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Mozart aus Aix-en-Provence

Ernsthafte Einladung zu Figaros Hochzeit

Im Geist folgendes: der Spazierweg nach dem großen Regen hier und vorher „Voi che sapete“ in „Mozart“ hier. Vielleicht auch das „Experiment mit Cosí“ hier. Schon wieder Mozart?

Warum also? Diese Behandlung, oder dieses Sammelbecken der musikalischen Ideen, wurde vorbereitet aus dem Alltag heraus; ich betone die Ernsthaftigkeit, weil es eine Komödie ist, zu der man sich heutzutage aufraffen muss. Die Handlung scheint uns unterhalten und lustig stimmen zu wollen, widerstrebt also eigentlich einer Versenkung, zu der die Schönheit der Musik zwingend hinführt. Es ist eine Freude zuzusehen, und es ist ein Ärgernis, nicht recht zu verstehen, was da gespielt wird. Wie seltsam ausgeklügelt. Man muss sich so intensiv vorbereiten, als gehe es um die Kunst der Fuge, es geht aber um ein Gesellschaftsspiel, dessen Regeln uns nicht einleuchten, wir sind gezwungen, uns historisch und handlungstechnisch bis ins Detail zu informieren und halten die Ränke und Verwicklungen insgeheim für albern. So geht oder ging es mir jedenfalls, und ich überwinde den inneren Schweinehund nur, weil die ganze Aufführung so liebevoll inszeniert und musiziert ist, dass man gern bei jedem Detail verweilt.

Liebevoll? Ich kann es mir leisten, kindlich vorzugehen, weil ich mit niemandem in Konkurrenz stehe. Auch eine professionelle Kritik, die auf ganz anderen Erfahrungen (und Verpflichtungen!) beruht, muss ich mir nicht zu eigen machen. Ich kann sie ohne Widerspruch zur Kenntnis nehmen. (Siehe unten nach der Ablaufliste).

Ah, mir ist zum Glück das Buch von Laurenz Lütteken eingefallen, das zu einer meiner regelmäßig wiederkehrenden Wellen der Mozart-Begeisterung gehört. (Siehe einst hier: Das Neue Jahr mit Mozart, 2017). Und jetzt Medias in res:

Quelle Laurenz Lütteken: MOZART Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung / C.H.Beck München 2017

ZITAT Seite 178f (rote Lesehilfen JR)

Die Repräsentation menschlicher Verhältnisse auf dem Theater bedurfte allerdings, dies die entscheidende Weiterung bei Mozart [gegenüber Beaumarchais], der Musik, weil man nur ihr, so der zentrale musikästhetische Paradigmenwechsel um 1780, zutraute, das Ungenaue, Unscharfe, Changierende dieser Verhältnisse für den Zuhörer, wenigstens im Augenblick des Erklingens, glaubhaft darzustellen. Genau dies führt aber zu einer Verdichtung, die weit über das Drama hinausreicht.

Ein wesentlicher Charakterzug des Figaro von Mozart und Da Ponte liegt in der bedingungslosen Zuspitzung der aristotelischen Einheit von Raum, Zeit und handlungt, weil die Repräsentation auf der Bühne keinerlei Lücken mehr kennt, dargestellte Zeit und Darstellungszeit vollständig deckungsgleich werden und ihre Dehnung im Sinne einer Seelenschilderung einzig der Musik verdanken. Dabei wird die Tradition der Opera buffa zwar heraufbeschworen, jedoch in einer seltsamen Distanz. Das wirkungsästhetische Potential der Buffa wird in dem Maße geltend gemacht, indem ihre Mechanismen in Frage gestellt werden. Das Irritierende dieses Neuansatzes wurde durchaus wahrgenommen, war der Figaro [auch] nicht ein Werk des sofortigen, sondern des langsamen, wachsenden Erfolgs, der erst in der besonders ungebundenen, für solche Konzepte empfänglichen Prager Gesellschaft geradezu esxplosionsartig hervortrat.

Ich werde noch mehr zitieren, ich erlaube mir das, denn ich werde nie aufhören, für dieses Buch die Werbetrommel zu rühren (siehe obigen Link zum Jahr 2017). Heute allein wieder die Tatsache nachlesen und einschätzen zu können, dass Haydn nachweislich von Mozarts Musik – vom Figaro – geträumt hat, und zwar in der Nacht zum 9. Februar 1790. Doch davon später.

https://www.arte.tv/de/videos/104589-000-A/festival-in-aix-en-provence-die-hochzeit-des-figaro/

HIER Trailer 3′ abrufbar bis Juli 2022

HIER ab 2:50 (Ouv.beginn) Aufnahme bis 8. Juli 22 abrufbar!

