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Chopin Chmiel Polen

Zu den Impromptus

die 4 Impromptus, die ich erst jetzt in Rot nach Entstehungsdaten nummeriert habe. Dabei wurde mir klar, dass mein Lieblingsstück von Jugend her, das Fantaisie-Impromptu, das schlecht beleumundete (von W. Georgi) und wohl auch von Chopin zurückgesetzte, das früheste war. Nun scheint mir, dass der Komponist sich zeitlebens daran erinnert hat und immer wieder die gleichen Momente neu ausgearbeitet hat, zentral ein Melodietypus (?), auf den Tadeusz A. Zielinski aufmerksam gemacht hat. (Früher hieß es, diese Melodiebildung komme vom Vorbild Bellini, – ganz im Gegenteil, behaupte ich!) „Chmiel“ ist sein Stichwort, „Hopfen“, wohl ein Hochzeitslied, bezogen auf die Themenbildung des Fis-dur-Impromptus, die mir rätselhaft geblieben ist, aufs neue, seit ich das Stück zur Wiedergewinnung einer gewissen Virtuosität seit zwei Monaten übe, neben dem in Cis-moll. (Die Noten habe ich – wie fast alles von Chopin – 1960/61 in Ostberlin im polnischen „Pavillon“ erstanden, die Paderewski-Ausgabe.) Vorschlag: höre die polnischen Volksmusikaufnahmen so oft wie möglich, prüfe die Ähnlichkeit, und sei es nur im Gestus… zuerst Bordun identifizieren, dann die wechselnden Melodietöne (Skala?), gerade die mehrfach (wie oft?) wiederholte Phrase mitsingen.

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / 1999

↑ Bordun mit Quinte, Melodie umkreist den oberen Grundton, kein „Leiteton“. Wiederholformel mit gerade diesem Ton (unter Grundton)

↑ Beginnt mit Sprung der Melodie in die kleine Sexte. + Abstieg zum Grundton. + 3-Ton-Formel

↑ Merke: diese Version beginnt nach der Einführung des Borduntones mit dem Intervall der None (wie Chopin in Fis: None Cis/dis)

↑ diese Melodie gleicht vollkommen der ersten Version, aber deutlich langsamer.

Polnische Volksmusik

Jetzt erst habe ich entdeckt, dass auch Jürgen Uhde sich Gedanken gemacht hat über dieses Fis-dur-Thema, wie immer analytisch klug, aber (natürlich) ohne Bezugnahme auf die Volksmusik, insofern doch defizitär. Mein Problem bestand darin, wie ich die Wiederholungsformel der linken Hand gestalte, diese „archaische“ Polyphonie, die auch eine andere dynamisch Gestaltung verlangt oder zu verlangen scheint als die Melodie der rechten Hand, obwohl sie jener doch „irgendwie“ nachgeformt ist. Aus früheren Jahren liegt in den Chopin-Noten noch ein Relikt meiner schriftlichen Versuche, dem Stück näherzukommen, der harmonischen Fortspinnung – letztlich ergebnislos. Jedenfalls was die dynamische Gestaltung angeht. Nebenbei rätselte ich über die Beziehung dieser Melodie zu der im Mittelteil des As-dur-Impromptus, dort in F-moll (rechte Seite).

JR Versuche

↑ So beginnt der – wie immer – nachdenkenswerte Hinweis bei Jürgen Uhde / Renate Wieland („Denken und Spielen“ s.a. hier), dessen einziges Manko ist, dass er zu keiner Assoziation mit der polnischen Volksmusik führt:

  Ein wesentlicher Zug scheint mir, dass der 3. Takt der Oberstimme linke Hand den Takt 9, also den 3. Takt der Melodie rechte Hand wörtlich vorwegnimmt, also „ankündigt“, und dass diese Formulierung in den folgenden Takten 10 und 11 der linken Hand wiederholt wird, um erst in Takt 12, nachdem die Oberstimme zu Ruhe gekommen ist, in einen Halbschluss zu führen. Es ist diese Windung der Töne, die in den 4 Impromptus immer wieder tonangebend ist, so in diesem Impromptu für die sich erweiternde technische Formel leggiero ab Takt 82 (wo man oben in der linken Ecke auch sieht, wie oft ich in meinem Leben mich schon dran abgearbeitet habe).

