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Mozart loben

Gesunde Hemmungen

Kürzlich habe ich mal wieder Mozarts Klaviersonaten aufgeschlagen und bin beim Allaturca gelandet, dass man gern überschlägt, weil es halt „zu populär“ ist. Ja, gerade deshalb übt man’s nicht, weil man sich ein bisschen lächerlich dabei vorkommt. Besonders bei den Tschingderassa-Teilen, mit den Holzhammer-Vorschlägen im Bass und dem Gerassel im Diskant. Aber die Sechzehntel-Ketten im fis-moll/A-dur-Teil: kannst Du das eigentlich richtig gleichmäßig, ohne den kleinsten Stolperer in den Dreh- oder Angelpunkten?  Gut, man hat sich schnell hinein verbissen, plötzlich wieder in Begeisterung; eine sportliche Sache. Man arbeitet sogar den allerletzten Teil noch penibel aus, damit gerade der Lärm perfekter klingt (die drei Vorschlagsnoten im Bass nicht irgendwie, sondern VOR der Eins, damit der Hauptton im Bass genau mit der Eins der rechten Hand zusammenfällt usw.), und dann stecke ich tagelang im Satz davor, im Menuett, Schöneres gibt es nicht, das Trio, ein „Reigen seliger Geister“, Balance beobachten in diesem wundersamen Klaviersatz mit übergreifender linken Hand, das alpenländische Flair, die tschilpenden Spatzen… 100 Mal, das darf kein Ende haben! Und schließlich der erste, der Variationensatz, – ohne das Thema: da gibt es eine heilige Scheu, es ist zu schön, um es anzufassen. Und das Schlimmste – jeder, JEDE, die es hört, sagt: Ah, das ist Mozart, das ist schön. Wie arrogant soll man eigentlich reagieren, um diese Seufzer in die Schranken zu weisen!? NEIN, das meine ich nicht. Bitte keinen Mozart aus der Weihnachtsbäckerei! Es beginnt also damit, dass ich mir das Wort „schön“ verbitte. (Oder doch nicht, die Höflichkeit verbietet’s.) Wie oft haben wir schon (in Bonn!) darüber diskutiert. Jemand hat einen Töpferkurs absolviert und sagt: „Ich bin auch Künstler!“ Und man kann nur sagen: Gewiss, aber ich nicht, es lebe Joseph Beuys! Und schon hat das Mozart-Lob ein Ende.

Zurück zu Mozart, – wie kann man darüber sprechen? Endlich habe ich den Text gefunden, indem ich mal wieder das Zauberbuch „Denken und Spielen“ aufgeschlagen habe. Es hat kein Register, aber ich habe im Laufe der Jahre selbst eins auf der Innenseite des Einbandes angelegt. Ich werde das Richtige finden…

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ZITAT Seite 168

Mozart Uhde

ZITAT Seite 400 f (Notenbeispiele weggelassen)

(…) oder auch an jenes Variationenthema der A-Dur Sonate KV 331, ([folgt 1 Zeile Thema im Original] das so bekannt und in aller Ohren ist und dennoch sein Geheimnis, seinen Zauber so selbstverständlich bewahrt. Wie im verklärten Anschauen müßte es dargestellt sein, ganz für sich und ohne die mindeste Initiative auf den Prozeß hin, der dann – im Grunde überraschend – aus diesem einzigartigen, einer Fortsetzung unbedürftigen musikalischen Moment hervorgeht. Wie zögernd steigen dann in der ersten Variation zarte subjektive Regungen auf, die sich in Variation 2 kräftigen und in das klagende Cantabile der dritten in a-moll münden. Aber hinter ihr zieht schon das sanfte Leuchten der vierten herauf, und dieser Augenblick darf vom Interpreten nicht expressiv gestaltet, sondern nur passiv hingenommen werden, er ist ein Geschenk wie nur das Thema. Das Adagio, Variation 5, artikuliert in betontem Kontrast dazu das eindringlichste subjektive Espressivo, ehe die sechste Variation in distanzierter Vitalität den Fernblick auf das Finale eröffnet, dessen Janitscharen-Nachklänge sich im Gesamtzusammenhang des Werkes so befremdlich ausnehmen. Indessen ist das fast mechanistische Figurenwerk dort als äußerster Kontrast zum beseelten Beginn zu verstehen: zwischen diesen beiden Polen rezeptiver Charaktere schwingt der gestische Rhythmus dieses Werks.

