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Neue Ratlosigkeit

Wöchentliche Orientierung, ein Irrweg?

Begleitet von der imaginierten Kritik derer, die sich auf schnelle Intuitionen verlassen, lese ich an jedem Donnerstagmorgen die ZEIT, von vorne natürlich – also zuerst die Titelseite, dann die Rückseite dieses Teils, die Inhaltsangabe Seite 14, gehe von dort meist zuerst ins Feuilleton, dann in Wissen. Ich will heute protokollieren, was für mich lebenswichtig (?) war, – weshalb ich die möglichen antibürgerlichen Kritiker ignoriere, ohne sie zwischen den Zeilen zu übersehen. Sie schauen durchs Gitterwerk. (Könnte etwa eine Täuschungsmaschinerie am Werk sein?) Ich notiere allerdings die Zeilen, die ich markiert habe. Nicht meine Gedanken, die ich vielleicht bei Gesprächen ins Offene schicke. Manche stammen von Adorno (nach seiner Rückkehr in den 50er Jahren). Aber am späten Vormittag will ich im Garten tätig gewesen sein, zumal ich Jan Schweitzer gelesen habe, Seite 41 mit „Dreieinhalb Minuten Schwitzen“.

Die Terroristen hatten es auf Juden abgesehen, aber auch auf das, wofür Juden in ihren Augen stehen: die westliche, liberale Welt, in der es möglich ist, dass junge Menschen auf einem Trance-Festival unter dem Motto »Freunde, Liebe und unendliche Freiheit« halb nackt in der Wüste tanzen. Es ging nicht nur um den Freiheitskampf der Palästinenser. Die Hamas will einen Staat nach islamischen Regeln errichten. Ihre Mitglieder würden die säkularen arabischstämmigen Jugendlichen auf der Berliner Sonnenallee verachten, die vor wenigen Tagen gemeinsam mit der antiimperialistischen Szene »Free, free Palestine« riefen.

QUELLE Sascha Chaimowicz: Dieses Schweigen / Seite 1

Dieser Sieg der Opposition ist weit über Polen hinaus bedeutsam. Das Bündnis unter Führung des ehemaligen Premiers und EU-Ratspräsidenten Donald Tusk hat bewiesen, dass der Vormarsch des Rechtspopulismus kein unabwendbares Schicksal ist – nicht einmal unter extrem schwierigen und unfairen Bedingungen.

QUELLE Jörg Lau: Willkommen zurück / Seite 1

Zu Isoldes Liebestod, am Ende der Oper, standen sie an der Rampe, und hinter ihnen ging ein goldenes Quadrat auf, leuchtete heller und heller – wie das Tor zu einer anderen Welt. Diese Idee des Bühnenbildners Erich Wonder hat mich zusammen mit Wagners Musik schwer ergriffen. (Lemke-Matwey)

… und es musste etwas passieren zwischen diesen beiden Menschen, die von ihrer Leidenschaft noch gar nichts wissen. Auf so engem Raum! Und es passierte! Mit aller Entschiedenheit. Die Wonder-Räume duldeten keine Verlegenheit, keine Schleichgänge. Nein! Jede Aktion musste groß sein, jede Aktion musste etwas bedeuten! (Waltraud Meier)

QUELLE »Der Mensch hat so viel zu sagen!« Doch jetzt ist Schluss, die Sängerin Waltraud Meier gibt ihren Abschied. Ein Gespräch über das Leben im Rampenlicht / Seite 54

Viele wollen nicht verstehen, dass wir den Mord an 1400 Israelis nicht dulden können. Ich frage die Deutschen: Würden sie so etwas hinnehmen? Gemessen an der Bevölkerungszahl wären das 10.000 ermordete und 1000 entführte Deutsche. Mich stört die Doppelmoral: Unsere Kritiker setzen Israel und Palästina gleich, fragen nicht, wer den Krieg begonnen hat. Wir kämpfen aber nicht gegen Palästinenser, sondern gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad. Wir kämpfen nicht gegen die Iraner, sondern gegen das Mullah-Regime. Nicht gegen den Libanon, sondern gegen die Hisbollah. Am meisten ärgert mich die Forderung nach »verhältnismäßiger« Gegenwehr. (Wieso?) Was wäre denn verhältnismäßig? Sollen wir es machen wie die Hamas? Sollen wir ein Musikfestival im Gazastreifen stürmen, Frauen vergewaltigen und Kinder enthaupten? Vielleicht am Ramadan? Ohne Vorwarnung?