With : Gyula Orendt, Jacquelyn Wagner, Julie Fuchs, Andrè Schuen, Lea Desandre, Emiliano Gonzalez Toro, Monica Bacelli, Maurizio Muraro, Elisabeth Boudreault, Leonardo Galeazzi

Director : Lotte de Beer  / Music director : Thomas Hengelbrock

Orchestra : Balthasar Neumann Ensemble / Choir : Chœur du Cnrr de Marseille

Presenter : Saskia de Ville

 Thomas Hengelbrock Wikipedia hier

Figaro-Dirigier-Partitur meines Vaters ca. 1920

Zur französischen Quelle hier „Le mariage de Figaro“ (Beaumarchais)

Wikipedia Le nozze di Figaro Inhalt

Material (gute Inhaltsangabe u.a.) für die Schule https://oper-frankfurt.de/media/pdf/Figaro_Lehrermappe.pdf

Über die sog. Fandango-Szene am Ende des dritten Aktes: engl.Text hier (The Fandango Scene in Mozart’s Le nozze di Figaro / Author: Dorothea Link / Source: Journal of the Royal Musical Association, Vol. 133, No. 1 (2008), pp. 69-92 // s.a. Glucks Fandango.

Hier das Video der Aufführung in Aix, abrufbar bis 8. Januar 2022 (Achtung, seit heute – 20.7.21 doch nicht mehr abrufbar – schade! – habe gestern noch damit arbeiten können, zum Glück für mich privat ist der TV-Mitschnitt ab 3.Akt noch da, bedauerlich trotzdem)

ERSTER AKT ab 2:50 (Ouv.beginn) 7:05 / 9:40 / 10:26 / 13:22 / 15:45 / 18:20 Szene 3 – 4 Dr.Bartolo / 19:35 „La vendetta“ / 22:50 / 23:50 Nr.5 Duettino Marcellina/Susanna: „Via resti servita, Madama brillante“/  25:52 Cherubino 28:03 Nr. 6. Arie Cherubinos: „Non so più cosa son, cosa faccio“ / 31:23 / 35:05 Nr. 7. Terzett Graf/Basilio/Susanna: „Cosa sento! Tosto andate“ / 39:42 / 40:55 Nr. 8. [und Nr. 9.] Chor: „Giovani liete, fiori spargete“ / 42:00 / 43:44 Chor / 44:36 / 45:55 Nr. 10. Arie Figaros: „Non più andrai, farfallone amoroso“ / 49:48 ENDE ERSTER AKT

ZWEITER AKT  50:10 Szene 1–3 Nr. 11. Cavatine der Gräfin: „Porgi, amor, qualche ristoro“ / 53:24 / 57:53 Figaro ab / Cherubino 59:16 Nr. 12. Arietta Cherubinos: „Voi che sapete che cosa è amor“ / 1:01:52 / 1:03:19 Nr. 13. Arie Susannas: „Venite… inginocchiatevi“ / 1:06:20 Szene 4–9 / 1:10:50 Nr. 14. Terzett Graf/Gräfin/Susanna: „Susanna, or via, sortite“ / 1:14:46 / 1:16:12 Nr. 15. Duettino Susanna/Cherubino: „Aprite, presto, aprite!“ / 1:19:40 Nr. 16. Finale: „Esci, ormai, garzon malnato!“ / 1:27:38 / Szene 10–12 / 1:39:44 Applaus ENDE ZWEITER AKT Pause Gespräche mit den Protagonistinnen

DRITTER AKT 1:45:00 / 1:49:50 Nr. 17. Duettino Graf/Susanna: „Crudel! Perché finora farmi languir così?“ 1:52:36 /  1:55:20  Nr. 18. Arie des Grafen: „Vedrò, mentr’io sospiro“ 1:58:37 / 2:01:45 Nr. 19. Sextett: „Riconosci in questo amplesso“ /  2:06:40         Nr. 20. Rezitativ und Arie der Gräfin: „E Susanna non vien!“ / 2:10:55 „Dove sono i bei momenti“  2:15:57 / 2:17:20 Nr. 21. Duettino Gräfin/Susanna: „Che soave zeffiretto“/ 2:20:15 / 2:20:40 Nr. 22. Chor: „Ricevete, o padroncina“ / 2:21:52 / !!! 2:25:40 Nr. 23. Finale: „Ecco la marcia, andiamo“ 2:27:38 / Fandango 2:28:49 bis 2:30:20 / 2:30:34 Chor: „Amanti costanti, seguaci d’onor“ 2:31:42 ENDE DRITTER AKT

 

