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Beethoven Sonate op.54

Eine Selbstbefragung

Der leere Stuhl vor dem Flügel ist gut! Im externen Fenster: hier. Und zurück: nur Noten anschauen. Oder den leeren Stuhl.

Seit wann kenne ich die Sonate, ohne sie zu kennen? (Welche Vorurteile? Was hätte ich tun können?) Ich beschreibe das nicht im einzelnen, es ist zu dumm. Das wusste ich auch damals schon, als ich alle Beethoven-Sonaten durchging und auch übte. (Ein ganzes Jahr lang.) Aber diese nicht. Jetzt verstehe ich es, bereit, alles aufs neue zu versuchen.

Den Anstoß gab ein frischer Blick in die Formenlehre von Erwin Ratz, eigentlich durch seine Bemerkungen zu Bach-Fugen ausgelöst. Hatte ich aus den Augen verloren. Aber letztlich lag es am neuen Hören, und zwar genau dieser Aufnahme mit Richter. Und das nach der neuen, ziemlich flüchtigen Ratz-Lektüre, in einer begleitenden (irgendwie schuldbewussten) Reflexion. Vielleicht auch einer erhöhten Wachsamkeit. Gegenüber

  1. , dem Vorurteil, zu denken: ein programmatischer Titel sei eine Hilfe, „Die Schöne und das Biest“, „La Belle et la Bête“, besser wäre zu denken: „das  Schöne und das Hässliche“; denn
  2. fand ich ja in der Tat den Einsatz des zweiten Themas ausgesprochen hässlich. Die Benennung zwingt aber, über die Notwendigkeit des (scheinbar) Hässlichen nachzudenken.
  3. macht Richter nicht den Hauch einer Luftpause, zu der ich geneigt hätte, – er stürzt hinein in diese Oktaven-Manie. Da gibt es keine weichherzige Vermittlung, keinen schwergefassten Entschluss. Ich muss mich dazu verhalten.

Am Schluss musste ich es doch erkannt haben! Ein Bass-Ostinato in Triolen, das liebliche Thema verabschiedet sich, entschwindet und lädt sich urplötzlich wieder auf, kumuliert in einer gewaltigen 10-tönigen Himmelserscheinung, dröhnend und vibrierend öffnet sich ein Riesentor – – – und zerfließt, zerfällt alsbald in zwei schemenhaften Gesten: Lebt wohl. War es das? Ich musste es so akzeptieren, wie es auf der Hand lag. Jetzt hätte ich einfach von vorne beginnen müssen! Beethoven hatte doch alles dazu gesagt. Und heute beginne ich von vorn.

10-tönig? Jawohl, der Bass-Ton muss mitgezählt werden.

ZITAT Erwin Ratz:

 

Quelle Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre (2.Auflage) Universal Edition Wien 1968

Am meisten habe ich damals (etwa 1984) gelernt von meinem besten Schüler, der aus den Noten meines Vaters spielte, die er sich zusehends durch Überarbeitung aneignete. Er studierte übrigens, seit er besser spielte als ich, in Köln bei Eckart Sellheim. Hier ein Blick auf die neugeschaffene Version der alten Ausgabe von Louis Köhler und Adolf Ruthardt, die um 1910 herauskam. (In der obigen Youtube-Aufnahme ab 4:17 mithörbar.)

Noten untereinander=1 Seite!

Aber dann kamen viele andere Werke, und dieses geriet mehr und mehr in den Hintergrund, selbst im Beethoven-Jahr 2020. Ich bin dem op. 53 (Waldstein-Sonate) und op. 57 (Appassionata) hundertfach wiederbegegnet, nur der dazwischenliegenden Namenlosen niemals mehr. Oder bin ich ihr planvoll ausgewichen? Bis mir der Zufall den blaugebundenen Band von Erwin Ratz wieder in die Hände spielte. Dazu der Rückverweis bei Jürgen Uhde, an den ich mich in Sachen Beethoven als allererste Instanz wende, ohne ihn wüsste ich gar nicht, was eine gute Interpretation vermag.

ZITAT Jürgen Uhde

Stuttgart 1974/1991

Die Behandlung dieses Satzes braucht bei Jürgen Uhde 12 Seiten, und keine Zeile ist zuviel. Ich zitiere nur noch den abschließenden Text, weil er in Kürze andeutet, wie Uhde in seinem wunderbaren Werk jeweils – trotz detailreicher Analyse , in der er sich auf Ratz beruft, – den wesentlichen Punkt herausarbeitet, der poetischer Natur ist. Er beschwört ein altes Lied und einen Vers aus Bert Brechts Laotse-Gedicht. Das ist es! Man vergisst es nie, und auch diese Sonate wird nun für immer in der Wunderkammer der Musik gehütet. Nur für besondere Stunden der Konzentration zugänglich.

(s.Forts. in grün)

Die weiteren Zeilen schreibe ich nur zu gerne ab, ich liebe diese Anspielung auf Laotse – ausgerechnet bei Beethoven:

…sondern gerade das unaufdringliche Menuett-Thema. Während es mehr und mehr erblüht, sich geradezu pflanzenhaft entwickelt, erstarkt, nimmt der Kontrastteil immer mehr ab, bis er, in der Coda, dem Menuett-Thema buchstäblich »zu Füßen liegt«. Wir denken hier an Bert Brechts Gedichtzeile: »Du verstehst, das Harte unterliegt!«.

Wie könnte es weitergehen?

Es könnte nicht schaden, Igot Levit zu hören, der das Thema Beethoven im Lockdown durchgezogen hat. Mit allerhand Publicity, die für Überdruss gesorgt hat.

Zwischenfrage „Werden hier nicht Gegensätze miteinander versöhnt?“ Gezähmt? Oder zu Bewusstsein gebracht.