Bei Beethoven, Schubert und späteren Komponisten bildet die Musik dann nahezu programmatisch solche Inseln rezeptiven Charakters im Strom als Widerpart zum voranschreitenden Drama oder zum rastlosen Immerweiter, ja selbst zur lyrisch bewegten Kundgabe. Weithin lebt seitdem die musikalische Gestalt vom Wechsel dieser Charaktere. Er konstituiert mit den Sinn. Beethoven, der Protagonist schrankenloser Subjektivität, hat radikaler als jemals einer zuvor den objektiven Widerstand in seiner Musik dargestellt und die Charaktere freier subjektiver Beseelung denen von Notwendigkeit konfrontiert. Im ergreifenden Dialog prägt dies Programm den langsamen Satz des G-Dur-Klavierkonzerts.

(Uhde/Wieland Denken und Spielen Seite 400-404)

*   *   *

Selbstverständlich gilt diese Auffassung nicht generell für Mozart. An anderer Stelle führen die Autoren aus, wie sinnvoll es ist, gerade bei Mozart von Ich-, Du- und Wir-Charakteren zu sprechen.

Daß nun spontane musikalische Regungen sich oft an einem Gegenüber artikulieren, das zeigt sich strukturell schon im allgegenwärtigen Spiel von Frage und Antwort. Musik sagt nicht nur Ich, sie sagt Ich und Du und Wir. Der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, der vor allem die Kammermusik als Diskurs galt, war dies gegenwärtig. Klaviermusik versetzt häufig Kammermusik auf ihr eines Instrument, und es ist eminent fruchtbar, solch kammermusikalischen Diskurs aufzuspüren.

Mozarts Sonate F-Dur KV 533 ist, vor allem in ihrem 1. Satz, quasi ein Klaviertrio.

(…)

Nur der weitere Verlauf kann darüber Auskunft geben, ob einer allein für sich, im inneren Dialog weiterdenkt oder ob gleichsam eine andere Person eingreift und eine neue Wendung herbeiführt. Blickt man in dieser Weise gerade auf Mozart, so mag sich ein Vorhang öffnen: viele seiner Instrumentalstücke offenbaren sich frei verstanden als Opern en miniature. Formale Analyse könnte nur Vorstufe zu einer Betrachtung sein, die ein Stück als Handlung wechselnder Charaktere und Situationen auf imaginärer Bühne sieht. Kundgabe eines Einzelnen, Dialog, Ensemble, Chor, das vokale Element also, steht gegen orchstrale Aktion; und so treten in Mozarts Instrumentalmusik vielerorts vokale und instrumental-orchestrale Charaktere einander gegenüber.

(Seite 386 F-Dur-Sonate KV 332)

Die Musik kennt aber neben Monolog, Diskurs, Koaktion imaginärer Individuen auch kollektive Wir-Charaktere. Märsche, Prozessionsgesänge, Hymnen, Choralgestalten gehören dazu, nicht weniger aber Charaktere ungeregelter Massenbewegung, von Getümmel und Tumult. Das solistische Denken neigt dazu, nur „Ich“ zu sagen und übersieht leicht diesen pluralen Ausdruck. Werden aber gewisse Stellen nicht als Gesten eines ich, sondern eines Wir verstanden, so weitet sich die musikalische Gebärde, vertieft sich der musikalische Atem; und der überanstrengte, falsch-titanische Gestus, der einem Einzelnen zumutet, was nur Viele tun können, entspannt sich.

(Seite 389 zu Beethoven Diabelli 1. Variation, auch Schubert!)

Nachbemerkung

Ich hätte gern noch eine andere Frage geklärt (und würde einen Schüler danach befragen): was bedeutet in Mozarts Thema (s.o.) das sf im 4.Takt auf dem 3. Achtel. Wozu dieser Eingriff in den „natürlichen“ Schwerpunktverlauf? Ist es purer Mutwille bei Mozart, – so wie oft bei Beethoven? Wie stark darf das Sforzato denn sein? Der Akkord auf 3 hat ja außerdem einen Vorhalt (ein e“ vor d“), eine Dissonanz, die als solche bereits betont wirkt.

