Schlagwort-Archive: Klarinetten-Sonate Op 120 Nr 1

Interpretation = Übertreibung?

Am Beispiel Brahms 

Dies nur in aller Kürze, damit es als Thema festgehalten ist. Möglicherweise tue ich den Interpreten Unrecht und müsste nur das Ganze und dies ganz ausführlich behandeln, nicht nur die erste Seite: schon wäre ich anderen Sinnes. Aber dieses Sinnes war ich ja schon, und erst einige kritische Bemerkungen von außen haben mich aufgeweckt: Klar, Brahms ist immer gut, auch wenn er unterschiedlich dargestellt wird. Aber…

So etwa, wie es unten zu hören ist,  wars vor 30 Jahren. Gleichmäßig schön, in der Klarinette die Bögen nicht besonders abphrasiert, es geht um die weit geschwungene Linie. Karl Leister (und das Drolc-Quartett), mit dem ich „in alter Zeit“ das Klarinetten-Quintett entdeckt habe, was ich ihm nie vergaß. Aber klingt die Sonate nicht ein wenig langweilig? Und bei 1:29 das „p ma ben marc.“ – was für ein seltsames Gepolter im Klavier… (Achtung: Werbung am Anfang überspringen!)

Allzu harmlos?

Aber nun kam in jüngster Zeit Lorenzo Coppola mit Andreas Staier. Was für eine andere Welt! Zudem auch noch die „originalere“, ganz dicht an Brahms und seinem ersten Interpreten Mühlfeld. Ist es so?

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Es ergab sich folgende Diskussion:

Natürlich ist das gut, und von beiden Interpreten – wie sagt man? – meisterhaft gespielt. Aber so, als ob es uns aus jedem Takt anspringen müsste: schaut, wie unerhört musikalisch wir alles auffassen. Am meisten irritiert der höchste Ton der Klarinette auf (2. Zeile, 3. Takt), man hört ihn kaum, vermutlich ist es nicht leicht, ihn in der Höhe so leise zu spielen: aber muss mir das bewiesen werden? Ist nicht das Intervall der verminderten Septime, das er mit dem ersten Ton des nächsten Taktes bildet, auch etwas wert? Und im letzten Takt dieser Zeile, jaja, ich sehe wohl, dass Brahms da ein crescendo-Zeichen gesetzt hat, aber wozu diese metallische Färbung, dieser eherne Entschluss , „es muss sein!“ – wieso denn, wir sind doch erst in Takt 11, ein ganzer Satz soll noch folgen, die Triole bringt schon von selbst einen Energieschub, der den punktierten Rhythmus des Klaviers anwirft. Und am Ende der nächsten Zeile steht über eine Länge von 4 Takten (hier schon früher einsetzend) ein diminuendo, – ein ritardando ist nicht verlangt! Gerade nicht! Es folgt zwar eine Atempause, – aber es geht doch weiter…

Im Grunde beginnt das Klavier enden wollend. Der dritte Ton, das Es, ist gedehnt (wenn ich die Noten nicht sehe, meine ich, es seien zwei Viertel Auftakt und als drittes eine Takt-Eins), wahrscheinlich weil das nachfolgende Des bedeutungsvoller wirken soll, weshalb es auch leiser ist. Zugleich muss man dann zusehen, dass die Achtel wieder vorwärtsgehen (roter Pfeil), was zur Folge hat, dass das letzte, der Ton F, wieder zögern muss, ebenso der ganze nächste Takt: die Klarinette ist Königin, und sie spielt sich entsprechend auf, auch durch die besonders herausgekehrte Dezenz auf dem höchsten Ton, was allerdings zwei Takte weiter durch übertriebenes Crescendo ausgeglichen wird.

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Vielleicht hätte ich alles, wie es ist, mit Sympathie hingenommen, man hört keine neue Aufnahme mit dem Vorsatz, nicht überwältigt zu werden, – der Widerstand formt sich sehr langsam, kann aber beschleunigt werden durch treffende Kommentare oder – noch besser – durch ein überzeugendes Gegenbeispiel. Hier wäre es: aber es stammt von 2005 und kann sich nicht auf das historische Vorbild Mühlfeld berufen. Muss das ein Nachteil sein?

