht halten; so folgt ein Abstieg in Vierteln (15-21), der das vom vorgezeichneten Fis-Dur abweichende, als harmonischer Bezugspunkt hinterlegte h-Moll bestätigt – mit Ausnahme der letzten Note im siebten Takt (22). Dort erwartet man nach einer kleinen Terz ( 20-21) [den Ton] h, wonach die bis zur vollstimmigen Harmonie der Takte 16 ff. verbleibende Strecke diatonisch plausibel einen Halbton höher erklänge, ausgenommen der letzte Takt (34), dessen ais zum eintretenden Fis-Dur (Adagio) gehören würde. Mahler jedoch lenkt unsere Wahrnehmung mit dem statt h eintretenden b (22) in einen als nach unten gedrücktes Fis empfundenen F-Bereich und befestigt dies in zweimal vier Takten (23-28, 29-34) und je paarweise in rhythmisch-melodischen Entsprechungen. Nach der Hinführung f-g-a (31-33-34) in den Takten 13 bis 15 erwartet man den Adagio-Beginn auf B. [Der Autor meint nicht den Ton ais, der ja mit b identisch wäre, sondern den Akkord auf B.] Jedoch tritt Fis ein (Bass-Ton des Adagiobeginns), die vorgezeichnete, bislang gemiedene Grundtonart als Mediante des Erwarteten!

Was dieser Trugschluss – im Sinne der klassischen Harmonielehre – an Befestigung schuldig bleibt, besorgt der Eintritt des vollstimmigen, durch Posaunen und sonore tiefe Streicher geprägten Satzes. Dies verschafft dem Fis-Dur, weiab von der Selbstverständlichkeit einer etablierten Grundtonart, ein den gesamten Satz überstrahlendes Charisma, an den Gravitationspunkten erklingt das Thema, insofern einer sonatenhaften Verarbeitung halb entrückt, stets in Fis. Die unverhohlen Bruckner’sche Dreiklängigkeit ist die einzige satzbestimmende Prägung, die im Unisono der Bratschen, und sei’s kryptisch, nicht aufscheint. Immerhin ergibt sich ein komplementäres Verhältnis insofern, als die Bettung im Klang weit ausgreifende Intervallschritte und enormen Ambitus ermöglicht, den das Unisono zuvor in meist kleinen Schritten ausmessen musste – nicht ohne Mühe, wie die erst über mehrere Impulse erreichte, in den langen Tönen h‘-cis“-d“ (10-14-15) knapp gehaltene Höhe verdeutlicht. Zwar kommt die Melodie nach dem Abstieg zur Ruhe, jedoch am „falschen“ Ort (23). Als Verweil- und Haltepunkte finden die drei hohen Töne eine Entsprechung im ebenfalls aufsteigenden f‘-g‘-a‘ (31-33-34) der Takte 13-15, welches seinerseits dem absteigenden Chroma a‘-as‘-g‘ (23-26-29) der Takte 8 bis 12 antwortet.

Derlei die Machart der Musik betreffende Auskünfte erscheinen hilflos abstrakt in Bezug auf das, was die Musik ist und sagt, etwa, wieviel Suche, wo nicht Sehnsucht nach einer auffangenden Harmonie in ihr mitarbeitet. So bleibt das anfangs implizierte h-Moll tatsächlich hinterlegt, gibt kaum Halt. Noch mehr treten harmonische Verbindlichkeiten zurück, wenn Mahler am Ende des siebten Taktes das erwartete h‘ zu b‘ (22) alteriert und damit das Folgende um einen Halbton nach unten drückt. Nach Maßgabe des Quintenzirkels ergibt das einen riesigen Abstand, doch nimmt man ihn kaum wahr, weil eine Halbtondifferenz in der Linie vergleichsweise geing wiegt. Inddem das Unisono der Bratschen scheinbar ungestützt herumhangelt, umschreibt es die Leerstelle der vorenthaltenen Bettung nachdrücklich. Wenn diese eintritt, wird das, verstärkt durch den Trugschluss, zum Ereignis, zu großer Ankunft. Das vor allem, erst in zweiter Linie die am Choral orientierte Setzweise, nährt sein Charisma, die Aura einer je neu herabkommenden Epiphanie.

Nun, da sie gefunden ist, gebiert und trägt die Harmonie die Melodie ebenso sehr, wie sie sie begleitet, weshalb große Intervallschritte leicht genommen werden, die im Unisono Mühe gemacht hatten, und eine in Bezug auf die Linie eingreifende Veränderung wie die Umkehrung die Prägung fast identisch lässt (Takte 20, 63, 133, 213 etc.).

Ab hier wird bereits eine weiterreichende Partiturkenntnis vorausgesetzt. Aber auch ohne sie bleibt die Lektüre nicht ohne Gewinn. Es geht um die Kollision zwischen Leben und Werk, um einen „Lernprozess, zu dem Mahler verurteilt war, ein Ineinander von Werkstruktur und „document humain“, wie man es zuvor selbst bei ihm nicht kannte, an dessen Authentizität jegliche Abwehr biografischer Trübungen der ästhetischen Autonomie scheitert.“ (S. 328)  Es war offenbar der Moment, als Mahler von der Liebschaft seiner Frau Alma erfuhr und er verzweifelte verbale Ausbrüche in die Skizzen seiner Partitur kritzelte. Sein Tod war nahe.

Quelle Peter Gülke: Musik und Abschied / Bärenreiter Kassel Basel london NewYork Praha 2015 (Seite 325 ff)