Choreographie der Finger und Augen

Am Beispiel eines virtuosen Bach-Praeludiums

Das eine ist mehr Übung, eine detaillierte Bestimmung der Probleme, die sich den Fingern beim schnellen Spiel stellen. Das andere ist eine zusätzliche Beteiligung der Augen, eine Sonderaufgabe, die der Freiheit der Ausführung dienen soll, ist aber nur ein Experiment, vielleicht ein Missverständnis, aber dann sei es wenigstens für die bewusste Korrektur festgehalten.

Es geht um das folgende Praeludium aus dem ersten Band des Wohltemperierten Claviers von Bach. Darin sind die problematischen Stellen rot markiert und sollen einzeln behandelt werden. Oben links sieht man, dass ich das Stück nicht zum erstenmal übe. Ich war damals jeweils der Ansicht, dass ich es „konnte“; heute glaube ich das nicht mehr recht. Können müsste heißen: sehr schnell, mit leichten Fingern und ohne einen einzigen falschen oder unklaren Ton.  (Alle anderen Fragen, die man stellen könnte, verdränge ich; z.B. ob das Tempo überhaupt richtig ist, warum Bach eigentlich einen 24/16 – Takt statt eines 4/4 – Taktes notiert, usw., auch die Frage, wie Bach selbst den Daumen bei solchen Figuren wie hier eingesetzt hat.) Um kurz ein Beispiel zu benennen: in der zweiten Zeile, Bass, erster Takt, letzte Note, dieses Auftakt-Achtel trägt einen von mir damals eingezeichneten Punkt. (Die anderen, in den Takten vorher, sind nur analog gesetzt: die Kürze ist ja auch musikalisch sinnvoll.) Warum? Der Finger, der diesen Ton anschlägt, muss schnell verschwinden, weil die rechte Hand diese Taste ebenfalls sofort danach anschlagen muss, die rechte Hand „hängt“ dabei über der Linken und muss im gleichen Zug einen weiteren Ton erwischen, der noch tiefer liegt, das E, danach aber das wiederum höher liegende A, während die Linke genau die Taste anschlagen muss, die sie vorher so schnell räumen musste, das G. Ein kleines Drama, – davon ahnt ja keiner was, und meist geht auch hier oder gleich im nächsten Takt etwas schief. Vielleicht nur in Gestalt einer winzigen Unebenheit, aber schlimm genug für einen Virtuosen (der ich nicht bin).

bach-g-dur-prael-a-rot

Also nur Mut! Die rot ein- oder angekreisten Stellen ergeben in meinem Fall die Übeeinheiten, die ich – um den gewünschten Übeeffekt zu erreichen – choreographisch auffassen möchte. Die einzelne Hand oder die beiden Hände im Verhältnis zueinander soll(en) weiche, nahtlos ineinandergreifende Figuren beschreiben, an keiner Stelle darf ein Ruck erforderlich sein, jede Veränderung der Handstellung muss weich vorbereitet sein. Ich beginne mit kleinen, in sich geschlossenen Einheiten beginnen, erst später fügen sich – z.B. die beiden Kreise in Zeile 2 – zu einer größeren Einheit zusammen. Der eine mit dem absteigenden e-moll-Dreiklang und dem nachfolgenden A, der andere mit dem absteigenden A-dur-Quartsextakkord – dazu links mit dem 4.Finger das G in die Fingergruppe der rechten Hand hinein – dann rechts der D-Abschluss, während die Linke mit den Triolen ab FIS aufwärts startet. Es kommt nicht auf diese Worte an, sondern dass man den realen Finger-Tanz reibungslos und minutiös in Zeitlupe so ausführt, wie er später im schnellen Bewegungsablauf funktionieren wird. Statt der Worte nimmt der Geist den Verlauf der Gedankenbilder wie einen Film in sich auf. Sagen wir: man wiederholt die beiden roten Kreise des 2. Zeile jeweils 5 Minuten lang, dann bettet man sie ein in den Gesamtverlauf der Zeile 2. Der Tanz ist perfekt choreographiert, nichts ändert sich in der Feinabstimmung. Ich kann es mir leisten, Details zu beobachten, z.B. den 4maligen Anschlag des Tones G innerhalb des ersten roten Kreises in engster Nachbarschaft, keiner darf unklar erwischt werden oder gar unter den Tisch fallen.