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Hier wird mir nichts bewiesen, außer dem, was Brahms geschrieben hat, und das ist wunderbar genug. Gehen wir zum nächsten Satz: „Andante un poco Adagio“. Coppola tendiert zum Andante, Fröst zum Adagio, beide Tempi überzeugen. Das, was stört, ist wieder die Demonstration des Pianissimos an der Grenze des Hörbaren, sobald das Thema, das anfangs poco forte intoniert wurde, von neuem ansetzt: ein piano ist in den Takten vorher erreicht, es würde genügen, dem Thema noch einmal sehr sorgfältig und sanft (liebevoll) nachzusinnen, um es dann zu einem forte hinaufzuführen, „dol.“ (dolce) bedeutet nicht jenseitig, nicht einmal „sotto voce“ (noch weniger „dolente“). Bei Coppola erinnert es mich fatal an Giora Feidman, wenn er auf seiner Klezmer-Klarinette Theater macht. Dabei ist es Fröst, der auch Klezmermusik im Programm hat, aber nicht bei Brahms. Er trumpft auch im Ländler des nächsten Satzes weniger bajuwarisch auf als Coppola. Richtig, denn es ist kein Theater…

***

Nun könnte man mir entgegenhalten: warum meckerst du über das, was du an Caroline Widmanns Schubert über den grünen Klee lobst? Weil es dort etwas ganz anderes ist, zumal die Musik wirklich aus dem Nichts, aus dem Niemandsland kommt. Zum anderen handelt es sich um die Geige, deren Tonbildung in einem anderen Rahmen verläuft. Das tonlose, vibratofreie Spiel ist ja auch nicht an sich ein höherer Wert, – bei Anne-Sophie Mutter zum Beispiel ist es ebenfalls Theater…

***

Und wie gesagt: es war eine Diskussion, man kann gewiss ganz anderer Ansicht sein.

Und nebenbei: Martin Fröst ist weder klassischer Asket noch ein Feind des Theaters…

Und noch etwas: das Leben geht weiter, notfalls sogar ohne Musik, wenn auch als Irrtum. Falls Nietzsche recht hat.

Nur am frühen Morgen scheint es anders, wie heute, am 12. November 2016:

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Nachwort am Abend

Ich kann es nicht ganz dabei bewenden lassen: erst jetzt habe ich den CD-Kommentar von Coppola gelesen und kann manches nachvollziehen. Ja, mein Wort vom „Theater“ hat sich – ohne dass ich davon wusste – bestätigt, aber auf eine ganz andere, klügere Weise, als ich gedacht hatte. Um es jedoch vorwegzunehmen – eine musikalische Interpretation erweist ihre Überzeugungskraft nicht durch eine zusätzliche verbale Interpretation der musikalischen Interpretation, sondern aus dem klanglichen Ergebnis und der Wirkung, die man als Zuhörer mit denen anderer Interpretationsmöglichkeiten vergleicht. Die Werke haben eine Geschichte. Und gerade deshalb lasse ich gern auch diese verbale Deutung „narrativ“ auf mich wirken, empfehle sie weiter – und versuche sie auszuschalten: möglicherweise hilft sie nur dem Interpreten bei der Aufführung, nicht aber dem Hörer, der sich gerade allen Tagträumen verschließt, um mehr Musik wahrzunehmen.

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Gewiss, ich bin weit entfernt davon, mich diesen Gedanken zu verweigern. Andererseits sehe ich zu wenig konkrete Hinweise bei Brahms selbst und finde die seiner Zeitgenossen „überinterpretiert“. Für Orpheus und Eurydike gar fehlt mir selbst der kleinste Anlass; sie passen nicht recht zu den späten Gedanken des Komponisten, über die wir freilich wenig wissen…

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Vielleicht ein andermal mehr darüber. Hier der direkte Weg zu beiden Produkten:

Hier Fröst/Pöntinen (ohne Theater), HIER Coppola/Staier (mit Theater).