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Motivation mittels Motiv

Das beste Mittel, den Kopf in Bewegung zu setzen, scheint mir im Moment das Wort Motiv. Egal, ob ich an Musik, Vogelstimmen oder Metaphysik denke. Für letzteres ein Beispiel: auf Langeoog war es, glaube ich, wo ich den Leonardo-Roman von Mereschkowski las, mit großer Begeisterung seitenweise aus dem Tagebuch des Lehrlings  Giovanni (?) abschrieb und begann, nach dem Vorbild seines Meisters am Strand die Wolken und den Vogelflug zu beobachten. „Du erster Urheber der Bewegung“ las ich, selbst bewegt. Und wusste nicht, ob er damit Leonardo da Vinci zitierte oder Aristoteles, auf den ich erst später kam (s.a. HIER). Und wenn ich den Satz heute bei Google eingebe, kommt heraus: Mereschkowski.

Schluss, ich will zur Sache kommen und nicht nur in eine erste Bewegung. Mit leicht verzögertem Raketenstart. Man könnte argwöhnen, dass ich Mühe habe, den Kopf in Bewegung zu setzen. Aber, weiß Gott, das Gegenteil ist der Fall: er ist unentwegt in Bewegung, wie bei den meisten Menschen, die gar nichts draus machen, nicht einmal etwas Aufhebens, wie ich heute. Das Problem ist ja, die Quellen zu kontrollieren oder gar zu kanalisieren. Nehmen wir nur den Raketenstart. Die Mannheimer Rakete muss den jungen Beethoven fasziniert haben: das Klaviertrio op.1 Nr.1 beginnt so, und die Klaviersonate op.2, Nr.1 noch furioser. Für mich sind es die Urbilder eines „Motivs“, zugleich Musterbeispiele, wie ein Thema daraus wird. Beethoven op 2,1 Motiv Klaviertrio op.1 Nr.1Beethoven op 1,1 Anfang Sonate op. 2 Nr.1

Kurios das (mit der Umkehrung der Rakete verbundene) Kopfmotiv im Finale des Klaviertrios, es klingt (nach Alexander Ringer) „wie ganz gewöhnliche Straßenpfiffe“; als Geiger habe ich mir immer gewünscht, der Pfiff käme irgendwann einmal auch im Fortissimo. Aber nach dem Fortissimo macht es ebenfalls einen ganz pfiffigen Eindruck.

Beethoven op 2,1 letzter Satz Klaviertrio op.1 Nr.1Beethoven op 2,1 letzter Satz Ende Finale gegen Ende

Eine echte Pfiff-Parodie wäre es, wenn der Auftakt vor dem hohen Sprung noch mit einem kurzen Schleifer nach unten versehen wäre. Etwa so, aber langsam und heftig:

Beethoven op 1 Pfiff

Mein Vater hatte für unsere Familie folgenden Pfiff eingeführt; ich mochte ihn nicht, aber er funktionierte:

Pfiff 50er

Der Freund nebenan fand den Pfiff seiner Familie viel schöner. Ich auch. Besonders als ich erfuhr, dass er auf die Achte von Beethoven anspielte:

Pfiffe Nachbarn

Noch lieber wäre mir Siegfrieds Hornruf gewesen, weil er auf den hohen Ton zielt; andererseits ist er für einen coolen Straßenpfiff zu lang. Und als Pfiff (ohne Horn) zu adrett.

Vor einigen Jahren habe ich mich über den Kuckucksruf informiert, der hier am Ort verschwunden ist. Hier der Artikel. Ohne besondere Systematik habe ich immer mal wieder Drosselrufe notiert. Die Notiz von 1992 ist interessant. Ich erinnere mich, dass der zweite Ruf der Drossel zuerst nur aus dem Motiv der 5 Töne bestand (Rufterz mit Wechselnote), die an die zweite Zeile eines Kinderliedes erinnern („der Bäcker hat gerufen“). Im Laufe des Sommers kam die Fortsetzung dazu, samt „Ornament“ (s.u. beide Versionen in blauer Farbe), d.h. die „Wechselnote“ wurde zum „Zielton“. Jedes Jahr gab es einen dominierenden Schwarzdrosselsänger in der alten Efeu-Eiche und ein dominierendes Motiv bei ihm. Man notiert natürlich mit Vorliebe das im menschlichen (!) Sinne musikalischste. (Ich werde noch bei Voigt und Hoffmann schauen.)