Es ist die gleiche Formel, aus der er einst das ganze Fantaisie-Impromptu entwickelt hatte, inclusive Cantabile-Mittelteil, dessen herrliches Thema offensichtlich auch mit dem des Fis-dur Impromptu zusammenhängt, während diese „technische Formel“ natürlich auch im Anfang der restlichen zwei Impromptus steckt. (Im folgenden Beispiel 4 Kreuzchen als Vorzeichen mitdenken!)

Zurück zu meinem Versuch betr. F-moll-Mittelteil im As-dur-Impromptu (oben): etwas Entscheidendes habe ich nicht bemerkt. Oder zähneknirschend hingenommen. Die widersinnige Begleitung der linken Hand. Ich hätte mich anders entschieden, wenn ich schon Grzegorz (Greg) Niemczuk’s Erläuterung gekannt hätte. Hören Sie ihn (von vorn und dann besonders) über die von mir abgeschriebene Stelle, ab 8:32, dann vor allem der Schluss, die Kurzformel vom Abschluss des ersten Teils (Takt 31-32) und die fragmentarische Wiederkehr (Abschied) des Mittelteil-Themas (in meiner Abschrift die Melodietöne Takt 2 bis 5 g – as – b – c):

 

Ich finde es wunderbar, wie er beim Spielen und im Demonstrieren erzählt, was in der Musik geschieht, ungeachtet der Fehler, die ihm unterlaufen. Er analysiert nicht wie ein Wissenschaftler, sondern wie ein wacher, übersprudelnder Musiker. Er denkt nicht daran, uns eine sauber geschnittene Beispielsammlung zu präsentieren, ihm liegt es am Herzen, seine Begeisterung für die Komposition auf uns überspringen zu lassen. Das finde ich unbezahlbar! Ich wollte, mein Vater hätte so mit mir über Musik gesprochen, statt dem auf „stumm“ präparierten Flügel endlos seine Fingerübungen und Rolltechniken abzuringen. Mittagsruhe! Aber immerhin: er spielte die E-dur-Etüde auf Familienfesten, klangschön wie einen Gesang, und den weitgriffigen chromatischen Höhepunkt mit allen Tönen (trotz seiner kleinen Hände). Falls ich das damals beurteilen konnte!

(Fortsetzung folgt)

Um mein Lob etwas zu relativieren: ich glaube im Fall des „Chmiel“-Impromptus war „Greg“ auf dem falschen Dampfer. Doch davon später…

Noch vormerken: Mazurka op. 68, Nr.3 https://www.chopinvillage.eu/ hier oder hier

Beethoven Sonate op.54

Eine Selbstbefragung

Der leere Stuhl vor dem Flügel ist gut! Im externen Fenster: hier. Und zurück: nur Noten anschauen. Oder den leeren Stuhl.

Seit wann kenne ich die Sonate, ohne sie zu kennen? (Welche Vorurteile? Was hätte ich tun können?) Ich beschreibe das nicht im einzelnen, es ist zu dumm. Das wusste ich auch damals schon, als ich alle Beethoven-Sonaten durchging und auch übte. (Ein ganzes Jahr lang.) Aber diese nicht. Jetzt verstehe ich es, bereit, alles aufs neue zu versuchen.

Den Anstoß gab ein frischer Blick in die Formenlehre von Erwin Ratz, eigentlich durch seine Bemerkungen zu Bach-Fugen ausgelöst. Hatte ich aus den Augen verloren. Aber letztlich lag es am neuen Hören, und zwar genau dieser Aufnahme mit Richter. Und das nach der neuen, ziemlich flüchtigen Ratz-Lektüre, in einer begleitenden (irgendwie schuldbewussten) Reflexion. Vielleicht auch einer erhöhten Wachsamkeit. Gegenüber

  1. , dem Vorurteil, zu denken: ein programmatischer Titel sei eine Hilfe, „Die Schöne und das Biest“, „La Belle et la Bête“, besser wäre zu denken: „das  Schöne und das Hässliche“; denn
  2. fand ich ja in der Tat den Einsatz des zweiten Themas ausgesprochen hässlich. Die Benennung zwingt aber, über die Notwendigkeit des (scheinbar) Hässlichen nachzudenken.
  3. macht Richter nicht den Hauch einer Luftpause, zu der ich geneigt hätte, – er stürzt hinein in diese Oktaven-Manie. Da gibt es keine weichherzige Vermittlung, keinen schwergefassten Entschluss. Ich muss mich dazu verhalten.