Verweis auf Erwin Ratz.

https://www.br.de/mediathek/podcast/igor-levits-klavierpodcast-32-x-beethoven/alle/826

bzw. Hier Folge 22 – es lohnt sich. 32 Minuten Und dort kommen wir dann auch zum zweiten, letzten Satz. Sehr gute verbale (und in Kurzausschnitten pianistische) Charakteristik. Woher hat er das? Aus sich selbst…, kann gut sein, ich wusste nicht, dass der Pianist unter innerem Druck auch so formulieren kann, es klang – bei Aspekte oder auch bei seinem frühen Konzert in Solingen mit den drei letzten Sonaten – auch immer etwas bildungsmäßig aufgesetzt, allzu sendungsbewusst, mit zu wenig Inhalt. Am Klavier findet er das richtige Maß an Inhalt, zudem in Wechselwirkung mit diesem Freund und Helfer Anselm Cybinski. Oder er hat einiges gelesen, er erwähnt Joachim Kaiser. Und gerade diesen habe ich aus seiner späten Zeit negativ in Erinnerung, wie er mit Thielemann über dessen Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien spricht, beide offenbar unvorbereitet und erschreckend niveaulos. Das Buch über Beethovens Klaviersonaten (1979) lohnt nach wie vor: eine Fundgrube treffender Einsichten und Formulierungen. Im Falle des zweiten Satzes aus op.54 die Beziehung zu Scarlatti. Die Erinnerung an Backhaus, der den Satz als „wirbelnd konzertantes Tarantella-Stück“ auffasst. „Es wirkt dann tatsächlich wie eine nochmals ausgesponnene Durchführung des Kopfsatzes der Waldstein-Sonate, zumal eine Synkopenstelle der Waldstein-Sonate (…) hier auch geradezu auschweifend vor- und durchgeführt wird.“ (Seite 391f)

Es ist keine schlechte Idee, anhand der vom BR angebotenen Gesamtfolge von Podcasts sich planmäßig mit allen Sonaten zu befassen. Gerade jetzt, im zweiten Corona-Jahr, nachdem der Hype des Beethoven-Jahres nicht so glatt und gigantisch gelaufen ist, wie er geplant war. Man kann nicht oft genug wiederholen: Es ist nie zu spät! Man kann sich auch gegen den eigenen Widerstand hinreißen lassen zu Aktivitäten, die unglaublich und auch nicht ganz glaubwürdig im trendigsten Trend der Zeit liegen, im Mainstream aller Mainstreams. Es ist für einen guten Zweck …. nicht wahr?

Erschrecken Sie nicht – schauen Sie nur hinein, wie es wirkt: HIER. ( 32x Beethoven – Der Klavierpodcast mit Igor Levit ) Oder zunächst nur der Lesestoff: hier oder hier.

Ehrlich: als ich diesen Blogartikel begann, hatte ich nicht die Absicht, für einen Klavierpodcast Werbung zu machen. Aber jetzt ist eine unaufhaltsame Begeisterung entstanden, das Projekt einige Monate als Leitfaden zu verwenden. Beethoven ist Grund genug. Wie damals in den Jahren 1988/89, als das Alban-Berg-Quartett alle Streichquartette in Köln spielte. Davon zehrt man den Rest des Lebens, auch wenn man später noch bedeutendere Aufführungen erlebt hat.

Und wer schrieb den programmatischen Essay des Programmbüchleins? Natürlich:

Nachspiel einer Selbstbefragung

Vorsicht, Analytiker!

Gewiss, es lohnt sich auch heute noch Kaisers bilderreiche und wortmächtige Beschreibungen zu lesen, andererseits nimmt er von vornherein eine sehr hohe Position ein und schlägt sich mit den Problemen gar nicht erst herum, die unsereinem zu schaffen machen.

Und dann lese ich einen umfangreichen Zeitungsausschnitt, den ich zur Erinnerung in das Buch gelegt habe. Die Abrechnung eines Autors, der noch viel höher sitzt oder saß, geschrieben für die ZEIT im November 1975.

Also: auf derart hohen Stühlen sitzt man niemals sicher. Für die Selbstbefragung genügt ein Höckerchen.

Sehr nützlich also auch für mich:

Der Podcast von Igor Levit mit seinen Problemen (auf hohem Niveau), seine Verspieler, sein Jammern über die Wiederholung des größten Teils, wenn man die Schwierigkeiten gerade hinter sich hat. Seltsamerweise hat mich genau das zum hartnäckigen Langsamüben des allerersten kleinen Formabschnitts gebracht. Der Gedanke an Bach, an toccatenähnliche Stücke, z.B. an die einzige zweistimmige Fuge des Wohltemperierten Klaviers I (in e-moll), vertrackt auch sie, ein verrückter Unisono-Takt als grobe Gliederung,

die Andersartigkeit bei Beethoven, das „Thema mit seinem eigentümlichen Widerhaken am Ende“ (Uhde), die Vorschrift „dolce“. Ich staune (ärgere mich nicht), dass es drei Tage dauert, ehe ich davon reden kann, dass ich ihn – noch nicht zufriedenstellend – gelernt habe, obwohl ich nie gesagt hätte, er sei schwer. Man darf das auf keinen Fall zu früh ins Tempo bringen wollen. Zeitlupe, bürokratenhaft Takt für Takt und das Ineinandergreifen der Hände „aktenkundig“ machen. Es ist gar nicht formelhaft, es ist vertrackt ausgedacht. Zwischendurch Uhde lesen:

Und es ist schön! Für mich, sobald es auf die Modulation zugeht und überhaupt die neue Formel ab Takt 9. Schön aber auch Uhdes Formulierung,“dass die Kraft Beethovens sich vorzugsweise gegen Widerstände, z.B. ungeeignetes Material, entfaltet.“ Ihm selbst können diese Formeln auch nicht in der Hand gelegen haben.

Noch ein wichtiger Hinweis

In die Reihe der Beethovenforscher, die gerade diese Sonate besonders herausgehoben haben, gehört unbedingt Hans-Joachim Hinrichsen:

In dieser Trias, die Bedethovens zwei wohl berühmteste Klaviersonaten enthält, ist die kleine F-dur-Sonate op.54 von geradezu skandalöser Unbekanntneit. Dabei ist gerade sie es, die das pathetische Gewicht der beiden benachbarten Monolithen in eine ästhetische Schwebe bringt. Sie wurde selten zureichend ernst genommen und ist doch, wie immer einmal wieder gesagt worden ist, eine der tiefsinnigsten Sonaten überhaupt. Gerade diese Spannung macht sie schwierig.

Quelle Hans-Joachim Hinrichsen: BEETHOVEN Musik für eine neue Zeit. / Bärenreiter Metzler Kassel und Berlin 2020 / Seite 219 – weiterlesen!

ERINNERUNG: schon einmal – HIER

SZ-Fallrückzieher

Igor Levit in München

Jemand muss dem Kritiker die Zauberformel eingegeben haben, und schon weiß er, wie man einen Künstler kleinkriegen kann, ohne ihn herabzusetzen: man sagt, dass Mozart größer ist, oder auch: „Kein Musiker kann alles“.

Quelle: Süddeutsche Zeitung 31.Oktober/1.November 2020 Seite 16 Vor der großen Pause Das letzte Konzert vor dem Lockdown geben die BR-Sinfoniker mit dem Pianisten Igor Levit und dem Dirigenten Klaus Mäkelä. Ein seltener Glücksfall für die fünfzig Zuhörer.