(oben) Finale Dritter Akt unmittelbar weiter in:

 

VIERTER AKT 2:32:05 Nr. 24. Cavatine Barbarinas: „L’ho perduta… me meschina“ 2:33:42 / 2:36:25 Nr. 25. Arie Marcellinas: „Il capro e la capretta“ 2:40:07 / 2:41:44 Nr. 26. Arie Basilios: „In quegli anni in cui val poco“ 2:45:26 / 2:45:40 Nr. 27. Rezitativ und Arie Figaros: „Tutto è disposto“ – 2:47:00 „Aprite un po’ quegli occhi“ 2:49:42 / 2:50:58 Nr. 28. Rezitativ und Arie Susannas: „Giunse alfin il momento“ – 2:52:25 „Deh vieni non tardar, oh gioia bella“ 2:55:48 / 2:56:38 Nr. 29. Finale: „Pian pianin le andrò più presso“ 3:13:38 Musik-Ende // 3:19:04 ENDE

Scan JR Schluss-Tableau

Kritik an dieser Aufführung: nmz (Joachim Lange) 3.7.2021 hier

…oder man lese im vorhergehenden Kapitel „Inszenierungen“ über die Definition eines neuen Genres, insbesondere anhand der großen Marschszene im „Figaro“, dem Finale des ersten Aktes (Noten s.o.):

…das folgende Stück KV 19d wird erwähnt auf Seite 202

Es geht in diesem Kapitel letztlich um ein anderes ›Verstehen‹, eine ›Analyse‹, die keine ›Zergliederung‹ mehr ist:

Übrigens: alle Vorbehalte gegenüber dieser Oper (und auch andere betreffend) sind bekannt. Ich selbst bin ja kein notorischer Operngänger, sondern im Innersten: Instrumentalist. Was ich gegen Opern habe? Das Publikum. Und die Fachkritiker. (So mache ich mir keine Freunde, ich weiß, daher meine Anstrengungen, mich selbst zu bekehren, mit Mozart müsste es gehen. Früher war es – im Ernst – Wagner. Inbegriff einer psychologisch spannenden Oper: Tristan. Einer dramatisch zwingenden  Oper: Tosca.) Im Figaro müssen wir uns das – in der damaligen Zeit – politisch Brisante mühsam rekonstruieren oder „übersetzen“. Und das unleugbar Erotische in unsere krasseren Verhältnisse transponieren: was sich eine moderne Regie nicht zweimal sagen lässt, wobei es eben auch „kaputt gehen“ kann. Vielleicht ist deshalb der Cherubino in seiner Unschuld so schwer zu interpretieren – in einer Zeit, wo das Pornografische grenzenlos alles Nackte dominiert. Weshalb es gern ins Lächerliche gezogen wird, zumal wenn hier z.B. die blonde Dame ins Bild gerückt wird, die mich irgendwie an Gottschalk erinnert.

Und so sitzt man doch nicht als Mädchen da, wie Barbarina auf dem Kubus!? Während zugleich die weiße Dame mit ihrem heraushängenden Stoffglied als Nahaufnahme sehr zu denken gibt usw. – die NMZ-Kritik fokussiert thematisch ähnlich.

Meine Mozart-Opern-Aufmerksamkeit wurde neu geprägt durch die HM-Produktion von 2003, die nicht auf der Opernbühne entstand, sondern als Hörfassung in der Stolberger Straße Köln – d.h. im WDR-Tonstudio – unter René Jacobs. Das umfangreiche Booklet enthält eine Fundgrube von Einsichten, das Titelbild allerdings evoziert eindeutig die galante Epoche der Andeutungen, abgesehen vielleicht vom Stier ganz oben. Oder ist es eine Kuh?

Ich folge jetzt dem Booklettext so, dass sich thematische Klärungen ergeben, wie wir sie oben kurz angesprochen haben. Zuerst die letzte Seite des historischen Textes von Andreas Friesenhagen, dann (rückwärts) René Jacobs. Eine Lektüre, die man gar nicht genau genug nehmen kann. Er weiß natürlich, woher der Fandango stammt und was es mit den Folkloreanteilen auf sich hat (Bordun) und wie schnell die Tempi aufzufassen sind. Wunderbar wie er hervorhebt, dass bei der Arietta „Vou che sapete“ die Zeit stillsteht, auch, dass das Pizzicato gegen Ende bei Susanna bedeutet, wie die Zeit (nicht) vergeht. Und vieles andere.

Text: Andreas Friesenhagen

Text: René Jacobs   Text: René Jacobs  Text: René Jacobs Text: René Jacobs  Text: René Jacobs Anfang des Textes