Am Schluss musste ich es doch erkannt haben! Ein Bass-Ostinato in Triolen, das liebliche Thema verabschiedet sich, entschwindet und lädt sich urplötzlich wieder auf, kumuliert in einer gewaltigen 10-tönigen Himmelserscheinung, dröhnend und vibrierend öffnet sich ein Riesentor – – – und zerfließt, zerfällt alsbald in zwei schemenhaften Gesten: Lebt wohl. War es das? Ich musste es so akzeptieren, wie es auf der Hand lag. Jetzt hätte ich einfach von vorne beginnen müssen! Beethoven hatte doch alles dazu gesagt. Und heute beginne ich von vorn.

10-tönig? Jawohl, der Bass-Ton muss mitgezählt werden.

ZITAT Erwin Ratz:

 

Quelle Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre (2.Auflage) Universal Edition Wien 1968

Am meisten habe ich damals (etwa 1984) gelernt von meinem besten Schüler, der aus den Noten meines Vaters spielte, die er sich zusehends durch Überarbeitung aneignete. Er studierte übrigens, seit er besser spielte als ich, in Köln bei Eckart Sellheim. Hier ein Blick auf die neugeschaffene Version der alten Ausgabe von Louis Köhler und Adolf Ruthardt, die um 1910 herauskam. (In der obigen Youtube-Aufnahme ab 4:17 mithörbar.)

Noten untereinander=1 Seite!

Aber dann kamen viele andere Werke, und dieses geriet mehr und mehr in den Hintergrund, selbst im Beethoven-Jahr 2020. Ich bin dem op. 53 (Waldstein-Sonate) und op. 57 (Appassionata) hundertfach wiederbegegnet, nur der dazwischenliegenden Namenlosen niemals mehr. Oder bin ich ihr planvoll ausgewichen? Bis mir der Zufall den blaugebundenen Band von Erwin Ratz wieder in die Hände spielte. Dazu der Rückverweis bei Jürgen Uhde, an den ich mich in Sachen Beethoven als allererste Instanz wende, ohne ihn wüsste ich gar nicht, was eine gute Interpretation vermag.

ZITAT Jürgen Uhde

Stuttgart 1974/1991

Die Behandlung dieses Satzes braucht bei Jürgen Uhde 12 Seiten, und keine Zeile ist zuviel. Ich zitiere nur noch den abschließenden Text, weil er in Kürze andeutet, wie Uhde in seinem wunderbaren Werk jeweils – trotz detailreicher Analyse , in der er sich auf Ratz beruft, – den wesentlichen Punkt herausarbeitet, der poetischer Natur ist. Er beschwört ein altes Lied und einen Vers aus Bert Brechts Laotse-Gedicht. Das ist es! Man vergisst es nie, und auch diese Sonate wird nun für immer in der Wunderkammer der Musik gehütet. Nur für besondere Stunden der Konzentration zugänglich.

(s.Forts. in grün)

Die weiteren Zeilen schreibe ich nur zu gerne ab, ich liebe diese Anspielung auf Laotse – ausgerechnet bei Beethoven:

…sondern gerade das unaufdringliche Menuett-Thema. Während es mehr und mehr erblüht, sich geradezu pflanzenhaft entwickelt, erstarkt, nimmt der Kontrastteil immer mehr ab, bis er, in der Coda, dem Menuett-Thema buchstäblich »zu Füßen liegt«. Wir denken hier an Bert Brechts Gedichtzeile: »Du verstehst, das Harte unterliegt!«.

Wie könnte es weitergehen?

Es könnte nicht schaden, Igot Levit zu hören, der das Thema Beethoven im Lockdown durchgezogen hat. Mit allerhand Publicity, die für Überdruss gesorgt hat.

Zwischenfrage „Werden hier nicht Gegensätze miteinander versöhnt?“ Gezähmt? Oder zu Bewusstsein gebracht.

