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Musik als Universalie

Vorüberlegungen (improvisiert)

[Dieser Text ist – zunächst – nicht zu ernst zu nehmen: er soll mich vor allem verleiten, den Faden gedanklich weiterzuspinnen, bis er etwas Plausibles zum Gegenstand aussagt. Er begann beim Widerspruch zu dem ZEIT-Artikel, der weiter unten angegeben ist.]

Man könnte sagen, sobald wir verallgemeinern, beginnen wir zu lügen. Wir lösen die Unterschiede auf, damit die Dinge vergleichbar werden. Das gelingt umso leichter, je weniger dinghaft sie sind. Wenn wir zum Beispiel nicht Wörter vergleichen, sondern deren Bedeutungen. Wenn ich eine starke Erfahrung beim Musikhören mache, beginnt der Fehler damit, dass ich sage: Musik ist das Größte für mich. Entscheidend ist doch, welche Musik ich höre. Ich muss es dazusagen: war es eine Trompetenfanfare oder ein Schlaflied? Wenn ich einen Menschen kennenlerne und wir entdecken, dass wir beide uns für Musik interessieren, kann ein Gespräch über Musik schnell zu der Erkenntnis führen, dass uns Welten trennen. „Über Musik“ bringt gar nichts, es ist ein Abstraktum, zu klären ist: welche? Und das Problem ist sehr einfach, wenn wir bei der konkreten Sache bleiben. Man muss bei der konkreten Sache ansetzen (und bei Bedarf abstrahieren können, z.B. vom eigenen Musikgeschmack). Niemand der von einem Veilchen entzückt ist, wird als seelenverwandt empfinden, wenn ich einwende, dass mich Eichenwälder begeistern. Schon der Volksmund weiß: man soll Birnen und Äpfel nicht miteinander vergleichen.

Ich habe gedacht, diese Fragen seien allmählich geklärt, da entnehme ich der Wochenzeitung DIE ZEIT, die doch so vieles weiß, dass im Reich der Musik immer wieder alles von vorn beginnt. Musik ist NICHT die Sprache, die jeder Mensch versteht. Sie ist ihm so fremd wie der Tonfall jeder beliebigen Sprache, die er nicht versteht, etwa einer afrikanischen Klicksprache, wie auch die begleitende Mimik und Gestik, obwohl die Vergleichbarkeit im physischen Bereich offensichtlich ist, Gesichter, Arme, Beine. Nur im Sport scheint alles vergleichbar und messbar, weil die Leistungen auf Vergleichbarkeit getrimmt sind. Selbst die Wissenschaften, die sich professionell mit den Unterschieden befassen, erwecken leicht den Eindruck, dass die Verbindungen auf der Hand liegen. Etwa wenn von der Liebe geredet wird. Es ist wie mit dem halb vollen Glas Wasser, das man auch als halb leer betrachten kann.

Diskussion 2009

Universalien der Musikwahrnehmung?

Der Reihe nach Dieser ZEIT-Text besteht aus acht Kapiteln:

1 Steinzeit / Fazit: „dass ausgerechnet sie [die Steinzeitmenschen] sich die Zeit zum Musizieren nahmen, ist von existenziellem Wert, es hat der Spezies Homo sapiens einen unschlagbaren Vorteil verschafft und ihr, so vermuten einige Wissenschaftler, vielleicht sogar das Überleben gesichert. Es hat ihr ein Bindemittel geschenkt, das sie bis heute zusammenhält.“

Kritik: das Wort Musizieren führt irre. Bindemittel ist angemessener. Es könnte lebensnorwendig gewesen sein, muss aber nicht Vergnügen bereitet haben.

2 der Chorsänger H.R. / „die Lieder sind ihm über die Jahre zu treuen Gefährten geworden. Und der Chor bietet ihm mehr als Geselligkeit, mehr als ein Skatclub oder ein Kegelverein.“

3 Musik in der Pandemie, im Krieg oder angesichts anderer Katastrophen / „Sie spielten Tuba und Cello, trommelten auf Pfannen und Töpfen – ein Volk, das sich nicht mehr umarmen durfte, fand in der Musik Zusammenhalt.“ „Zwei verfeindete Truppen[stimmten ein Weihnachtslied an], ein und dieselbe Melodie.“ Gemeinsame Musik – nach Eckart Altenmüller – wirkt über den „Nucleus accumbens“  – Belohnungssystem – Dopamin – einige bekommen Gänsehaut, die evolutionsbiologische Funktion der Musik, sagt E.Altenmüller:  „die unentwegte Schulung der Fähigkeit, soziale Laute zu erkennen, sie richtig zu deuten und abzuspeichern. ‚Musik ist die Spielwiese, auf der wir all das üben.‘ Weil Dopamin die Verschaltung der Synapsen fördert, ist der Lernerfolg besonders groß – und eine Erinnerung, die an Musik gekoppel ist, besonders lange abrufbar.“ Gemeinschaft.  Die komplexe Arbeitsteilung verschaffte dem modernen Menschen einen evolutionären Vorteil – und stellte ihn vor ein Problem: Je größer die Gruppe, desto schwieriger wurde es, Konflikte einzuhegen. Damit die Gemeinschaft nicht auseinanderfiel, brauchte es etwas, das über die Sprache hinaus Identität und Verbundenheit schuf.  Dieses Etwas (… ) war die Kultur. Kunst, Religion – und Musik. (…) Musik als kollektive Selbstvergewisserung.“

4 In der Pandemie werden Interpreten weltweit zusammengeschaltet, um in einer Aufführung der Bachschen H-moll-Messe zu kooperieren. „Sie singen, flöten, geigen mit und filmen sich dabei. Die Videos werden einige Monate später zusammengefügt und auf dem Leipziger Marktplatz gezeigt.“