Man durfte gespannt sein – nach dem Affentheater um die missratene Rezension des Kritikers Helmut Mauró und um die missglückten Ausbügelaktionen seiner Zeitung. Gibt es neue Leitlinien im Fall weiterer Levit-Auftritte? Ob Kollege Bremsbeck der richtige Ersatzmann ist, möchte man bezweifeln; hat er sich nicht auch schon ziemlich festgelegt, als er neulich von Levit als dem letzten „Reichsverweser Beethovens“ schrieb (siehe hier), der allerdings nicht verhindern konnte, dass das Konzert „im Braven“ versandete? Und ausgerechnet dieser Kritiker soll jetzt eine Art Wiedergutmachung versuchen? Er will auf jeden Fall nicht zum Lobsänger mutieren, er muss es anders verpacken, und so sagt er uns durch die Blume, dass Levit alles andere als unfehlbar ist, vielleicht bei Mozart nicht ganz so trittsicher agieren wird. Man kann ja auch darauf anspielen, dass sein Beethoven ziemlich überschätzt wird, es sollte nur an eingestreutem Scheinlob nicht fehlen. Vor allem sollte der politisch korrekte Ansatz seiner Musik hervorgekehrt werden, was aber auch nicht beleidigend klingen darf, also etwa folgendermaßen: In Mozarts Jenamy- („Jeunehomme“-)Konzert „bestimmt Levit das Geschehen: unaufdringlich, elegant, flexibel, feurig.“ Und weiter:

Er führt jetzt auch bei Mozart und im Einklang mit dessen ästhetischen Prinzipien vor, wie Gesellschaft im Idealfall funktionieren sollte. Er zeigt durch die Art seines Klavierspiels, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Genie und Alltagsmenschen, Vorgesetzten und Untergebenen aussehen sollte.

Der Solist gibt dabei den Takt vor, daran lässt Levit keinen Zweifel. Aber er gängelt oder bevormundet niemanden. er hört immer zu. Und wenn Mozart es fordert, verschwindet er als Solist hinter dem Orchesterklang. Levit spielt lächelnd, oft versonnen. Er dampft und schwitzt nicht. Er versucht nie, auf Biegen und Brechen etwas Originelles in diesem so bekannten Stück zu finden. Er führt sein Gesellschaftsmodell als ein für Jedermann leicht Nachzumachendes vor: So schön und so leicht kann das Miteinanderleben sein. Eine Utopie? Ganz sicher.

Das muss ja ein wahnsinnig hinreißendes Konzert gewesen sein! „Er dampft und schwitzt nicht.“ –  „Das versöhnt“, denkt der Kritiker. Nein, muss ich nicht mehr zwischen die Zeilen zaubern?

Im Finale schafft Mozart das Wunder der Integration durch den genialen und verblüffenden Einschub eines verspielt nachdenklichen und langsamen Menuetts in den Schlussjubelrausch. Das versöhnt. Vielleicht, denkt man als Kritiker dann beim 50-Menschen-Beifall, gibt es doch Musiker, die alles können. Und da es nicht Levit ist, er spielt als Zugabe „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“, muss es wohl Mozart sein.

Geht doch! Aber versuche nur ein Mensch, diese abschließenden Sätze der Rezension zu verstehen! Es muss doch eine Sottise, irgendeine hinterhältige Anspielung dahinterstecken, die nur von Insidern durchschaut werden kann. Vielleicht eine Replique auf Wortwechsel in langen Redaktionskonferenzen. Oder liegt es auf der Hand, dass man sich mit dem Bach-Choral als Zugabe selbstredend um Kopf und Kragen spielt? Oder ist es schiere Demut?

Ohnehin wird auf unnütze Weise Tiefsinn zelebriert, denn die Rede von Musikern, „die [nicht] alles können“, ist der running gag der ganzen Kritik, am Anfang noch harmlos schwadronierend:

„Kein Musiker kann alles. So befremdete der geniale Dirigent Kirill Petrenko“ usw.usw. (also: die bekannten Probleme größter Künstler mit der Mozart-Interpretation), und wenig später:

„Nun ist der 33-jährige Levit nicht für sein Mozart-Spiel berühmt, sondern für seine Darbietung des zupackenden und leichter zu bewältigenden [!!!] Ludwig van Beethoven. Dass Levit bei Beethoven nicht nur Sternstunden kennt, das ist in seiner beachtlichen, aber nicht vollauf überzeugenden Sonaten-Box zu hören. Aber wie gesagt: Kein Musiker kann alles. Dafür ist Levit als Musiker nicht nur leidenschaftlich, sondern auch tollkühn.“

Leidenschaftlich und tollkühn! Klingt das nicht nach einer stillen Abwägung von Können und Wollen – natürlich zuungunsten dieses Interpreten? Und wenn es sich nicht um Levit handelt, so ist doch eins ist sicher: auch der Kritiker will mehr als er kann.

Klassik Hype

Fünf Jahre Solitär 

25. Oktober 2015

Kampf der Klaviergiganten: Chilly Gonzales meets Igor Levit

Wie hatte es angefangen? 9.8.2013

7. Februar 2020

Hier zur Aspekte-Sendung

abrufbar bis 4.2.2021

ZITAT Hartmut Welscher in VAN

Für Musiker*innen birgt das Singularitätsgebot auch Frustpotential: Jetzt habe ich jahrzehntelang an meinem musikalischen Besonders-Sein gearbeitet – nur um festzustellen, dass es nicht reicht, sondern ich mich auch darüber hinaus permanent inszenieren und performativ selbstentfalten muss.

Nur auf musikalische Qualität zu setzen, war schon immer eine naive Wette. Aber zu warten, bis man jemandem auffällt, ist auch deshalb riskanter geworden, weil es immer weniger gibt, denen man auffallen könnte. Klassische Musik ist in den klassischen Medien weitgehend marginalisiert. »Nur« über (klassische) Musik zu sprechen gilt schon lange als Rohrkrepierer, Kritiken sind Click-mäßig betrachtet ein Totalausfall, der Druck, sich auf die Superstars der Branche zu konzentrieren, ist auch in Feuilletons und Kultursendungen groß.

Weshalb man sich durchaus Gedanken machen sollte: siehe Magazin VAN HIER

Über Andreas Reckwitz: Wikipedia HIER

Lesenswert des weiteren der Artikel über ein Hauptwerk des Soziologen: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne / Suhrkamp 2017 / Inhaltlicher Abriss bei Wikipedia HIER.