Verweis auf Erwin Ratz.

https://www.br.de/mediathek/podcast/igor-levits-klavierpodcast-32-x-beethoven/alle/826

bzw. Hier Folge 22 – es lohnt sich. 32 Minuten Und dort kommen wir dann auch zum zweiten, letzten Satz. Sehr gute verbale (und in Kurzausschnitten pianistische) Charakteristik. Woher hat er das? Aus sich selbst…, kann gut sein, ich wusste nicht, dass der Pianist unter innerem Druck auch so formulieren kann, es klang – bei Aspekte oder auch bei seinem frühen Konzert in Solingen mit den drei letzten Sonaten – auch immer etwas bildungsmäßig aufgesetzt, allzu sendungsbewusst, mit zu wenig Inhalt. Am Klavier findet er das richtige Maß an Inhalt, zudem in Wechselwirkung mit diesem Freund und Helfer Anselm Cybinski. Oder er hat einiges gelesen, er erwähnt Joachim Kaiser. Und gerade diesen habe ich aus seiner späten Zeit negativ in Erinnerung, wie er mit Thielemann über dessen Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien spricht, beide offenbar unvorbereitet und erschreckend niveaulos. Das Buch über Beethovens Klaviersonaten (1979) lohnt nach wie vor: eine Fundgrube treffender Einsichten und Formulierungen. Im Falle des zweiten Satzes aus op.54 die Beziehung zu Scarlatti. Die Erinnerung an Backhaus, der den Satz als „wirbelnd konzertantes Tarantella-Stück“ auffasst. „Es wirkt dann tatsächlich wie eine nochmals ausgesponnene Durchführung des Kopfsatzes der Waldstein-Sonate, zumal eine Synkopenstelle der Waldstein-Sonate (…) hier auch geradezu auschweifend vor- und durchgeführt wird.“ (Seite 391f)

Es ist keine schlechte Idee, anhand der vom BR angebotenen Gesamtfolge von Podcasts sich planmäßig mit allen Sonaten zu befassen. Gerade jetzt, im zweiten Corona-Jahr, nachdem der Hype des Beethoven-Jahres nicht so glatt und gigantisch gelaufen ist, wie er geplant war. Man kann nicht oft genug wiederholen: Es ist nie zu spät! Man kann sich auch gegen den eigenen Widerstand hinreißen lassen zu Aktivitäten, die unglaublich und auch nicht ganz glaubwürdig im trendigsten Trend der Zeit liegen, im Mainstream aller Mainstreams. Es ist für einen guten Zweck …. nicht wahr?

Erschrecken Sie nicht – schauen Sie nur hinein, wie es wirkt: HIER. ( 32x Beethoven – Der Klavierpodcast mit Igor Levit ) Oder zunächst nur der Lesestoff: hier oder hier.

Ehrlich: als ich diesen Blogartikel begann, hatte ich nicht die Absicht, für einen Klavierpodcast Werbung zu machen. Aber jetzt ist eine unaufhaltsame Begeisterung entstanden, das Projekt einige Monate als Leitfaden zu verwenden. Beethoven ist Grund genug. Wie damals in den Jahren 1988/89, als das Alban-Berg-Quartett alle Streichquartette in Köln spielte. Davon zehrt man den Rest des Lebens, auch wenn man später noch bedeutendere Aufführungen erlebt hat.

Und wer schrieb den programmatischen Essay des Programmbüchleins? Natürlich:

Nachspiel einer Selbstbefragung

Vorsicht, Analytiker!

Gewiss, es lohnt sich auch heute noch Kaisers bilderreiche und wortmächtige Beschreibungen zu lesen, andererseits nimmt er von vornherein eine sehr hohe Position ein und schlägt sich mit den Problemen gar nicht erst herum, die unsereinem zu schaffen machen.

Und dann lese ich einen umfangreichen Zeitungsausschnitt, den ich zur Erinnerung in das Buch gelegt habe. Die Abrechnung eines Autors, der noch viel höher sitzt oder saß, geschrieben für die ZEIT im November 1975.

Also: auf derart hohen Stühlen sitzt man niemals sicher. Für die Selbstbefragung genügt ein Höckerchen.