QUELLE »Sie lachen, während sie uns töten« Arye Sharuz Shalicar ist Sprecher der israelischen Armee. Hier berichtet er über die Gräueltaten der Hamas, warum ihm die Bilder nicht aus dem Kopf gehen – und wie es ist, sich für die militärische Gegenwehr rechtfertigen zu müssen / Seite 62

Analyse eine neuen Welt in Aufruhr, mit Hilfe der alten Theoretiker

(Thukydides, Machiavelli, Clausewitz, Herfried Münkler)

Auf die Frage – nachdem es Hoffnung gab, den nahöstlichen Raum weiter zu befrieden – woher dieses Interesse kommt an CHAOS und UNORDNUNG…

Einige haben die Annäherung zwischen Israel, Saudi-Arabien sowie den Golfstaaten in Gestalt der sogenannten Abraham-Abkommen als Befriedung des Raumes angesehen und dabei den Iran und die Palästinenser außer Acht gelassen. Die aber wären die Verlierer der Befriedung des Raumes gewesen; also haben sie nach Möglichkeiten gesucht, diese Entwicklung zu stören, zu zerstören und dabei sind sie wohl erfolgreich gewesen. Dass auch der russische Präsident Putin ein Interesse an der Eröffnung eines zweiten »Kriegsschauplatzes« hat, weil der den Westen zusätzlich in Anspruch nimmt, spielt sicherlich auch eine Rolle. Politische Akteure, die mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden sind, profitieren von Chaos und Unordnung – also befeuern sie diese.

Zur Prognose, dass es künftig fünf Machtzentren geben werde…

Die Kandidaten auf der demokratischen Bank werden die USA und die EU sein, auf der autoritären Bank Russland und China – und Indien als »Zünglein an der Waage«. Warum fünf? Sie müssen Ordnungsaufgaben übernehmen, die für sie nicht bequem sind und Anstrengung bedeuten – etwa dafür zu sorgen, dass eine Organisation wie Hamas nicht ganze Regionen in Brand setzen kann. Dafür bekommen sie etwas zurück: Einfluss. Die fünf wollen unter sich bleiben und keine anderen dabei haben, mit denen sie Macht teilen müssen. Historisch haben solche Fünferkonstellationen eine gewisse Stabilität, in der Regel zwei gegen zwei, und einer ist das Zünglein an der Waage. (…)

Die Kategorien, mit denen Sie die Lage bedenken, sind die ganz alten: Macht, Polarität, Einflusszone (…).

Vermutlich besitzen Kategorien, die sich über Jahrhunderte bewährt haben, eine höhere Erklärungskraft, auch angesichts einer sich schnell wandelnden Welt, als Theorien, die in gerade stattfindende Entwicklungen hineingeschrieben werden, von denen man aber annehmen kann, dass sie nur intellektuelle Widerspiegelungen einer augenblicklichen Lage sind. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich mit Thukydides oder Machiavelli Theoretiker nehme, die als Politiker gescheitert sind und die unter dem Gesichtspunkt ihres Scheiterns schrieben. Sie treten nicht mit dem Gestus der Selbstverliebtheit in ihre eigenen Ideen auf, wie so mancher, der zuletzt hoch im Kurs stand und angesichts der jüngsten Entwicklungen – Russland, Türkei, Hamas – jetzt vor einem Scherbenhaufen steht. (…)

Man hat den Raum vom Westbalkan bis zum Kaspischen Meer, von der ukrainischen Nordgrenze bis über die türkische Südgrenze hinaus bis nach Israel nicht als einen postimperialen Raum betrachtet, sondern gedacht, man könne ihn gut in Ordnung halten. Aber postimperiale Räume bringen revisionistische Akteure hervor. (…)