5 Bach im Weltraum: „ein beinahe universeller Komponist“, Datenplatte in Raumschiff Voyager 1. 1977. Eine „Botschaft an mögliche außerirdische Zivilisationen“. Sie dient „noch immer als Symbol für die alles transszendierende, ätherische Kraft der Musik.“ Fragwürdig! – Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann sucht „herauszufinden, ob es so etwas wie eine universelle Musiksprache [auf der Erde!] tatsächlich gibt.“ Bach und die weltweiten Unternehmungen? „All das „habe nicht nur mit der Macht der Musik zu tun – sondern vor allem mit der Macht derer, die den Kanon der europäischen Musikkultur in den vergangenen Jahrhunderten verbreitet haben.“ Frühe musikethnologische Sammlungen in Berlin. Beispiel: Aufnahmen von Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg. Das Koreanische Lied Arirang. Heute verwestlicht, in Dur verpackt. „Das ist ein bisschen exotische Oberfläche, aber darunter liegt das westliche Tonsystem.“ – „Die abendländische Musikkultur hat sich, spätestens seit dem Aufkommen moderner Tonträger und dem Boom der westlichen Musikindustrie weltweit breitgemacht.“

Kritik: Man sollte es nicht verallgemeinern, –  Arirang erscheint immer noch in verschiedensten Versionen, auch traditionellen. Siehe das folgende Video. – In Südindien z.B. sucht man Produkte der westlichen Popkultur vergebens, die eigene Klassik steht weiterhin hoch im Kurs. Die Überlagerungen sind viel komplizierter.

6 Im Westen gibt neue Versuche der kulturellen Begegnungen: ein Beispiel (unter vielen!) wird hier herausgegriffen: der Schlagzeuger Ketan Bhatti und sein Orchester, 15 Musiker und Musikerinnen aus sieben Ländern. „Sie nutzen traditionelle Spieltechniken ihrer Heimat, bedienen sich aus Jazz, Zwölfton- und serieller Musik. Sie improvisieren, suchen, finden und verlieren sich, ein babylonische Sprachverwirrung auf musikalischem Spitzenniveau. „Die universelle Sprache der Musik, in der Welt von Ketan Bhatti gibt es sie. Aber sie ist eine, die man gemeinsam erschaffen muss.“

Kritik: dieser Versuch wird herausgegriffen und wahrscheinlich überbewertet. Es gibt andere, die überzeugender sind, aber eben auch nur Einzelfälle. Siehe z.B. in diesem Blog hier, Stichwort „Identigration“.

7 „Tanzen ist etwas, das es in allen Kulturen gibt.“ Hier fehlt eine Differenzierung: die Möglichkeit, dass Tanzen in einem anderen Areal als die Musikalität beheimatet ist (z.B. vom Gehen/Wandern abgeleitet ist, während die Musikalität von Mund/Atmen/Sprechton). Es wird behauptet: „Und auch bei Tieren. Kakadus, Schimpansen, Seelöwen, sie alle haben in Experimenten ein zumindest rudimentär ausgeprägtes Taktgefühl bewiesen. Einige sind sogar in der Lage, ihre Gesänge in wiederkehrende Strukturen zu gliedern.“ Hat eine Wiederkehr von Strukturen zwingend mit „Taktgefühl“ zu tun, also mit einer regelmäßigen Folge oder wird das hier bewusst verundeutlicht?

8 Wiegenlieder als Archetyp der musikalischen Kommunikation – „Eine Urform der Musik, die sagen soll: Du bist nicht allein.“

Kritik: Effektvoller Abschluss des Dossiers, aber nicht von grundsätzlicher Aussagekraft

(Fortsetzung an dieser Stelle, folgt)

Siehe auch HIER (Wikipedia)

Die am Ende des Wiki-Artikels gesprochene Textfassung unterscheidet sich im Wortlaut von der gedruckten , und zwar folgendermaßen:

Die Universalien der Musikwahrnehmung sind die Elemente der Musikwahrnehmung und -verarbeitung, die als angeboren, d.h. kulturunabhängig betrachtet werden.

Vielfach begegnet uns die Ansicht, Musik sei eine universale Sprache. Dies impliziert die Annahme, dass Musik universale Merkmale besitzt, also Merkmale, die nahezu allen musikalischen Systemen auf der Welt gemeinsam sind und dass es universale mentale Strukturen für die Verarbeitung von Musik gibt. Von einem universalen Merkmal spricht man, wenn das Merkmal nicht gelernt wird, sondern spontan erscheint, latent in allen normalen Personen vorhanden ist oder angeboren ist.

Hinsichtlich der Unterscheidung angeborener oder universaler Prozesse von erworbenen, ist die Überlegung hilfreich, dass Prozesse, die schon bei der Geburt funktionieren, sehr wahrscheinlich angeboren und damit unabhängig von Erfahrung sind. Infolgedessen könnte man aus Vergleichen von Säuglingen und Erwachsenen oder von Personen aus verschiedenen Musikkulturen schließen, dass der Prozess vermutlich angeboren ist, wenn diese die gleichen Funktionsweisen zeigen, und dass bei Unterschieden zwischen den Populationen der Prozess durch Enkulturation erworben sein könnte. Aus dieser Perspektive ist Musik keine universale Sprache, sondern die Universalien der Musikwahrnehmung und -verarbeitung umschreiben vielmehr die Grenzen, innerhalb deren die Merkmale der Musik zwischen verschiedenen Kulturen variieren.

(Fortsetzung folgt)