ZITAT

Es ist häufig festgestellt worden, dass die Romantik eine Wiederverzauberung der Welt erprobt. Treffender lässt sich dieser Prozess jedoch als eine Kulturalisierung der Welt beschreiben, in deren Folge potenziell alles von der Seite des Profanen auf jene des Sakralen überwechseln kann. Am Ende können selbst ein paar Bauernschuhe oder das Muttermal des Geliebten von kulturellem Wert sein. Ermöglicht wird diese romantische Valorisierung der Welt durch deren umfassende Besonderung; die Welt wird als ein Raum faszinierender Eigenkomplexitäten entdeckt und in eine solche umgestaltet. Das Grundpostulat lautet: Ein Subjekt, das authentisch sein will, muss im Durchgang durch die Singularitäten der Welt seine authentischen Erfahrungen machen. In der Romantik ist der ausdrückliche Kampf gegen die Modernität des Allgemeinen – von der Aufklärungsphilosophie bis zur Industrialisierung – die konsequente Kehrseite der umfassenden Singularisierung der Welt. Diese romantische Besonderheitskultur wirkt sich von Anfang an in durchaus unberechenbarer Weise auf die um Balance bedachte Kultur der Bürgerlichkeit aus. […] (S.99)

Während sich die bürgerliche Intensivierung in erster Linie auf die Sensibilisierung der ästhetisch-hermeneutischen Innenwelt der Subjekte bezog, so richtet sich die fordistische Extensivierung der Kultur primär auf die visuelle Oberfläche der Subjekte und Objekte. (S.102)

Quelle Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten / Suhrkamp Berlin 2019

Anmerkung: zu „fordistisch“ siehe hier.

Reckwitz spricht von der organisierten, industriellen Moderne, „die von etwa 1920 bis Mitte/Ende der 1970 Jahre reicht“;  in einer Fußnote verweist er auf Georg Simmels „Philosophie der Mode“ (1905).

Selbstbezichtigung: Ich erinnere mich an eigene Anwandlungen Ende der 70er Jahre, als ich daran dachte, den alltäglichen Gang in den Garten zu einer sakralen Handlung zu erheben…

Endgeiler Journalismus

„Doofe Frage: Aber was denken Sie, während Sie Beethoven spielen?“ 

Levit Uslar ZEIT Schlagzeile

Angenommen, es geht um den Anfang der Waldstein-Sonate, die repetierten Achtel, warum einen das umhaut (den Moritz jedenfalls), dann meint Igor:

Weil er einfach so unglaublich geil ist. Weil er so aberwitzig abgeht. Weil er so bebt. Es ist ein Erdbeben. Herzschlag dreihundert. Es ist pures Leben. Du kannst auf dem Klavier kein Vibrato erzeugen, das geht nicht, du schlägst den Ton an, der Hammer berührt die Saite, Punkt, der Ton verklingt. Wie entsteht ein Vibrato, wie kriegt man das Klavier zum Vibrieren? Es ist ein endgeiler Anfang.

Es gibt Unsinn, der vielleicht Sinn ergibt, wenn man hinzurechnet, dass eben das Herz überfließt. Mit Vibrato hat der Anfang ja nun wirklich nichts zu tun, aber da zugleich vom Erdbeben, Herzschlag, vom puren Leben die Rede ist, könnte man es so hinnehmen. Aber wie lange? Und ohne Musik?

Ich finde durchaus, dass man dieses Interview lesen sollte. Schon um zu erfahren, wie jemand einem bekanntlich sehr guten Beethoven-Pianisten 32 Fragen über Beethovens 32 Sonaten stellen kann, ohne dass dabei etwas Triftiges zum Vorschein kommt. Nicht jeder Pianist muss wie Alfred Brendel reflektieren können. Aber Levit hätte Anspruch auf einen Gesprächspartner, der nicht einfach nur alle Sonaten verbal abgeklappert haben will. Die Sprachnot selbst angesichts der Musik könnte Thema sein, doch hier hilft niemand, der den Musiker nur auf falsche Fährten lockt.

Ich sage: Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht über die Hammerklaviersonate nachdenke. Woran das liegt? Da könnte ich mich jetzt hinsetzen und ein Buch darüber schreiben.

Bitte nicht! Vor allem soll er Mode-Musik-Meinungsmacher meiden und weiterhin spielen, nichts als spielen! Egal, was er sich dabei denkt…

Was passiert in meinem Kopf, wenn ich spiele? Ich sehe immer Menschen. Immer. Und immer andere Menschen. Ob ich sie kenne, weniger oder mehr mag oder liebe: Ich bin menschenfixiert.

Gut. Aber nicht mit ihnen reden!!! Und nichts aufschreiben, und die auch nichts aufschreiben lassen! Es ist besser sich auf das zu beschränken, was längst gesagt wurde:

Je häufiger ich eine Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit, und desto öfter will ich sie spielen.

Soweit Igor Levit. Aber …

Quelle DIE ZEIT 19. Mai 2016 Seite 41 Es ist so unheimlich geil/ 2020 ist Beethoven-Jahr, der 250. Geburtstag des Komponisten. Der deutsch-russische Pianist Igor Levit, als Virtuose gefeiert, bereitet sich schon jetzt auf das große Jubiläumsjahr vor. Moritz von Uslar stellt ihm 32 Fragen zu Beethovens 32 Klaviersonaten.

Aber … ist das nicht ein Satz von Karl Kraus? „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ Nur das Glück fehlt hier noch. Oder ist es die Zeit? Oder die Reife? Und dann schlage ich die Radio-Zeitung auf und erinnere mich ruckartig, dass mysteriöse Aussagen in der Werbung für klassische Musik Hochkonjunktur haben, weil sie doch so superrätselhaft ist. Das ist einfach der Preis der Event-Publicity. Und das gilt auch für mich: Je weniger ich eine Sache zu verstehen vorgebe, desto eher vertrauen mir die Leute, die auch nichts davon verstehen. Danke! Ich scherze nur! Ich weiß wirklich nix. Ich bin nur geil auf Musik.

Bronfman Beethoven Foto (Ausschnitt) WDR/Imago

Konzert, Performance, Ritual

Brauchen wir neue Rituale?

Jeder Künstler weiß, dass zu einem Konzertauftritt eine gewisse (Selbst-) Inszenierung gehört. Man zeigt Disziplin und Zielbewusstheit, Selbstkontrolle und Hochachtung für das Publikum. Man verbeugt sich, man konzentriert sich, wartet auf den Eintritt völliger Stille im Saal, man zelebriert den eigenen Einsatz und agiert sodann in einem eigenen, imaginären, vom Publikum abgeschlossenen Raum auf dem Podium. Oder man verzichtet bewusst auf einzelne Komponenten, indem man während der Darbietung hier und da einen Blick ins Publikum wirft, vielleicht sogar, um einen Huster abzustrafen oder ein knisterndes Bonbonpapier zu markieren. Die Grenzen des Üblichen haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder verschoben.