Ich schätze die Klassiker einer Theorie, die stark mit geschichtlichen Erfahrungen argumentiert – bei Thukydides, vor allen Dingen bei Machiavelli, aber auch bei Clausewitz, der sich mit den Hoffnungen der Aufklärung über das Verschwinden der Kriege auseinandersetzt. Bei diesen Autoren spüre ich eine Weigerung, sich täuschen zu lassen durch Wunschdenken. Denn indem man sich der Geschichte vergewissert, tritt sie als tatsächliches Geschehen an die Stelle des Gewünschten. Ich sage nicht, alles wiederhole sich eins zu eins, aber Grundkonstellationen sind bereits in der Vergangenheit immer wieder aufgetreten und werden das wohl auch in Zukunft tun. Ansonsten müsste man plausibel nachweisen, warum sich das, was sich in zweieinhalbtausend Jahren wiederholt hat, nicht mehr wiederholen wird. Für diese Erwartung gibt es keinen Grund. Mit Schopenhauer kann man sie als »ruchlosen Optimismus« bezeichnen.

Quelle: alle wörtlichen Zitate stammen aus einem Gespräch mit dem Historiker Herfried Münkler, DIE ZEIT 12. Oktober 2023 Seite 58 »Der Worst Case war nicht vorgesehen« / Gespräch Thomas E. Schmidt mit dem Politologen H.M. über Israel, Russland und das Chaos in der Welt. Wie es zwischen den großen Mächtigen ohne Kriege weitergehen könnte, beschreibt er in seinem Buch »Welt in Aufruhr«.

Eine philosophische Antwort auf die Situation in Palästina / Israel:

HIER

Für die Philosophin Susan Neiman steht fest, dass das Festhalten an der Würde aller Menschen die einzig richtige Antwort auf die Situation in Israel ist. Das bedeute, das Leid aller ernst zu nehmen. Zugleich dürfe erfahrenes Leid nicht zur Richtschnur eines politischen Handelns werden, das von Rachewünschen getrieben ist.

Zwei drei Fragen der Zeit

Beethovens Metronom und das Tempo der Pandemie

Vorweg sei gesagt: es hat wirklich nichts miteinander zu tun. Ähnlichkeit besteht nur in der Logik der Alternativen. Zunächst die Frage: Irrte sich Beethoven oder ging sein Metronom zu schnell?

Apollinische Prüfung

In der neuen ZEIT berichtet Christine Lemke-Matwey über die unerwartete Auflösung des Problems: Beethoven hat falsch abgelesen, als er die Metronomzahlen seiner Werke nachträglich in die Noten schrieb. Er nahm die Zahl an der oberen Kante des auf- oder abwärts verschiebbaren Pendelgewichts, auf meinem Foto wäre es M.M. 60, aus Beethovens Sicht aber wäre korrekt die Zahl an der unteren Kante gewesen: M.M. 88 … nein, umgekehrt, denn dies ist ja die schnellere Variante. Oder? Man beklagt sich ja gern über die allzu hohen Zahlen der Beethovenschen Tempoangaben. Aber jetzt weiß ich selber nicht mehr, wie ich ablesen soll. Was schreibt denn Christine Lemke-Matwey?

Eine junge spanische Mathematikerin und ihr Kollege (beide ausübende Musiker) wollen das Rätsel nun gelöst haben. Beethoven, so das Ergebnis ihrer streng wissenschaftlichen Studie, habe das Metronom falsch herum abgelesen. Nämlich nicht, wie es sich gehört, oberhalb des kleinen verschiebbaren dreieckigen Gewichts am Pendel und seiner Zahlenleiste, sondern unterhalb des Gewichts; nicht am Schenkel des Dreieckchens, sondern an dessen Spitze.

Ja, gewiss, aber wie gehört es sich? Beim Apoll, ich sehe da oben kein Dreieck, sondern ein gleichschenkliges Trapez, das man allerdings nach unten hin (gedanklich) leicht zu einem Dreieck ergänzen könnte. Und wenn ich es lieber dort ablese, wo zwar keine Spitze ist, jedoch der schmalere Schenkel, wäre ich immerhin Beethoven etwas ähnlicher als manch einer vermutet hätte.  Andererseits: es könnte ja auch umgekehrt hängen, zum Beispiel wie beim folgenden Metronom:

Wikipedia

Immerhin: die Differenz zwischen oben oder unten abgelesen entspricht in etwa der Differenz zwischen den in der Praxis als „normal“ empfundenen Tempi und den strikt an den Beethovenschen Metronomzahlen orientierten. Abgesehen vom Satzbau: so einfach kann das Leben sein ! Ich kann mir gut vorstellen, dass Beethoven hier die längere waagerechte Kante für die maßgebliche gehalten hat, unter der man also ablesen sollte. Aber wie ist es nun wirklich??? Bei uns zuhaus, – welche Kante gilt? Wir sollten M.M. 60 einstellen (oben oder unten) und mit dem Sekundenzeiger unserer Uhr vergleichen. Wo oder bei welcher Einstellung stimmt die Frequenz überein? Dann wissen wir auch, welche Kante die richtige ist. Und müssen uns wegen wahnwitziger Metronomzahlen nicht die Kante geben.

Quelle DIE ZEIT 28. Januar 2021 Seite 43 Beethoven wollte gar nicht so schnell Ein großes Rätsel der Musikgeschichte ist gelöst. Von Christine Lemke-Matwey s.a. hier

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Zu anderen Beethoven-Rätseln, z.B. seinen Krankheiten, gibt es dies neue Buch, das mir physisch vorliegt; dessen hätte es gar nicht bedurft, denn man kann es vollständig digital abrufen. Es beruht auf einem Beethoven-Symposion, das unter folgendem Link dokumentiert wurde:  Hier

Darin der ebenso fesselnde wie abstoßende Forschungsbericht von Christian P. Strassburg: Kapitel 5 (ab Seite 80) über „Beethoven: die Auswirkungen der internistischen Erkrankungen auf seine Kompositionen“. Zu dieser möglichen Wechselwirkung zwischen Krankheit und Werk insbesondere ab Seite 89 ff.

Ausgiebige Seitenblicke auf Schubert und Smetana, man erinnert sich unwillkürlich an die oft genug peinliche Behandlung des Spätwerks Schumanns, wo plötzlich alles unter Verdacht steht. Und man wird gewahr, auf wie tönernen Füßen die eigene Ästhetik steht. Es wirkt wie eine Flucht nach vorne, dass man im gleichen Zug die Kunst der Geisteskranken nobilitiert hat (vgl. hier) .

ZITAT

Beethoven selber beschreibt, dass er von dem Ertrage seiner geistigen Leistung abhängig sei. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die chronische Lebererkrankung mit den oben geschilderten Konsequenzen auch einen Einfluss auf die kompositorische  Schaffenskraft, aber auch die Art der Komposition gehabt hat. Die Musik Ludwig van Beethovens ist gekennzeichnet durch oft jähe Kontraste der Lautstärke, durch Ausbrüche, Perseverationen (…) und abrupte Wechsel der melodischen Linien oder des Metrums. All dieses kann schlicht der Einsatz von kompositorischen Mitteln eines genialen Geistes sein, es besteht aber die Möglichkeit, dass diese Genialität durch die hepatische Enzephalopathie beeinflusst worden ist. Anhand von Schriftproben und Verhaltensbeschreibungen von Ludwig van Beethoven erscheinen jedenfalls diese Diagnose und ein Einfluss auf die späten Kompositionen des Meisters sehr wahrscheinlich.

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Zur Logik der Pandemie Von Herfried Münkler

Was unterscheidet Covid-19 von den Epidemien der zurückliegenden Jahre, bei denen man durch Verhaltensänderungen die Infektion zuverlässig vermeiden konnte?

Das ist bei Corona nur sehr eingeschränkt der Fall. Der virale Angriff ist nicht auf die Leichtsinnigen und Rücksichtslosen beschränkt, sondern nutzt diese, um auf die vielen anderen überzuspringen. Die Egalität des Angriffs macht eine Egalität des Abwehrverhaltens erforderlich. Also müssen alle mitmachen. Falls nicht, scheitert die liberale Ordnung mit ihren starken Einschränkungen staatlicher Handlungsmacht an der Unvernunft einer Minderheit – auch darum, weil dann die vielen Vorsichtigen und Rüclsichtsvollen für einen Staat optieren, der alle, die dem entgegenhandeln, unter seine Kontrolle bringt. Sie setzen dann auf die „chinesische Lösung“.