(Fortsetzung folgt)

Neben dem Tast- und Bewegungssinn können natürlich auch die Augen bei diesem Üben eine Aufgabe übernehmen, die – sagen wir – der zwanglosen Konzentration hilft. Wichtig zunächst: die Augen zu schließen, langsam und mit Tastgefühl zu üben, wie ein Blinder.  Unabhängigkeit. Körpergefühl beachten: Schultern! Kopf balanciert und hoch.

Die Augen habe ich aber in der Überschrift nur genannt, um sie nicht zu vergessen. Gemeint war eine komplett andere Angelegenheit, die ich nur behandeln möchte, um sie bei Gelegenheit zu überprüfen. Es betrifft den Stress beim Vortragen solcher Stücke. Vielmehr die Stressvermeidung.

 

Die Intelligenz der Hand

Was denkt man beim Üben?

Ich weiß durchaus, dass die Hand von Natur aus nicht intelligent ist, aber noch sicherer weiß ich, dass sie durch ihren Tätigkeitsdrang, durch ihre taktile Leidenschaft, die Intelligenz anregt, sich mit ihr verbündet. Ganz besonders, wenn sie dabei Töne erzeugt. Man muss sich die schnellen Préludes von Chopin, Wunderwerke des Ausdrucks und der Intelligenz, natürlich im langsamen Tempo erschließen und dabei das Vertrauen in die eigenen Hände entwickeln. Etwa das Prélude Nr. 5, D-dur, Molto allegro, – im molto adagio! Ein so fabelhaft manuell erfundenes Stück muss nicht in 50 Sekunden vorbei sein, es kann der Hand, beiden Händen, 5 wunderbare Minuten bieten. Man halte die Hände vor sich, entspannt, ein Halbrund, der Daumen berührt nicht ganz die Fingerkuppe des Zeigefingers, er bildet die Gerade, über der sich der Bogen des Zeigefingers wölbt, mit dem Knöchel als höchstem Punkt. Und nun öffne man und spreize die Finger – ohne jede Anspannung. Was macht man nun mit der Figur  der linken Hand in den ersten 4 Takten? Man setzt den Zeigefinger auf den Ton G  und lässt den kleinen Finger nach links in die Richtung des Tones A weisen, den er „demnächst“ erreichen soll, den Daumen aber nach rechts in Richtung des Tones E, er befindet sich wohl schon in nächster Nähe. Und nun heißt es, an die Tasten zu tasten, ohne den Finger dorthin zu recken, zu spannen, zu zerren – oder was sich an schlimmen Worten dafür anbietet. Man gibt mit der Hand nach, um die Tasten zu berühren. Das ist jedenfalls das Wort und die Vorstellung. Eine durch und durch runde, weiche Bewegung.

Chopin Prélude 5

Schon mal etwas zum Hören… es geht um die ersten 3 Sekunden…

Es ist merkwürdig: dieses Prélude ist nicht leicht zu analysieren, obwohl so übersichtlich angelegt, und das taktile Erlebnis, das einen besonderen Anreiz bietet, ist schwer zu beschreiben. Im alten Reclam-Klaviermusikführer (1986) steht:

Eine pianistisch knifflige Studie, in der beide Hände weite Intervalle zu überwinden haben und in unbequemer Bewegung gegeneinander und ineinander geführt werden (…).

Unbequem? Nur wenn man es schneller spielen will, als es die Finger gelernt haben. Aber auch langsam braucht es viel Zeit und Geduld, es geht nicht „von selbst“. Man muss es erst lieben.

Tadeusz A. Zielinski sagt:

Das kurze, äußerst bewegte (…) Prélude (…) ist eine Momentaufnahme, ein flüchtiges Gefühl oder eher der blitzschnell vorbeihuschende Schatten derselben: Hier verbinden sich – in Sechzehntelbewegungen beider Hände – die Ansammlung harmonischer Wechsel und schneller Modulationen mit einem zarten Wogen des Ausdrucks. Ungeachtet ihrer scheinbar einheitlichen Bewegung ist diese Miniatur von außerordentlichem musikalischen Reichtum.