Ich erinnere mich an ein WDR-Konzert mit Friedrich Gulda, in dessen erstem Teil er mit der Sängerin Ursula Anders sein skandalumwittertes „Opus Anders“ aufführte (siehe dazu das Gespräch mit André Müller hier), während er den zweiten Teil mit Mozarts A-dur-Sonate begann, die er auf unvergessliche Weise vortrug: Das Licht im Sendesaal war nicht ganz gelöscht, und während er das Thema und die Variationen spielte, schaute er unverwandt ins Publikum, von Platz zu Platz, von Reihe zu Reihe, – es war, als wolle er jeden Einzelnen ansprechen, es herrschte atemlose Stille. Unglaublich schöne Musik! Man hatte aber weniger den Eindruck einer musikalischen Konversation, – eher den einer Prüfung. Einer Prüfung, deren Ausgang fraglich war. Vielleicht wollte er es so, vielleicht war es eine Autosuggestion, die sich unwillkürlich einstellte.

So hatte es Couperin im Jahre 1717 wohl nicht gemeint:

An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich – man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre. Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe der Noten spielen.

Quelle François Couperin: L’Art de toucher le Clavecin / Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Anna Linde / Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1933 (Seite 11)

In meiner Jugend gab es ein „Bielefelder Kammertrio“, das mein erster Geigenlehrer mit meinem Vater zusammen gegründet hatte. Als Cellisten der ersten Zeit konnten sie einen begabten jungen Mann von der Detmolder Hochschule hinzugewinnen, der allerdings, wie sich bald herausstellte, eine schlechte Angewohnheit hatte: immer wenn er ein paar Takte Pause hatte, begann er, in aller Ruhe das Publikum zu mustern. Als suche er ein bekanntes Gesicht. Niemand fand das anregend oder kommunikativ, es wirkte so, als ob er sich die Langeweile vertrieb. Sogar wir Kinder, die heimlich lachten, wenn die Streicher im Erzherzog-Trio Pizzicato spielten, fanden das ungehörig.

Warum stört das? Man erwartet im Konzert Spannung oder auch nur Konzentration, gewiss vor allem Lebendigkeit, aber immer auf die Musik bezogen, nicht von ihr weggewandt oder ablenkend. Ich nehme ein Beispiel aus dem weniger strengen, ritualisierten Genre mit Folkloreanklängen. Man studiere intensiv die Gesichter der Mitwirkenden im folgenden Konzert, beobachte ganz besonders diejenigen, die gerade nicht aktiv am Geschehen beteiligt sind: was für ein Wunder an Beteiligung und Anteilnahme in jedem Moment, was für ein Ausstrahlung! Es geht nicht um Schönheit und Jugend der Beteiligten, es geht um den lebendigen Puls der Aufführung. (Springen Sie ruhig mitten hinein: z.B. bei 10:00.)

Carmina latina Screenshot 2016-03-22 16.29.25 Hier anklicken!

Ich habe schon kurz die Johannespassion unter Peter Deijkstra behandelt, die zur Zeit noch (bis 27. März) auf ARTE abrufbar ist, habe auch den Namen des Mannes erwähnt, der für die „Szenische Gestaltung“ verantwortlich war: Folkert Uhde. Und wenn man ihm nachgeht, weiß man auch, dass er den Begriff „Konzertdesign“ eingeführt hat und dass sich hinter dem, was ich hier zu entdecken glaubte, längst eine weitverzweigte Theorie steht.*Einfügung 19.04.2016: ein abschreckendes Beispiel ist für mich die Inszenierung der Geigerin Midori Seiler, die fabelhaft Bachs Solissimo-Werke spielt. Aber so möchte ich das keinesfalls in extenso erleben. Gleiches gilt für Vivaldis Jahreszeiten.*

Und schon habe ich Angst, dass alsbald auch ein weit sich verzweigendes System des Missbrauchs im Kommen ist, nämlich sobald es Usus wird, neben einem Dirigenten, einem Ensemble und verschiedenen Solisten auch einen Konzertdesigner zu verpflichten. Einen Menschen, der dieses Fach studiert hat, gewiss zusätzlich auch noch Kultur-Management, PR-Marketing und alles, wo man gut aufgestellt sein muss, am Ende vielleicht sogar noch etwas Klavier oder Gitarre. Denn die meisten wollen ja „ganz oben“ anfangen und nicht jahrelang mit Fingerübungen ihre Zeit verplempern. Andererseits suchen bedeutende Künstler, also solche, die es nie für eine Schande gehalten haben, sich täglich mit Fingerübungen abzugeben, neuerdings den Kontakt zu Leuten, von denen ihre Kunst spektakulär inszeniert wird, notfalls in spektakuläre Stille gehüllt, wie im Fall Igor Levit / Marina Abramović. Und jetzt ist es die Pianistin Hélène Grimaud, die sich mit dem bildenden Künstler Douglas Gordon zusammentut, um ein pianistisches Wasser-Programm über einem gigantischen Wasserteppich im Dunkeln zu spielen. Die klassischen Werke sind zudem von der ersten bis zur letzten Nummer – wie auf ihrer CD Water – durch Transitions verbunden, die der Phantasie des Komponisten Nitin Sawhney entsprungen sind.

Grimaud water

Man kann sich damit stichprobenartig befassen, indem man hier von Track zu Track geht, man kann aber auch genau auf den Fragen beharren, die im ZEIT-Interview gleich zu Anfang gestellt werden:

DIE ZEIT: Trügt der Eindruck, dass die absolute Musik Ihnen auf der Bühne nicht mehr genügt?

Hélène Grimaud: Das trügt definitiv! [Sie berichtet von ihren „normalen“ Konzerten.] Das ist mein täglich Brot. Alles andere nimmt nur einen sehr kleinen Teil meiner Arbeit ein. Das ist ein fremdes Reich, das ich ab und zu betrete. ich finde es enorm wichtig, dass alles Szenische so abstrakt wie möglich bleibt. Es geht nicht darum, den Zuschauern zu sagen, was sie fühlen sollen, es geht darum, eine Welt zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, Gefühle zu erleben.

DIE ZEIT: Dennoch könnte man auch Ihre Water-CD als Misstrauensantrag an die Musik verstehen: Die Musik scheint mehr zu brauchen als sich selbst, ein Programm oder ein ästhetisches Surplus.

Grimaud: Ich sehe das genau andersherum: Jede Partitur ist eine Art Heilige Schrift, die zum Leben erweckt werden will und muss. Dieses Leben kann gar nicht prall genug sein.