Sehr nützlich also auch für mich:

Der Podcast von Igor Levit mit seinen Problemen (auf hohem Niveau), seine Verspieler, sein Jammern über die Wiederholung des größten Teils, wenn man die Schwierigkeiten gerade hinter sich hat. Seltsamerweise hat mich genau das zum hartnäckigen Langsamüben des allerersten kleinen Formabschnitts gebracht. Der Gedanke an Bach, an toccatenähnliche Stücke, z.B. an die einzige zweistimmige Fuge des Wohltemperierten Klaviers I (in e-moll), vertrackt auch sie, ein verrückter Unisono-Takt als grobe Gliederung,

die Andersartigkeit bei Beethoven, das „Thema mit seinem eigentümlichen Widerhaken am Ende“ (Uhde), die Vorschrift „dolce“. Ich staune (ärgere mich nicht), dass es drei Tage dauert, ehe ich davon reden kann, dass ich ihn – noch nicht zufriedenstellend – gelernt habe, obwohl ich nie gesagt hätte, er sei schwer. Man darf das auf keinen Fall zu früh ins Tempo bringen wollen. Zeitlupe, bürokratenhaft Takt für Takt und das Ineinandergreifen der Hände „aktenkundig“ machen. Es ist gar nicht formelhaft, es ist vertrackt ausgedacht. Zwischendurch Uhde lesen:

Und es ist schön! Für mich, sobald es auf die Modulation zugeht und überhaupt die neue Formel ab Takt 9. Schön aber auch Uhdes Formulierung,“dass die Kraft Beethovens sich vorzugsweise gegen Widerstände, z.B. ungeeignetes Material, entfaltet.“ Ihm selbst können diese Formeln auch nicht in der Hand gelegen haben.

Noch ein wichtiger Hinweis

In die Reihe der Beethovenforscher, die gerade diese Sonate besonders herausgehoben haben, gehört unbedingt Hans-Joachim Hinrichsen:

In dieser Trias, die Bedethovens zwei wohl berühmteste Klaviersonaten enthält, ist die kleine F-dur-Sonate op.54 von geradezu skandalöser Unbekanntneit. Dabei ist gerade sie es, die das pathetische Gewicht der beiden benachbarten Monolithen in eine ästhetische Schwebe bringt. Sie wurde selten zureichend ernst genommen und ist doch, wie immer einmal wieder gesagt worden ist, eine der tiefsinnigsten Sonaten überhaupt. Gerade diese Spannung macht sie schwierig.

Quelle Hans-Joachim Hinrichsen: BEETHOVEN Musik für eine neue Zeit. / Bärenreiter Metzler Kassel und Berlin 2020 / Seite 219 – weiterlesen!

ERINNERUNG: schon einmal – HIER

Der punktierte Auftakt

Zum Anfang der Marseillaise

Marseillaise Anfang

Als ich mir kürzlich die syrische Nationalhymne anhörte, geriet ich ins Grübeln: wie auch viele andere Hymnen ist sie mehr ein Kampflied als eine Hymne, jedenfalls will sie aktivieren, nicht zum Tanzen, sondern zum Marschieren. Erkennbar vor allem an dem „punktierten Rhythmus“, allerdings anhebend nur mit einem bloßen Sechzehntel-Auftakt: trotzdem frage ich mich, ob nicht in all diesen Fällen als Vorbild die „Marseillaise“ mit ihrem erweiterten Auftakt gelten kann (der dann im weiteren Verlauf als punktiertes Achtel plus Sechzehntel fortwirkt). Aber woher kommt er, wann hat man die hinreißende Wirkung dieses Anfangs erkannt? Die energetische Ausstrahlung ist anders als in den Tanz-Auftakten der alten barocken Suiten. Bei Wikipedia steht, dass der Anfang eines Boccherini-Quintetts die melodische Anregung gegeben haben könnte. (Jetzt brauchten wir noch den Hinweis, das Roger de Lisle, der Schöpfer der Marseillaise, Flöte gespielt und mit Vorliebe genau dieses Quintett geübt hat…)

Boccherin Marseillaise

Dem Auftakt fehlt jedoch das entscheidende rhythmische Detail, ansonsten: der Zielton der hohen Oktave auch hier – wenn auch Schritt für Schritt wie in „Ein Männlein steht im Walde“, erst der kühne Sprung gäbe den Charakter -, dann immerhin der fallende Dur-Dreiklang und seine Fortführung im a-moll-Dreiklang samt rhythmischer Komprimierung: die Vergleichbarkeit geht bis zum Anfangston des nächsten Taktes. Ja, selbst der Ton f“ auf der Zählzeit 2 des zweiten Taktes entspräche noch dem in der Marseillaise durch Aufwärtssprung erreichten Ton (siehe oben, Zeile 2, 5.Ton). – Auch die syrische Hymne verlässt sich auf die klare Wirkung des Dur-Dreiklangs (von einem arabischen Flair kann nicht die Rede sein) und auf den punktierten (nicht erweiterten) Rhythmus. Der neue Ansatz auf h-moll in der dritten Zeile zeigt jedoch, dass die Melodie im übrigen ganz anders angelegt ist