Und er benennt auch in aller Kürze den Reiz des metrorythmischen Wechsels, der im ganzen Verlauf des Préludes in Erscheinung tritt. („Chopin“ Lübbe 1999 Seite 585)

Ich finde: gut sehen und verstehen kann man die Zusammenhänge, Beziehungen, Veränderungen nur, wenn man den Notentext sinnvoll anordnet, nämlich so, wie ich es bei ethnologischem Material auch tun würde; denn das Unbewusste ist schwer von Begriff, man darf es liebevoll wie ein Kind behandeln. Zwei Zeilen – die rot markierten, Taktzahlen 5 und 21- habe ich zudem jeweils in Vierer-Taktgruppen durchgezählt, damit offensichtlich ist, dass die untere nicht etwa länger ist als die obere, sie ist nur drucktechnisch in die Länge gezogen. Diese Zeilen bedürfen am ehesten einer verbalen Analyse. (Vielleicht folgt sie noch…) Ansonsten: Rosa bedeutet „Hab-Acht!“, Grün bedeutet „Nachklingeln“ der Zielkadenz.

Chopin Prélude 5 - sichtbare Beziehungen

Man erkennt auch leicht, dass der metrorhythmische Wechsel nur die rosa markierten Abschnitte betrifft, ablesbar an den tiefsten Basstönen der linken Hand, die in der ersten und dritten Doppelzeile mit den Off-Beat-Akzenten der rechten Hand zusammenfallen, in der fünften dagegen nicht, – was die Verhältnisse noch „wackeliger“ macht. Andererseits fallen hier die höchsten und die tiefsten Töne (rechts d“ und links D) viermal zusammen, womit gewissermaßen das Ende eingeläutet wird.

In den Doppelzeilen II und IV (ab Takt 5 und 21) entspricht das Metrum jedoch genau den harmonischen Kadenzierungen von der dritten Zählzeit zur ersten des nächsten Taktes. Die Irritation liegt nur im Wechsel von Hoch- und Tiefton der linken Hand und ihrer schön verzwickten Fingerfolge. – Der merkwürdige psychologische Effekt, dass die Doppelzeile IV (Takt 21 ff) als Steigerung der Doppelzeile II (Takt 5 ff) wirkt, obwohl 5 von 8 Takten völlig identisch sind, liegt an der Molleintrübung verbunden mit kleinen Chromatismen. Dann, rückwirkend, an der unterschiedlichen Reaktion auf den verminderten Septakkord, einmal in Fis-dur, einmal in D-dur:

Chopin Prélude Harmoniefolge

Der folgende Satz aus einem schwachen Werk über Chopin von Wakeling W. Dry aus London (1926) soll in diesem Hause nicht mehr gelten:

Chopin Prélude

Um zum Schluss auf das anfängliche Finger- oder Handproblem zurückzukommen, das keines geblieben ist, möchte ich doch noch zwei nicht leicht eingliederbare Töne hervorheben, deren man sich bewusst sein sollte: das GIS in der linken Hand gegen Ende von Takt 12, sowie das CIS in der rechten Hand gegen Ende von Takt 29. Im ersten Fall sollte man der Hand schon ab der zweiten Note (EIS) eine leichte Linksdrehung zu geben, die davor bewahrt, das hohe GIS mit einem Ruck erreichen zu müssen: der Daumen muss schon vorher gewissermaßen in der Luft liegen. Bei der anderen Stelle (Takt 29) sollte man beim Fingersatz 1 – 4 – 2 – 5 ( – 1- 5) , falls man beim Übergreifen des 2. Fingers  zu einer Linksdrehung der Hand neigt, genau die andere Tendenz einüben, nämlich eine leichte Drehung nach rechts, verbunden mit einem leichten Recken des Daumens in Richtung der Taste CIS, dieses „Recken“ aber nur in der frühen Phase des Übens, als eine Bewusstmachung: der Daumen muss von Anfang des Taktes an wissen, dass er genau dort landen muss.

