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Wovon ich nichts verstehe (eine Schande)

Gewiss, ich verstehe nichts von Wirtschaft. Und von Politik nur das, was ich den Zeitungen entnehme. Ich weiß auch nicht, ob die Politik die Bedingungen der Wirtschaft lenkt oder ob wirklich, wie viele behaupten,  die Wirtschaftsbosse den Politikern die Richtlinien diktieren. Angenommen, ich wollte mir einen Weg zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen Regierung und Ökonomie bzw. zwischen Macht und Wirtschaft erschließen und jemand gäbe mir den Tipp: versuche es doch mit den alten symbolischen Darstellungen, die sich dir einprägen und die sich dann irgendwie auf die gegenwärtigen Verhältnisse beziehen lassen, so müsste ich wohl mit den beiden Bildern beginnen, die gleich folgen. Jemand hat mich auf die Idee gebracht, und ich werde darüber auch Auskunft geben. (Bilder anklicken und zu deuten versuchen!)

Leviathan_by_Thomas_Hobbes + HOBBES 1651

Amthor Oeconomica + AMTHOR 1716

Die Arbeit kann beginnen. Ich habe mir das nicht gewünscht, aber es scheint unvermeidlich. Also: Worum handelt es sich?

Es geht zunächst um Thomas Hobbes, (Nach-) Shakespeare-Zeit, und seine staatstheoretischen Lehren. Zitat:

[Sie] sind Gegenstand seines Hauptwerks, des Leviathan von 1651. Dort beschäftigt er sich mit der Überwindung des von Furcht, Ruhmsucht und Unsicherheit geprägten gesellschaftlichen Naturzustands durch die Gründung des Staats, also der Übertragung der Macht auf einen Souverän.

Dies geschieht durch einen Gesellschaftsvertrag, in dem alle Menschen unwiderruflich und freiwillig ihr Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht auf den Souverän übertragen, der sie im Gegenzug voreinander schützt. Rechtlich gesehen wird er zu Gunsten des kommenden Souveräns geschlossen. Weil der gar kein Vertragspartner ist, gibt der Vertrag also den ihn Schließenden ihm gegenüber weder ein Kündigungs- noch ein Widerstandsrecht.

Will man den Souverän stürzen, ist es immer Hochverrat. Stürzt man ihn dennoch und ersetzt ihn, so schließen die kommenden Untertanen einen neuen entsprechenden „Vertrag zu Gunsten Dritter“. Hobbes wird oft wegen seines Leviathan angeführt, jedoch wird seine Theorie als Rechtfertigung absolutistischer Herrschaft auch kritisiert.

Quelle Wikipedia hier.

Zum Titelbild des Leviathan (s.o.):

Zu sehen ist der Souverän, der über Land, Städte und deren Bewohner herrscht. Sein Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben. In seinen Händen hält er Schwert und Hirtenstab, die Zeichen für weltliche und geistliche Macht. Überschrieben ist die Abbildung durch ein Zitat aus dem Buch Hiob: „keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar“.

Quelle Wikipedia hier.

Des weiteren sollte ich mich über Christoph Heinrich Amthor informieren, (frühe) Bach-Zeit; als sein bedeutendstes Werk gilt das Project der Oeconomic in Form einer Wissenschaft (1716). Zitat:

[Eine] der ersten systematischen Darstellungen der Ökonomie im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften […]. Amthor kennt bereits den Begriff der Politischen Ökonomie, die er einerseits als die der Privathaushalte definiert, andererseits als die von Städten und Ländern, die durch Polizeiordnung in gutem Stand gehalten werden soll. Amthors positiver Arbeitsbegriff wird bereits in Paragraph Eins des Werkes deutlich: Alle Menschen sind zur Arbeit geboren.

Quelle Wikipedia hier.

ZITAT zur zweiten der obigen Abbildungen (betr.: „schändliche Faulheit“):

Bei allen Analogien in der vertikalen und horizontalen Bildgestaltung werden geradezu Antithesen zur Hobbes’schen Begriffsallegorie formuliert. So liegen zu Füßen der Ökonomie eben nicht verschiedene Praxisfiguren, die dann von einer personifizierten Staatstheorie überwölbt und dominiert würden. Es ist ganz und gar umgekehrt: Am Boden und gleichsam funktionslos geworden lagern vielmehr diverse Gestalten des Müßiggangs, die sich unschwer – wie die Bild-Inskriptionen und Amthors Kommentar dazu klarstellen – als Variationen untätigen Philosophierens und Spekulierens ausweisen: von „Divinus Plato“ und „Summus Aristoteles“ über „Philosophus Plagiosus“ (einer Höflingsfigur) bis zum mönchischen „Eremita“. Von oben herab und aus dem Mund der ökonomischen
Allegorie wird das Verdikt gefällt: „Odi ignarum vulgus“, „Ich verabscheue das unwissende Volk“. Platonische Ideen, aristotelische Wissenschaft, höfisches Nichtstun und klösterliche Kontemplation werden, wie es auch in Amthors Widmungstext heißt, nicht nur als Exempel „Schändliche[r] Faulheit“ mit einem „belieben zum Müßiggange“ disqualifiziert, in ihnen können zudem regelrechte Feinde der ökonomischen Wissenschaft ausgemacht werden. Für sie ist die Verfassung des neuen Erfahrungswissens „allzu unrein und gefährlich“. Dies ist ganz im Sinne der neuzeitlichen Verwendung des Ökonomiebegriffs und der damit verbundenen „practicalischen Philosophie“ gesprochen, die die Techniken und Künste, die
„bürgerlichen Tätigkeiten“ insgesamt aus dem Schlaf im „Herzen der Kontemplation“ befreien will.