Kuckuck 1992 Drossel 1992 erweitert x

Wagner hat seinen im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaften Waldvogel-Gesang im „Siegfried“ aus verschiedenen Natur-Motiven kombiniert:

Waldvogel Wagner

Die neueren, mehr oder weniger musikbezogenen Arbeiten über Vogelgesang, etwa von Heinz Tiessen „Musik der Natur“ (1953, 1989) oder Prof Dr A Voigt „Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen“ (1961, 1996) – „musikbezogen“ sage ich auch, weil sie noch Notenschrift verwenden, keine Spektrogramme – benutzen als Vorlage oder Sprungbrett das ambitionierte Buch von Prof. Dr. Bernh. Hoffmann „Kunst und Vogelgesang in ihren wechselseitigen Beziehungen vom naturwissenschaftlich-musikalischen Standpunkte beleuchtet“ (1908, 1973). Der Auszug aus der Inhaltsübersicht zeigt das Engagement des Autors und sein Ziel, die Musikalität der biologischen Tonkünste nachzuweisen.

Hoffmann Vogelgesang a Hoffmann Vogelgesang b

Typischerweise setzt er bei der Motivik an, um von dort zu ausgedehnten Formen zu kommen, wobei er bewusst über den Gesang der Schwarzdrossel  und anderer Sänger hinausgeht, da sie „all die Variationen und Zwischenthemen oft durch kürzere oder längere Pausen voneinander trennen. Das Ganze ist noch lange nicht ein einziges lückenloses Musikstück.“ Dies sei jedoch eindeutig  bei der L e r c h e  der Fall:

Hier haben wir eine völlig zusammenhängende, längere Zeit andauernde musikalische Leistung vor uns. Und wie der Komponist seine symphonischen Sätze aus Motiven und deren Varianten aufbaut, so auch die Lerche! Wer einmal sehr aufmerksam des Lerchenschlags achtet und das Ganze mit scharfem Ohr anhört und zu zergliedern sucht, wird zwar bald auf die Unmöglichkeit einer halbwegs genauen Bestimmung der Intervalle stoßen, aber andererseits – wenn auch mit einiger Mühe – herausfinden, daß dem Gesang der Lerche mehrere in sich abgeschlossene kleine Hauptmotive zugrunde liegen, welche nicht nur in verschiedenen tonlichen Umstellungen, sondern auch in den verschiedensten Zerlegungen, Kürzungen und Verlängerungen immer wiederkehren. (…) Wer wollte leugnen, daß hier die höchste Form des künstlerischen Schaffens der Vögel auf dem Gebiet der eigentlichen Formen- bez. Kompositionslehre vor uns haben: Aufbau eines ganzen, oft lang ausgesponnenen Satzes, nicht aus wüst durcheinander geworfenen Tönen, sondern aus zu Themen geordneten Tongruppen und ihren verschiedenartigen, im Rahmen gewisser Grenzen sich abspielenden Umgestaltungen!

Quelle Prof. Dr. Bernh. HoffmannKunst und Vogelgesang“ Leipzig 1908 (Nachdruck Walluf b. Wiesbaden 1973) Zitat S. 136f