Quelle DIE ZEIT 17. März 2016 Seite 59 „Die Kunst hält das aus“ Die Pianistin Hélène Grimaud spricht über ihre neue CD „Water“, über Spiritualität und die Grenze zwischen Musik und Aktivismus. (Gespräch: Christine Lemke-Matwey)

Es gilt, all dies sorgfältig zu prüfen und auf sich wirken zu lassen. Ist das „wahrhaftig“ durchdacht oder vom Größenwahnsinn gezeichnet? Läuft es auf etwas hinaus, was man – frei nach Adorno – als spirituelles Brimborium bezeichnen könnte? Einerseits ist immer nachvollziehbar, wenn man statt einer Nummernfolge einen größeren thematischen Zusammenhang schaffen und anbieten will, zugleich aber das Bewusstsein der Rezipienten aktivieren und präparieren will. Die leere Feierlichkeit des bürgerlichen Konzerts wird als ungenügend, als der heutigen Auffassung vom Kunstwerk nicht adäquat empfunden. Man will es vermeiden, bloße Zerstreuung anzubieten, und so bemüht man sich, gewissermaßen den Radius der Assoziationen vorgeben. Aber weiß man überhaupt, was ein großes Variationen-Werk von uns fordert, kümmert man sich eigentlich im Detail um die musikalischen Inhalte? Ich höre in den Berichten über die Goldberg-Variationen immer nur das Thema. Welcher Musiker unterzieht sich der Mühe, sagen wie, ein Werk wie das von Rolf Dammann über die Variationen durchzuarbeiten? Würde es vielleicht genügen, unter der strengen Regie von Marina Abramović 30 mal hintereinander das Thema zu spielen? Und mit Douglas Gordon über das Phänomen Wasser zu meditieren? Was meint Hélène Grimaud mit dem Satz „Die Kunst hält das aus“… Die ZEIT kommt vom Wasser auf Erderwärmung und Schmelzen der Pole und fragt: „Ist das unser Problem? Überfrachten wir die Musik mit unserer Realität?“

Hélène Grimaud: Wenn Sie so wollen, dann ist jede Rezeption eine Überfrachtung, eine Überwölbung mit eigenen Erfahrungen. Die Kunst hält das aus. Für frühere Zeitalter war die Natur ein Wissensspeicher. Man ging hinaus, machte einen Spaziergang, kam zurück und schrieb nieder, was der Wind einem durch die Blätter der Bäume zugeflüstert hatte. Das ist jetzt grob vereinfacht gesagt, so romantisierend war es nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es bis heute gilt. Denn wenn wir uns diesen existentiellen Bezug zur Welt, in der wir leben, bewahrt hätten, wäre es nie so weit gekommen.

…wäre es nie so weit gekommen? Nicht ohne Grund hat sie vorher gesagt: “ (Man) kam zurück…“ Wahrscheinlich hätten wir auch keine Musik, keine Literatur, keine Bilder, wenn wir nicht zurückkämen, reflektierten, objektivierten. Denn die Kunst schließt aus, verzehrt, ignoriert schließlich alles, was nicht Kunst ist. Ich behaupte, dass auch Ravels „Jeux d’eau“ davon profitieren, dass die Künstlerin die Musik reflektiert und nicht das Lichterspiel auf dem Wasser.

Wenn Sie 5 Minuten Zeit haben, hören Sie doch, wie es bei Igor Levit war, auch was er selbst dazu sagt – und wie er das Thema der Goldberg-Variationen spielt: HIER(Nicht mehr abrufbar!)

Wollen Sie sich die Situation optisch vorstellen? HIER finden Sie eine Rezension und ein paar Bilder.

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Und doch – könnte ich mir selbst in den Arm fallen, in die Tastatur, und versuchen, einen ganz anderen verbalen Ausdruck für dies alles zu finden. Einen Ausdruck des Schreckens und des Abscheus. Was für ein Aufwand wird hier getrieben, um eine Kunstwelt zu errichten, die sich geriert, als gehe es um nichts anderes als um die Beschwörung des wahren Augenblicks, des ungeheuer magischen Moments, der zur Ewigkeit wird. Oder um die technisch hoch aufwendige Installation einer Ewigkeit, die dann hoffentlich zu einem weltentrückten Augenblick zusammenschnurrt, man entfaltet auch die stumme Bildende Kunst – faltet sie geradezu auseinander -, bis sie in der einen genialen Performance zu einer Zeitkunst wird, versucht die Zeitkunst Musik in ein Ritual zu bannen, das uns reinigt und zu hörenden Giganten „entpersönlicht“, nein, ich finde keine Worte, und dann steckt am Ende längst die Erlebnis-Industrie dahinter, die längst alle Bastionen der künstlichen Intensivierung besetzt hat. Und im Saal sitzt allenthalben dieselbe Schickeria wie seit Menschengedenken, neuerdings aber mit dem festen Vorsatz, bei der Wiederkehr des Goldberg-Themas am Ende der Vorstellung in Ohnmacht zu fallen. Und dann hinauszugehen und zu sagen: ich widme diesen Abend den Flüchtlingen oder der Abwendung der Klimakatastrophe, nie war ich der Realität näher als im Moment dieser künstlich verordneten meditativen Einsamkeit in diesem riesigen Saal, der in den alten Zeiten als Waffenhalle (Armory) gedient haben soll. Und dann – ich sage es noch einmal (inszeniere mich womöglich gerade selbst) – versammelt sich da wieder die Menge der elitären Heerscharen und wartet auf die Gänsehaut wie in Bayreuth, wenn endlich das schwere Blech einsetzt. In diesem Fall die absehbare Wiederkehr des  zarten Themas als Wunder der intimsten Massenrührung. Eine Bach-Mirakelperzeption, die schon zu Glenn Goulds Lebzeiten weltweit eingeübt wurde, noch mehr aber nach seinem Tode: in nächtlichen Medien-Séancen mit dem Zeremonienmeister Bruno Monsaingeon.

Ich könnte aber auch an dieser Stelle daran erinnern, dass bestimmte Künstler immer noch eine unvergessliche, bezwingende Wirkung ausüben, indem sie einfach – normal beleuchtet – auf der Bühne stehen oder sitzen und vollendet Beethoven-Sonaten spielen und nicht einmal durch besondere Schönheit des Gesichtsausdrucks, der Haltung, der Gestalt oder der Gesten auffallen, wie Leonidas Kavakos („distanziert und fast mürrisch“), ob mit Enrico Pace oder Daniil Trifonov. Wie geht das? – Eigentlich – nicht so, wie ich es erlebt habe – in meinem Wohnzimmer – vor dem Fernsehapparat –

Ich breche ab, – ich muss noch ein paar einleuchtende Textstellen zur heutigen Funktion der Performance abschreiben. Vielleicht auch noch einmal Wolfgang Ullrichs Buch „Alles nur Konsum“ durchblättern. Oder nein, bei Hanno Rauterberg muss stehen, was ich suche… unter dem entwaffnenden Titel „Die Kunst und das gute Leben“…

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ZITAT RAUTERBERG

Dass sich das Wesentliche nicht festhalten lässt, dass die Wahrheit im Augenblick liegt und ja ohnehin nur lebendig ist, was wandelbar bleibt, das sind geläufige Topoi des digitalen Zeitalters – in der Performance finden sie ihre ebenso geschmeidige wie unterhaltsame Form. Sie will sich den üblichen Verwertungszwängen entziehen, will kein Produkt sein, mit dem sich handeln und spekulieren ließe. Es ist eine liquide Kunst, die mit Kameras nicht vollgültig einzufangen ist. Man soll, man muss sie mit eigenen Augen sehen, sie zelebriert das Hier und Jetzt, eine wahre nondigitale Erfahrung. Es ist die Kunst der Präsenz. Sie setzt auf Anwesenheit und Körperlichkeit, sie erlaubt es den Besuchern, sich ihrer selbst zu vergewissern: gegenwärtig zu sein.