Quelle Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt / Verlag diaphanes Berlin Zürich 2015 (Seite 12)

Mit diesem letzten Zitat bin ich beim eigentlichen Anlass meiner aktuellen bürgerlichen Arbeit (Lektüre) angelangt. bzw. deren privater und äußerer Begründung.

ZITAT (zum Trost bei Lese-Stockung):

Seinem [Vogls] aufklärerischen Ansatz zum Trotz ist „Der Souveränitätseffekt“ leider ein ausgesprochen umständliches Buch, eine Melange aus den sprachlichen Zumutungen von Finanzmarktterminologie und Geisteswissenschaft. Auf seitenlange Zitate aus Gerichtsurteilen folgen noch längere Nacherzählungen aus historischen Journalen, die den Eindruck machen, Joseph Vogl wolle seine Leser allzu bereitwillig an den Mühen seiner Recherche teilhaben lassen. Das ist bedauerlich, denn stark wird „Der Souveränitätseffekt“ immer dann, wenn sein Autor sich in aktuelle politische Kontroversen stürzt. Joseph Vogl schreibt dann zum Beispiel von einer Pervertierung des politischen Souveränitätsbegriffs: „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln mag.“

Quelle Der Spiegel, 10.03.2015, Kontrolle der Finanzmärkte: Wie Politik sich dem Kapital beugt. / Von Oskar Piegsa / Link s.o. unter „Begründung“. Weiteres hier.

Joseph Vogl zu den beiden Bildtafeln:

Man könnte also sagen, dass beide Bildtafeln zusammen – und emblematisch – eine Art Doppelporträt neuzeitlicher Macht vorführen, in dem der rechtlich-philosophischen Konzeption souveräner Gewalt die ökonomisch-praktische Dimension des Regierens gegenübertritt.

Damit beende ich die Phase meiner Selbstermutigung, erst in der historischen Anbindung fühle ich mich einigermaßen wohl (Shakespeare, Bach!) und schreite voran zur geduldigen Lektüre des Vogl-Buches. Aber es steht in den Sternen, ob ich eines Tages einen Erfolgsbericht anschließen kann. Immerhin war es ja nicht der erste Versuch. (Siehe hier.)

Empfehlung (1. Juni 2015)

Man könnte es sich mit dem sehr wichtigen Buch von Joseph Vogl einfacher machen (eine alte Methode, die ich schon des öfteren angewendet habe): in Form eines Schnelldurchgangs. Alle Kapitelanfänge der Reihe nach durchgehen, verweilen, wo es historische Augenblicke zu erfassen gilt, – aber: weitergehen, immer weiter. Für mich war es hochinteressant, bei Genua innezuhalten (hatte ich nicht gedacht, das moderne Finanzsystem sei in Siena oder Florenz entstanden!?), später: bei den Niederlanden, Amsterdam als Zentrum, dann England usw. Das ist alles Geschichte. Hintergrundwissen.

Aber dann ganz gründlich die letzten Kapitel: „Universeller Gläubiger“ und Souveränitätseffekt“. Das sind vielleicht 2 Din-A-4-Seiten. Wahrscheinlich haben Sie dort alles, wonach Sie suchten. Von nun an kann man an jeden Punkt rückwärts springen und ein paar Seiten lesen… Man weiß dann überall, worum es auch geht, auch schon in den „historischsten“ Details: TUA RES AGITUR. Es geht um jeden von uns!

Zum Beispiel Griechenland

Was tun?

Gesetzt den Fall, ich habe keine Ahnung vom Geld „im großen Sinne“ (was richtig ist), besitze aber das Buch „Philosophie des Geldes“ von Georg Simmel und sage mir immer wieder, dass es nicht genügt es zu besitzen und immer mal durchzublättern, um dann immer wieder zu sagen, dass ich es wirklich einmal – wie Goethe sagt – (im geistigen Sinne: das Buch, nicht das Geld:) erwerben müsste, um es zu besitzen. Schluss damit! Ich darf nicht mich und die Leser mit guten Worten und Vorsätzen hinhalten. Gesetzt den Fall also, ich brauchte einen anderen aktuellen Weg, dieser „Wirklichkeit“, die ich täglich andeutungsweise in der Zeitung finde, näher zu kommen, – was soll ich tun?