Im folgenden bezieht er überraschenderweise auch den Gesang bzw. das Gezwitscher der Schwalben mit ein. (Die Untersuchungen des „lang ausgesponnenen“ Gesangs der Lerche wurden durch Peter Szöke  anhand von Tonbandaufnahmen und deren Verlangsamung weitergetrieben und direkt mit dem ungarischen Volksgesang in Beziehung gesetzt. Nicht ganz überzeugend.)  Allerdings ist es ein Kurzschluss, die schiere Länge des Zusammenhangs mit der Ausdehnung symphonischer Sätze zusammenzusehen, womit ich nicht eine kunstvolle Reihung der Motive durch Vogelkehlen ausschließen will. Aber für mich ist das Vermögen, über ein gegebenes Motiv hinaus zu einer sinnvollen Verknüpfung mit anderen Motiven (oder Varianten) und einer überzeugenden Form zu kommen, eine Kunst, die sich nicht im Vorübergehen rein verbal bezeichnen lässt. Mein Plan wäre es, quasi spielerisch mit dem Vogelgesang zu beginnen, indem ich jedes Motiv individuell betrachte – egal, ob es mir „musikalisch“ attraktiv erscheint oder nicht. Danach oder parallel dazu würde ich Bach-Inventionen vornehmen, die zweistimmigen, real spielend, mit besonderer Liebe diejenigen, deren Motiv aus einer rollenden oder flexiblen Handbewegung (s.u. bei David) hervorgegangen scheint. Zugleich kontinuierlich ein altes Buch von Erwin Ratz zu Rate ziehen, in dem die Inventionen an den Anfang einer detaillierten Formenlehre gestellt sind.

Und zwanglos werde ich regelmäßig hierher zurückkehren und mich nicht scheuen, die Schnabelbewegungen eines Vogels zu beobachten, als seien es Offenbarungen, bis in die tonlose Phase hinein. Ich meine genau die Schwarzdrossel, die mich schon früher fasziniert hat, nämlich HIER. Und setze das Video dieser Nahansicht noch einmal in diesen Artikel, um Korrespondenzen zu sortieren, auch dies spielerisch, aber nicht ohne musikalische Empathie…

Nah-Ansicht eines singenden Amselmännchens: noch einmal HIER (im Extrafenster, das ein Weiterlesen des später folgenden Textes erlaubt).

Der Schnabel

Die Hand

David Inventionen

Quelle Johann Nepomuk David: Die zweistimmigen Inventionen von Johann Sebastian Bach / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1957 (Seite 6)

Ratz Titel Ratz Inhalt

Arbeitsblatt Blackbird (nicht durch die Meisen irritieren lassen!)

1 0:08 H (= Hauptmotiv) mit der aufsteigenden Quartfolge fis-h-d !  ges.: 3 sec

2 0:18  Auftakt u. fallende kl. Sexte + perlendes glissando aufwärts, ges.: 3 sec

3 0:29 zweimal kl. Sextsprung aufwärts, unterer Ton mit Vorschl., fis-d, ges.: 3 sec

4 0:42 kl. Terz ab plus Ganzton auf, dieser mit „Jodler“, + abfallender Ton tr, ges.: 3 sec

5 0:54 Auftakt + Ganztonreihe 2 Schritte aufw. + Rh. daktyl. ges.: 3 sec

6 1:10 (nach Blackout) H ges.: 3 sec

7 1:21 kleine Terz abwärts u mächtig aufwärts + „Nachbeben“ ges. 10 sec

8 1:33 ähnlich – ges. 5 sec

9 1:42 Sextsprung auf und ab plus große Terz rauf ges.: 3 sec

10 1:50 ges.: 3 sec           ↑ weitere Ausarbeitung ist in Arbeit↓

11 1:57 Schlagen (Repet.), motiv. Abschluss, ges.: 3 sec

12 2:06

13 2:15

14 2:24   Schnabel bleibt aktiv

15 3:00 Gliss.intro + H (ab 3:03) + Nachspann, ges. 13 sec

16 3:22 Schnabel bleibt aktiv

17 3:30

18 3:40

19 kurz was vorweg 3:50 (nach Platzwechsel) ges.: 4 sec

20 3:58    ges.: 4 sec

21 4:04 drei Töne aufwärts Quartenfolge (wie im H) / Ende 4:09

[man muss die Zahl der klaren Töne und der „Effekte“ pro Phrase als gleichwertig behandeln (rechnen), nicht die notierbaren Töne für gewichtiger halten, also:  entsprechende Zeichen erfinden]