Manchmal geht es sehr meditativ zu, beispielsweise wenn der Künstler Anthony McCall auftritt, dessen Kunst nichts als Raum, Zeit und Licht sein möchte. Im tiefsten Dunkel erstrahlen dann klirren helle Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum erfasst. Die Besucher sind es, die hier zu Performern werden: Sie baden im Licht des Künstlers, versuchen es zu ergreifen, eine irreal-reale Erfahrung. Der sogenannten Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gefällt diese Art von Lebendigkeitsästhetik.

(…) Wo sonst in den Museen ein jeder Besucher für sich vor den Gemälden und Skulpturen steht und die ästhetische Erfahrung in der Regel das auf sich gestellte Individuum meint, legt es die Performance auf etwas Allumfassendes an. Sie verbindet den Raum, das Gezeigte, das Publikum. (…)

Die Performance Art kann auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte zurückblicken, die hat sehr unterschiedliche Spiel- und Spannungsformen entwickelt und mit Marina Abramović oder Tino Sehgal einige der populärsten Künstler der Gegenwart aufzuweisen. Doch ganz gleich, ob eine Performance ekstatisch, sanftmütig oder spielerisch gestimmt ist, ob sie das Irrationale bestärkt oder auf vernunftbetonte Dialoge abzielt, stets bemüht sie sich, die Betrachter aus ihrer gewohnten Rezeptionshaltung herauszureißen. Das Museum habe, so eine verbreitete Annahme, ein konsumbestimmtes Verhältnis zu Gemälden und Skulpturen begünstigt und damit den Besuchern eine passive Rolle verordnet. Daher müsse sich Performance vor allem der Neubelebung widmen: Die starren Formen der Kunst löst sie auf in etwas Atmosphärisches, dem Dauerhaften setzt sie das Ereignishafte entgegen und sie möchte aus dem passiven Betrachter einen aktiven Teilnehmer machen. Atmosphäre, Ereignis und Interaktion können je nach Performance unterschiedlich gewichtet sein, alle drei Aspekte aber treiben auf ihre Weise die Normalisierung der Kunst voran.

Quelle Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben / Über die Ethik der Ästhetik / edition suhrkamp / Berlin 2015 (Seite 58 f) Hervorhebungen in roter Farbe JR

Um noch eine weitere Anregung hinzuzufügen, die sich leicht auf Musik-Aufführungen beziehen lässt. Das Zitat stammt aus dem Vorwort eines Buches, das schon 2004 erschienen ist:

Kunst ist in Bewegung: Theater und Konzertsäle öffnen sich für Installationen und Performances. Galerien machen Platz für Darsteller und Tänzer. Der Gang durch die Stadt ist ein Auftritt. Öffentliche und private Räume werden in ihrer Funktion hinterfragt und können dabei zum Ort für ästhetische Erfahrungen werden. Der Transformation der Räume entspricht eine Neubefragung der zeitlichen Disposition von Kunst. Anfang und Ende, Dauer und Verlauf fallen aus dem Rahmen konventioneller Muster. Damit wird eine ästhetische Praxis generiert, für deren Beschreibung Schlüsselbegriffe wie Dynamik, Prozessualität, Vollzug oder Präsenz kennzeichnend sind.

Solche neuen Produktionsweisen korrelieren mit veränderten Rezeptionsstrategien. Wahrnehmung wird nicht als passive Aufnahme und ausschließlich intellektuelle Beschäftigung mit statischen Objekten verstanden, sondern als sinnlicher und körperlicher Vorgang, der aktive Teilhabe erforderlich macht. Schließlich steht der Status von Zuschauern und Zuhörern selbst auf dem Spiel, wenn ihr Erleben im ästhetischen Vorgang thematisiert wird und sie durch ihre Anwesenheit und Wahrnehmung konstitutiver Teil ästhetischer Prozesse sind.
Wenn Kunst in Bewegung ist, dann gerät auch die tradierte Konzentration auf Werkcharakter und -ästhetik ins Rutschen.

Mit anderen Worten: Die Performativierung der Kunst stellt eine besondere Herausforderung für die Analyse dar. Kunst provoziert Wissenschaft, und die Entgrenzung der Kunst stellt die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen in Frage.

Quelle Hier Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst / Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen / Hrsg.: Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi, Jens Roselt.

Nachtrag zu Hélène Grimaud

Die Wasser-CD, die ich (siehe Bild oben) inzwischen besitze, ist sehr schön zu hören, leider auch beim Arbeiten, wenn ich gar nicht recht zuhöre. Sie plätschert dahin – Schönheit – „wie gleichst du dem Wasser!“ Soll ich über das Wesen des Wassers meditieren oder über die Verflüssigung unserer Seele beim Hören? Ja gern, ich mache alles mit. Aber wenn ich etwas über die Klänge, die mich beieindrucken, wissen will, schaue ich ins Booklet und lese über das erste Stück von Luciano Berio – „Wasserklavier“ No.3 from 6 Encores – per Antonio Ballista:

Die Werke dieses Programms gehen weit über lediglich neue Naturschilderungen hinaus. Ohne sentimental zu werden, regen sie an zu tiefer Versenkung in Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Gefühle, die durch Wasser stimuliert werden. Berios Wasserklavier sinnt zunächst mit süßer Melancholie über die vom Wasser symbolisierte Unbeständigkeit der menschlichen Existenz nach.

Das ist alles, und es ist natürlich zu wenig. Denn der Verlag Universal Edition gäbe uns etwas mehr in die Hand:

Wasserklavier aus 6 Encores könnte in der Tat als ideale Zugabe nach jedem Klavierrecital dienen: es ist tonale Musik, die Motive aus Brahms’ Op. 117 sowie Schuberts Op. 142 verwendet. Das Ende bleibt irgendwie offen – mit einem Fragezeichen oder das Gefühl vermittelnd, dass die Musik noch weiter klingen könnte.