Einen Sprung wagen in die spezielle und hochgefährliche Wirklichkeit, in der z.B. jemand sagt:

Ich habe eben drei Punkte genannt, diese drei Punkte stellen sich in dem Fall – wir retten Griechenland vor dem Staatsbankrott oder nicht – diametral anders da. Also, es ist a) unheimlich kontrovers, die Diskussion um Griechenland-Hilfe; zweitens: Überaus harte Bedingungen werden gestellt; und drittens: Es wird sich auf Regelwerke berufen, die zum Teil extra geschaffen worden sind, aber von denen man sagt, sie müssen strikt eingehalten werden. Was sagt das über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus einerseits und über Machtverhältnisse andererseits?

Ja, wenn ein Gespräch so beginnt, und ein vertrauenswürdiger Fachmann angesprochen ist, interessiert mich alles, was da gesagt wird. Ein Glücksfall, ich kann es hören und sogar nachlesen!

Der fragende Redakteur heißt Hermann Theissen, er stellt die Frage für den Deutschlandfunk an Joseph Vogl, der an der Humboldt-Universität zu Berlin Literatur- und Kulturwissenschaft lehrt und Professor ist am Department of German der Princeton University. 2015 veröffentlichte er sein Buch „Der Souveränitätseffekt“. Im gleichen Verlag erschien 2010 der Essay „Das Gespenst des Kapitals“.

ZITAT

Das Drehbuch der Lehman-Pleite hätte auch aus der Feder Heinrich von Kleists stammen können. Und der Finanz-Crash 2008 war eine wahrhaft revolutionäre Situation: Joseph Vogl betrachtet die Weltwirtschaft von der Warte der Kulturwissenschaft. Im Gespräch mit dem DLF weist er Wege aus dem „Gefängnis der Märkte“

Hermann Theißen: Joseph Vogl, in Ihrem jüngsten Buch führen Sie wunderbar vor, wie man jene Tage im September 2008, als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging und die Weltwirtschaft aus den Fugen geriet, als Novelle Kleistschen Zuschnitts interpretieren kann. Was macht diese Ereignisse im September 2008 zum Stoff einer solchen Novelle?

Wo geht’s weiter? HIER.

http://www.deutschlandfunk.de/krise-des-kapitalismus-natuerlich-gibt-es-auswege-aus-dem.1184.de.html?dram:article_id=315395

ZITATE (Joseph Vogl)

Eine völlig andere Situation betrifft nun Griechenland, weil man es hier mit zwei völlig unterschiedlichen Konsortien oder Gruppen oder, wenn man so will, auch Vertretern von Bevölkerungen zu tun hat, nämlich auf der einen Seite ein interessiertes Finanzpublikum, die internationalen Finanzmärkte, deren Vertreter, deren Investoren und natürlich die Gläubigerinstitutionen, und auf der anderen Seite plötzlich so etwas wie Bevölkerungen, die sich in demokratischen Regierungen repräsentiert glauben. Und an dieser Stelle gab es tatsächlich, wenn man so will, einen elementaren politischen Konflikt, der auch, wie spätestens nach den letzten Wahlen in Griechenland, nun auch heftig ausgebrochen ist.

(…)

Ein schwedischer Ökonom, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr renommiert war, hat es einmal in einer fast zynischen Formulierung definiert und er sagte: Es geht eigentlich darum, die Finanzökonomie gegen die Tyrannei der zufälligen Mehrheit von Volksvertretungen zu schützen. Ich glaube, diese Überschrift steht über sehr vielen dieser Verhandlungen.

(…)

Ich denke, es entspricht exakt der marktkonformen Demokratie, dass eben gerade unter demokratischen Prinzipien, unter demokratischen Regierungsformen, das heißt also unter dem Vorzeichen dessen, was wir repräsentative Demokratie nennen, bestimmte Institutionen – und das betrifft eben insbesondere Institutionen der Finanz – aus diesen demokratischen Kontrollprozeduren ausgenommen werden.

(…)

Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus. Der Kapitalismus oder die Kapitalwirtschaft im weitesten Sinne, dieses ökonomische System funktioniert unter der Bedingung, dass die Güter knapp sind. Das heißt also, dass das Brot, das ich nicht esse, jemand anderem trotzdem fehlt, nur unter dieser Bedingung lässt sich das System erhalten. Das heißt, es funktioniert unter der Bedingung, dass zwangsläufig nicht alle satt werden, satt werden dürfen, ansonsten würde das System kollabieren.