***

Wer bei diesem Drossel-Studium auch die Meisen im Hintergrund beachtet hat, die mit wenigen, unermüdlich wiederholten Rufen haushalten, könnte zu der Frage kommen, weshalb ein Vogel überhaupt einen differenzierten Gesang entwickelt, der zwischen festen Bestandteilen und „bewusst“ variablen Elementen wechselt. Ich würde diese Frage zurückstellen. Man muss nur den Formenreichtum unserer Musikgeschichte betrachten, – schon hütet man sich, permanent mit der Warum-Frage zu kommen. Es geht zunächst darum, die Phänomene selbst zu studieren. Und an dieser Stelle haben wir schon genug zu tun, den wechselnden Bedeutungsgehalt des Wortes „Motiv“ zu strapazieren. Der Einfachheit halber verweise ich auf  Wikipedia, aber noch wichtiger wäre ein Überblick über das große Ganze, wie es in einem Büchlein zu finden ist, das jedem musikalischen Menschen, der Noten kann und sich etwas in unserer Musikgeschichte auskennt, empfohlen sei, jedem, im Gegensatz zu dem oben angeführten Buch von Erwin Ratz, das eher für klavierspielende Spezialisten gedacht ist. Nämlich die „Formenlehre der Musik“ von Clemens Kühn (dtv/Bärenreiter), die in klarer Sprache geschrieben und reich mit Notenbeispielen illustriert ist. Wunderbar, wie da im Zusammenhang mit der frühen Mehrstimmigkeit und ihrer Imitationstechnik das „greifbare melodische Teilstück“, genannt Soggetto, behandelt wird (Seite 35):

Im Soggetto […] hat das Motiv seinen Ursprung, die kleinste musikalische Sinneinheit aus zwei oder mehreren Tönen: Das instrumentale Motiv erwächst aus vokaler Musik; seine Wurzel ist das textgeprägte Singen. Aus Soggetto wie Motiv bezieht Musik eine treibende Kraft: „Motiv“ ist das Bewegende (lat. movere = bewegen), eine Keimzelle, die sich auswirken will. Und die Soggetti verkörpern lineare Ströme, die impulshaft den Satz durchdringen.

Wir haben dank unseres besonderen Zusammenhangs gewiss noch andere Impulse im Sinn, die Rufe und die Pfiffe, von denen die Rede war. Und das ist gut so. Signale stehen natürlich „für sich“ im Raum, sonst würden sie ihre signalhafte Wirkung einbüßen. Im Fall der Meisen könnte man sie im Kontext ihres permanenten Standortwechsels sehen: jede Meise tut der anderen unmissverständlich kund, wo sie sich gerade befindet.  Aber können nicht solche melodischen Impulse, sobald ich sie abwandle, unvermerkt erzählenden Charakter annehmen? Ihnen geschieht etwas, auch wenn ich keine Worte hinzufüge. Eine Assoziation. Doch zurück in den Text von Clemens Kühn (a.a. Seite 35f):

Der Bequemlichkeit aber, statt „Soggetto“ gleichMotiv“ zu sagen, sollte man nicht nachgeben. Zum einen würde diese begriffliche Gleichsetzung querstehen zur geschichtlichen Auffassung und Entwicklung. Zum anderen heftet sich „Motiv“ vorrangig an Instrumentalmusik, während ein „Soggetto“ sprachgebunden ist und sich erst durch die Übertragung von Vokalmusik auf Instrumente auch im Instrumentalen findet (…).

Und schon ändert sich der Charakter grundlegend – „ein Soggetto kann, muß aber nicht jene Konzentration, Prägnanz und Charakteristik haben, die ein Motiv auszeichnen“, sagt Kühn im weiteren und gibt die entsprechenden Beispiele, und wir kehren mit frischem Mut zur Charakteristik der verschiedensten Motive im Vogelgesang zurück. Was soll denn der Vogel tun, wenn er keine Worte hat?

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Trotz dieses irgendwie eleganten Abschlusses möchte ich den heutigen Blog-Artikel, der natürlich im Drossel-Teil noch gar nicht abgeschlossen ist, nicht ohne einen Blick in das Inhaltsverzeichnis des eben zitierten, wirklich ausgezeichneten Büchleins beenden:

Kühn Formenlehre a Kühn Formenlehre b ISBN 3-423-04460-8