Syrische Hymne Anfang

Quelle der beiden Hymnen: Reclam Nationalhymnen – Texte und Melodien / Philipp Reclam jun. Stuttgart 2007 (Seite 50 und 188)

Es geht mir aber nicht um einen typologischen Vergleich der Melodien, sondern um den rhythmischen Effekt, den es in dieser Form wohl nicht vor der Französischen Revolution gegeben hat. Vielleicht hat er in der Ausprägung der Marseillaise rein textlichen Ursprung, schwer genug rhythmisch präzise zu artikulieren. Wenn die Trompeten ihn nicht retten, ist der erste Einsatz ist bei Massenaufführungen, z.B. im Fußballstadion, kaum zu erkennen („Allons enfants“), es sind immerhin vier Silben!

Die Märsche seit der Französischen Revolution sind gekennzeichnet durch vorwärtstreibende und punktierte Rhythmen, wie in den Revolutionshymnen und -märschen (Marseillaise) und in der Oper außerhalb Frankreichs, vor allem bei Spontini.

Quelle Riemann-Musiklexikon Sachteil / Schott’s Söhne Mainz 1967 Art. Marsch

Eine Variante, die den Anfang der Marseillaise-Melodie jeden Schwungs beraubt, zitiert Ulrich Schmitt („Revolution im Konzertsaal“ Schott Mainz 1990 Seite 204). Er bezieht sich dabei auf Wilhelm Tappert Wandernde Melodien Berlin 1889 S.59ff. :

Marseillaise Variante 

Um noch einen historisch bemerkenswerten Auftakt in Erinnerung zu rufen:

Beethoven VII Auftakt Beethoven VII: Wo beginnt das Thema?

Gewiss, es ist ein anderer Rhythmus, der diesen Satz beherrscht. Doch auch der, von dem oben die Rede war, kann einen ähnlich obsessiven Charakter annehmen und gerade auf dieses Weise den  Gestus des Kampfes merkwürdig transzendieren. Aber das ist einfach gesagt: Joachim Kaiser war es, der überzeugend auseinandergesetzt hat, wie schwer der Satz zu interpretieren ist, wie wenig ihm manche Pianisten oder Komponisten (Strawinsky) abgewinnen konnten („Beethovens Klaviersonaten“ Fischer 1979, 1994 Seite 483f). Um so deutlicher setzt Jürgen Uhde ihn in einen größeren Zusammenhang. Es soll hier in der Kopie nur angedeutet sein, das Buch gehört zumindest in jede Musikerbibliothek:

Uhde Beethoven

Quelle Jürgen Uhde / Renate Wieland „Denken und Spielen“ Bärenreiter 1988 Seite 56f

An anderer Stelle (in „Beethovens Klaviermusik III“ S. 355) sagt Uhde:

Schon Riezler verglich solche kraftvollen Gebilde mit Gestalten Michelangelos, die eigentlich fest auf dem Boden stehen müßten, sich aber doch schwebend, also gegen die Schwerkraft, verhalten.

Damit bezieht er sich, wie er sagt,  u.a. auf die „Flucht durch die Tonarten im 2. Teil, wie die späteren Triolen, die abseitige Welt des ganz und gar marschfernen Trios.“

Walter Riezler (Beethoven 1936 Seite 239) jedoch sprach allgemeiner vom Spätwerk Beethovens und insbesondere davon, dass „diese Musik auch in Momenten gewaltigster Kraft und Wucht des Ausdrucks mit ‚vergeistigenden‘ Elementen durchsetzt ist. Eines der wichtigsten und häufigsten Geschehnisse hierbei ist, daß die Ganzschlüsse, die der frühere monumentale Stil Beethovens als die tragenden Pfeiler des Baus immer besonders betont, nun sehr oft verhüllt werden.“