Was für eine Vorgabe! Darauf wäre ich nicht gekommen, obwohl mein absolutes Lieblingsstück dabei ist. Op.117 besteht aus drei Intermezzi und Schuberts op.142 aus vier Impromptus, auch lauter Lieblingsstücke von mir. Und ich habe – als ich dies noch nicht wusste – kein einziges Motiv erkannt, jetzt aber fällt es mir wie Schuppen … nein, keine Anspielung in diesem Zusammenhang.

Im Fall Takemitsu verfahre ich ähnlich, der Verlag All Music hilft mir ebenfalls… Haben Sie’s angeklickt? – Aber muss ich denn wirklich alles selber tun?

Kampf der Klaviergiganten: Chilly Gonzales meets Igor Levit

Ein selten blödes Kultur-Event

Es ist nicht zu fassen, wie man auf absurde Art versuchen kann, an dem künstlichen Hype um Igor Levit teilzunehmen, während man ihm zugleich jede Möglichkeit nimmt, das zu realisieren, was er wirklich kann. Und wie er es mit sich machen lässt! Nur gute Miene bewahren, cool bleiben.

Vielleicht soll die Online-Zugabe mit Bach & Schostakowitsch etwas wiedergutmachen, aber ich mag sie gar nicht zur Kenntnis nehmen, da die Aspekte-Sendung ein Ekel-Gefühl zurückgelassen hat (nicht etwa die Musik, sondern diese Art der Klassikvermeidung, indem man vorgibt, sie zu präsentieren!), das mir kaum noch erlaubt, in der Mediathek nachzusuchen. Aber man soll diese Entgleisungen nicht unkommentiert lassen, eines Tages gibt es dann doch wieder den Grimme-Preis dafür, und man möchte nicht dabeigewesen sein! Bitte schön: HIER.

Ein alberner Zirkus. Ähnlich, wenn ein französischer Blockflöten-Virtuose beim Echo-Preis vorgeführt wird: Schlangenbeschwörer Maurice Steger mit einer Art Hummelflug von Vivaldi. Mimikweltmeister Lang Lang natürlich, immer dabei, er muss gleich zweimal in der Ehrenriege sitzen mit seinen Fake-Mozart-Noten, und dann dieser Orgel-Athlet Carpenter, und Gottschalk, Gottschalk, Gottschalk, man sehe und staune hier und  hier

Und dann diese niedlichen Kleinen von der FIT-Ausbildungs-AKADEMIE. Und der niedliche fast Hundertjährige. Und wie furchtbar, wenn am Ende auch noch das Artemis-Quartett abgefeiert wird, zu dritt,  Trauer über Trauer…

Jedem Klassiker ist es offenbar eine Ehre, als Popstar abgehandelt zu werden. Kürzlich in der ZEIT:

Konsequenterweise kann heutzutage ein Pianist, der Beethovens Diabelli-Variationen eingespielt hat, nicht mehr danach gefragt werden, warum er dieses Stück so und nicht anders interpretiert hat, sondern danach, ob er auch Hip-Hop hört. Niemand käme heute auf die Idee, Kendrick Lamar zu fragen, ob er auch den späten Beethoven hört. Während der popkulturelle Diskurs sich heute im hermetischen Checker-Milieu entfaltet, müht sich der Museumsdirektor mit pädagogischem Begleitprogramm um einen niedrigschwelligen Zugang, als müsse er sich für seine Kunst schämen.

Quelle DIE ZEIT 22. Oktober 2015 Seite 49 Altes von der Popfront Über die Mühe, sich über die Hochkultur zu erheben. Von Alexander Cammann.

Fragen zum Checker-Milieu? Hier beginnen. A propos Kendrick Lamar… hier.

Nachtrag

Aus einem Interview mit Igor Levit:

Hören Sie, wie andere Leute Ihres Alters, Hiphop? Und wenn ja, nehmen Sie diese Musik ernst?

Ich könnte 75 Mal hintereinander Kendrick Lamar hören. Ich kann diese Musik gar nicht ernst genug nehmen. Und ich glaube, ich kann und will auch gar nicht verhindern, dass sich das festsetzt in mir und dass das womöglich Spuren in meinem Spiel hinterlässt.

Quelle FAZ 18.10.2015 online hier.

Auch dieses Interview ist ein Beispiel, wie unglaublich naiv und unbedarft die Fragen eines Journalisten sein können, der von Berufs wegen eigentlich nur wirklich neugierig sein müsste. Wunderbar, wenn dann die Antworten kürzer werden als Fragen:

Der sympathischste aller Gottesbeweise geht so: Es gibt, bei Bach, bei Mozart, bei Beethoven eine Schönheit, die nur dadurch zu erklären ist, dass göttliche Inspiration am Werk war. Ist das Quatsch?

Ja.

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Fazit für mich? Ich werde mir mehr von Kendrick Lamar anhören, vielleicht nicht 75 mal hintereinander, aber wer weiß… Jemand, der die Diabelli-Variationen und die letzten Sonaten von Beethoven spielen kann, gibt mir einen solchen Hinweis nicht vergeblich! (Egal was Alexander Cammann dazu meint.)

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Was ich nicht erwartet hätte: ein paar Stunden später bin ich wieder in einer Aspekte-Sendung gelandet, Kendrick Lamar ist zu Gast und wird interviewt. Ich war auf den Universal-Seiten, habe viel Musik gehört, ich habe Textseiten („Lyrics“) gesucht und studiert oder wie soll ich sagen… Habe selten so oft das Wort „Motherfucker“ gehört. Mein Gott, wo bin ich hier aufgeschlagen? Von Gottesbeweisen ist nicht mehr die Rede, ER muss ganz in der Nähe sein, der Teufel ebenso und überhaupt. Aber ich werde hören, hören, hören und Videos sehen, bis mir Hören und Sehen vergeht. Ich habs versprochen! Im Namen Beethovens!!!

Ein Rapper, dem sein Glaube viel bedeutet, einer der sagt „Gott hat mich berufen, Leute mit meiner Musik zu bewegen“ und dennoch einer voller Zweifel: Kendrick Lamar im Gespräch mit Gerald Giesecke.

Nehm‘ ich doch ein thematisch zu mir passendes Stück: Es geht um Sünde oder Sünder, ein weißer Sarg kommt drin vor, ich werde den Text mitlesen, bis mir schwarz vor Augen wird, also vielleicht nicht gerade 75 mal.

http://genius.com/Kendrick-lamar-bitch-dont-kill-my-vibe-lyrics

Und die Musik, das Video. Muss es sein? Es muss sein!

http://www.universal-music.de/kendrick-lamar/videos/detail/video:322047/bitch-dont-kill-my-vibe

DANK AN BERTHOLD