Quelle der Noten (samt Fingersätzen): Alte Peters-Ausgabe C.F.Peters Leipzig [1879] Bearbeiter: Herrmann Scholtz (1845-1918) IMSLP Petrucci Music Library (hier)

Meine Aufzeichnungen beruhen auf Übe-Erfahrungen, die nicht weiter zurückgehen als auf den 17. März 2015.  Vorher kannte ich das Prélude nicht bzw. ich habe es nie beachtet. Jetzt sitzt es mir in den Händen – ich kann nicht sagen, dass ich es beherrsche, aber ich werde nie wieder die Finger davon lassen.

Chopin üben – und mehr (weniger)

Impromptu Op. 36 Fis-dur (1839)

Chopin Impromptu Fis a

Man sieht, ich habe es immer wieder in Angriff genommen: 1991, 2000, 2010 und jetzt wieder seit zwei Wochen. Es ist 8 Seiten lang und konzentriert sich auf sehr unterschiedliche Charaktere. Mein Motiv, das Stück immer wieder anzugehen, könnte ich schnell benennen: es ist nicht so sehr der etwas spröde Ansatz, dieser zweistimmig kontrapunktische Beginn und das später hinzutretende Thema. Erst die Modulationen in der Fortspinnung ab Takt 14 fesseln mich unweigerlich an das Stück; dann die Freiheit der Tongirladen in Takt 17, 29 und noch mehr in der Wiederkehr Takt 71. All das zu üben reizt mich, der Mittelteil in D-dur löst latenten Widerstand aus, ich brauche dafür eine andere Motivation. Die 32stel-Läufe des letzten Teils wiederum fordern mich technisch produktiv heraus. Aber was mich zutiefst bewegt und immer wieder verlockt, das Stück in allen Details zu studieren, seit ich es kenne – wohl seit 1962 in der Aufnahme mit Jan Ekier – , das ist der Epilog des Themas, der zuerst in den Takten 30 bis 38 und dann wieder ganz am Ende, Takt 101 bis 109, zu hören ist. Rätselhaft, wie aus weiter Ferne rufend. – Heute geht es mir nur um die 32stel-Läufe, die tatsächlich im Laufe der Jahre ganz flink geworden sind; aber weiterhin gibt es eine Stelle, die gern aus der Reihe tanzt, nämlich die unten wiedergegebene; einzelne Töne streiken, fallen unter den Tisch, und ganz offensichtlich ist der Daumen schuld. Dies festzustellen, hilft aber nicht im geringsten, die üblichen Übemethoden (unterschiedliche Betonungen, punktierter Rhythmus o.dgl.) versagen. Am Ende passiert das gleiche wie vorher. Was tun?

Chopin Impromptu Fis b

Zur Orientierung: wir sprechen von den Vierergruppen und bezeichnen sie mit römischen Zahlen von I bis VIII, eine bestimmte 32stel-Note in der Vierergruppe wird mit einer arabischen Zahl von 1 bis 4 angehängt. Der Daumen befindet sich zunächst auf I-3, der weißen Taste „his“ (gleich „c“), dann aber auf II-2, der schwarzen Taste „cis“; dies ist die erste Klippe: er macht eine kleine Vorwärtsbewegung und gibt der Hand – mit einem leichten Ruck – eine kleine Auswärtsdrehung. Die Lage des Daumens muss von vornherein so eingerichtet sein, dass keine Sonderbewegung – und sei sie noch so winzig – eingeschaltet werden muss, um ihn auf das „cis“ zu bringen (zu berücksichtigen ist allerdings, dass der vorhergehende lange Lauf die Hand gern zu einer leichten Einwärtsdrehung veranlasst). Alle weiteren Töne liegen günstig in der Fingergruppe 1 2 3, bis zur nächsten Klippe, die erst in V-3 zu erwarten ist, wenn der vierte Finger ins Spiel kommt. Die Parallelbildung der Fingerfolge 4 3 2 1 ab V-3 und 4 3 2 1 ab VI-3 muss bewusst erfasst und begriffen werden; dann auch die Verkürzung 3 2 1 mit Richtungsänderung in VIII-1 zu VIII-2 und den beiden folgenden Tönen. Wichtig: es gibt in dem ganzen Takt keinerlei Mithilfe des Handgelenks, stattdessen ist allein die Ab- und Aufwärtsbewegung des Daumens (sowie der anderen Finger) zu beobachten: er muss wirklich sanft zurückschnellen, damit die Taste nicht zu weit unten bleibt und beim nächsten Anschlagsversuch den Ton verweigert. Genau das verursacht die störenden Löcher (die Taste ist noch nicht wieder oben). Diese (Rück-) Bewegung insbesondere des Daumens scheint mir die zu sein, die in den meisten Methodiken vernachlässigt wird. Rühmliche Ausnahme: die „Spiel- und Denktechnik im Elementarunterricht für Klavier“ von Hans Balmer. In der Tat handelt es sich um einen Anfängerfehler, der sich hier, weil es etwas unübersichtlich wird, wieder einschleicht. Balmer beschreibt die Gefahr am Beispiel der normalen Tonleiter mit Untersetzen des Daumens; man muss sich also der Mühe unterziehen, diese Beobachtung gut zu verstehen, um sie auf die konkrete Stelle zu übertragen:

In der laufenden Tonleiter folgen sich abwechselnd Gruppen von je 3 und 4 Fingern. Der Daumen ist jeweils ihr Anführer. Er muß sich vor dem Auslöschen einer Gruppe an den Ausgangspunkt der nächsten bewegen, damit am neuen Ort die in senkrechter Richtung wirkende tonbildende Energieleistung vollzogen werden kann. Sobald er gespielt, hat er am alten Ort nichts mehr zu suchen. Die Ortsveränderung ist so rasch wie möglich,, während des Spiels der anderen Finger, vorzunehmen, damit er – die Temponahme mag so schnell sein wie es der Umstand erfordert – am neuen Ort jederzeit bereit ist.

Wird die seitliche Bewegung des Daumens verzögert, besteht immer die Gefahr, daß sie entweder zu spät erfolgt, oder – was schlimmer ist – in der Angst, daß sie zu spät erfolge und die Bewegung des Daumens nicht ausreiche, die seitliche Bewegung der Hand unnötigerweise aufgeboten wird. Dies ist die Ursache der bekannten Zickzackbewegungen des Handgelenks.

Die Fehlleistung in senkrechter Bewegungsrichtung paart sich meist getreulich mit dieser: Im Augenblick des Untersetzens befindet sich der Daumen unter dem Handrücken (beim Untersetzen nach dem 4. Finger sozusagen unter dem 5.). In dieser Stellung ist es für den Anfänger äußerst schwer, die Daumenmuskeln zu betätigen, welche die senkrechte Bewegung bewerkstelligen müssen. Lenkt der Lehrer die Aufmerksamkeit nicht besonders darauf, wird sich der Schüler sehr einfach auf die wohlbekannte Art aus der Sache ziehen: Die Daumenmuskeln bleiben passiv, die Taste wird von der abstoßenden Hand hineingedrückt. Diesem Handsenken geht logischerweise das instinktive Handheben vor dem Untersetzen voraus. Resultat: sturzwellenförmige Bewegungen des Handgelenks bei fortlaufender Tonleiter.

Infolge eines kleinen Denkfehler geschieht im kleinen Anfang die fehlerhafte Verwechslung der Instanzen, sowohl in wagrechter wie in senkrechter Richtung: statt der in erster Linie verantwortlichen Fingermuskeln treten die erst in zweiter Linie heranzuziehenden Hand- und Armmuskeln in Kraft. Durch Wiederholen in derselben Weise wird schnell ein unverrückbare Gewohnheit daraus.

Quelle Spiel- und Denktechnik im Elementarunterricht am Klavier. Von Hans Balmer. Verlag Gebrüder HUG & Co. Zürich, Leipzig (1992)

PS.

Natürlich liegt das Pedantische dieser Betrachtung auf der Hand, es kommt aber vor allem aus der Verschriftlichung, die allmählich „verdampfen“ sollte. Wichtig ist die Ruhe der Betrachtung, das Zeitlassen für die Beobachtung des eigenen Übevorgangs. Für 20 Minuten – sagen wir – gibt es nichts als die im zweiten Beispiel gegebenen 36 Töne (plus Auslaufen) der rechten Hand.  Im Sinne des bekannten Haikus, das nur dem Sprung eines Frosches gilt, aber zugleich den ganzen Kosmos umfasst.