Ich zitiere das nur als Andeutung der Schwierigkeiten, die sich beim Hören ergeben, und aus denen eine gewisse Ratlosigkeit resultieren kann, – trotz der durchgehend „revolutionären“, entschlossenen Rhythmen. Ich meine dies als Ermutigung, und nur in diesem Sinne zitiere ich ausgerechnet die folgende Passage aus Joachim Kaisers Buch („Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten“ / Frankfurt am Main 1979, 1994 Seite 487f):

So leicht, so überschaubar in seiner Dreiteiligkeit der B-Dur-Mittelteil des alla Macia auch ist, so zart eingeschlossen in eine rhythmische Sechzehntel-Figur, die am Anfang und am Schluß als „Vorhang“ erscheint, der aufgeht und wieder zugezogen wird: gerade dieses kurze Musikstück läßt eine Grenze erkennen, von deren Vorhandensein auch mal die rede sein muß. Es ist die Grenze des Verbalisierens musikalischer Phänomene. Wie weit reichen Worte? Kurz und grob: viele Jahre lang hielt ich dieses – gar nicht so ungeheuerlich schwierige, manuell oder intellektuell anspruchsvolle – B-Dur-Stück für reizlos, für langweilig, für höchstens bläßlich hübsch. Ich begriff auch, trotz mannigfacher Interpretationen großer Pianisten und kluger Autoren, Beethovens „dolce“-Vorschriften überhaupt nicht. Heute – die Noten haben sich nicht geändert – begreife ich wiederum nicht mehr, was da eigentlich nicht zu begreifen war. Aber hilft es dem Leser, wenn immer dort, wo ich vor fünfzehn Jahren „trocken“ oder „abweisend-abstrakt“ gesagt hätte, nun – in welchen Wendungen auch immer  „innig“, „wunderbar-verhalten-exzentrisch“ umschrieben würde?

Beethoven Trio op 101 Editio Musica Budapest „EMB Study Scores“

Man höre den 2. Satz der Klaviersonate op. 101, im folgenden Video mit Emil Gilels von 4:19 bis 10:22 (das von Kaiser beschriebene und im Notentext wiedergegebene Trio beginnt bei 7:26).

Wenn sich eine unbezwingliche Lust einstellt, das Gesamtwerk zu hören, was fast unvermeidlich ist, – möglichst ohne weitere theoretische „Indoktrination“ -, könnte ein Kurzleitfaden von Jürgen Uhde nicht unnütz sein:

Ein Zustand des Für-Sich-Seins, ebenso stiller, wie leidenschaftlicher Bewegung, der „innigsten Empfindung“ also, wird durch die Fanfaren „Lebhaft. Marschmäßig“ nicht nur unterbrochen, sondern auch zerstört. Wir wissen nicht, wer oder was hier marschiert, jedenfalls ist es eine sehr mächtige Gegenkraft. „Sehnsucht“ prägt den 3. Satz, sie richtet sich deutlich erkennbar rückwärts auf die sanfte Balance der Ausgangslage im 1. Satz, aber auch schon vorwärts auf das Ziel. Dieses indessen ist nur mit größter Anstrengung, mit höchster „Entschlossenheit“ im Finale erreichbar.

Quelle Jürgen Uhde: Beethovens Klaviermusik III / Reclam Stuttgart 1974 / 1991 ISBN 3-15-010151-4 (Seite 336)

Nachtrag 28.06.2016

Wie konnte ich das nur vergessen: der Rhythmus des „Scherzando vivace“, Streichquartett op. 127, dritter Satz. Ganz am Schluss präsentiert er sich sozusagen als Formel:

Beethoven Rhythm op 127

Aber man kommt nicht auf die Idee zu behaupten, er sei durch den Anfang der Marseillaise inspiriert. – Was ich heute beim Wiederlesen allerdings übersah, war die Tatsache, das in dem oben wiedergegebenen Auszug aus dem Buch „Denken und Spielen“ auch dieser Satz aus op. 127 zitiert ist. Man muss die Doppelseite nur nach dem Anklicken nach links rücken, damit die rechte Seite sichtbar wird, – beginnend mit dem Zitat aus der „Großen Fuge“ – als von Beethoven gestifteter Topos schwerelosen Marschierens, selbst im ungeraden Takt.

Nachtrag 30.06.2016

Beethovens Lied „Der Kuss“ op.128 (!) s.a. hier

Rhythmus Der Kuß op 128