Quelle DIE ZEIT 28. Januar 2021 Seite 8 Abschied von der Arroganz  China steht beim Kampf gegen das Virus besser da als der Westen. Was wir tun können, um trotzdem im Systemvergleich zu bestehen. Von Herfried Münkler

Vorher im Text der Systemvergleich, ausgehend von dem interessanten Politikparadox, »was … wesentlich ein Paradox der Politik in Demokratien ist«:

Wenn die gegen eine Gefahr eingeleiteten Maßnahmen sich als wirksam erwiesen haben, breitet sich anschließend die Vorstellung aus, die Darstellung der Gefahr sei übertrieben und die getroffenen Gegenmaßnahmen seien unnötig gewesen. Die dafür verantwortlichen Politiker stehen dann als sie Dummen da. Da sie dieses Image scheuen, reagieren sie, wenn schnelles präventives Handeln angezeigt wäre, notorisch zögerlich. Es gilt das Motto: Wer zu früh handelt, den bestraft der Wähler.

Es kam hinzu, dass in Regionen, in denen die Infektionszahlen während der ersten Welle niedrig waren, sich Immunitätsvorstellungen ausbreiteten, die zu Nachlässigkeit führten – dementsprechend schossen in Sachsen und Thüringen die Infektionszahlen in der zweiten Welle prompt nach oben. Das war keine ostdeutsche Spezialität, sondern betraf ganz Mitteleuropa, das von der ersten Welle weniger betroffen war als Süd- und Westeuropa. Es war auch kein mitteleuropäischer Sonderfall, wie jetzt das Beispiel Irland zeigt. Es handelt sich um ein Lernen in die falsche Richtung, bei dem selbstzufriedene Überzeugtheit von der eigenen Sonderstellung unmittelbar ins Verhängnis führte.

Normalität bewahren

Man könnte sagen – und ich habe es mir gesagt -, in Nizza oder in der Türkei könnte die Welt zusammenstürzen, und DU tust so als sei dein nächstes Umfeld, dein Interessenkreis weiterhin das Wichtigste auf der Welt!? Die versunkene Welt Bachs zum Beispiel? Wer aber weiß, ob man dies nicht braucht, um sich abzuschirmen: damit nicht die eigene Welt vorzeitig in sich zusammenstürzt. Aus Höflichkeit gegenüber den Tatsachen sozusagen.

Ja, so ist es. Und das bedeutet ja nicht, dass einen nicht trotzdem die anderen Aspekte fortwährend beschäftigen, die allenthalben in den Medien klug oder weniger klug abgehandelt werden, in Facebook und Twitter sogar mit größter Erregung und zwar millionenfach.

Aber am meisten nachgewirkt hat wieder einmal die Haltung von Herfried Münkler, die ich im Prinzip schon kenne, deren Wirkung sich jedoch verstärkt, wenn ich ihn reden höre. Zum Beispiel in der Tagesschau am 15. Juli, im Gespräch mit Caren Miosga. Es mag zunächst wie Zynismus klingen, ist aber nichts anderes als Stoizismus, die bewährte philosophische Einstellung gegenüber einer Welt, die außerhalb unserer Reichweite liegt. Wer den klaren Verstand walten lässt, wirkt leicht gefühllos, andererseits muss man bedenken, das die grassierende emotionale Heftigkeit oft genug nur der bloßen Selbstdarstellung dient und künstlich ein Mitgefühl forciert, das kostenlos ist, und dessen Kern oft genug einer Prüfung nicht standhält. Selbstverständlich weiß Münkler, dass ein Wort wie „Vergleichgültigung“ in einer Gesellschaft, die Emotionalität per se verherrlicht, rein provokativ wirken muss. Es ist halt das Gegenteil von Panikmache. Die Trauer um nahestehende Menschen, oder um solche, mit deren Schicksal man sich identifiziert, ist davon unberührt.

http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-199933.html

HIER

Text ab 2:22 bis 4:17

MÜNKLER Ich glaube, dass einer der Modi, die unsere Gesellschaft zur Verfügung hat, „mürrische Indifferenz“, auch in diesem Falle eine angemessene Reaktionsweise ist. Wir erleben ja immer wieder Unglücke, Unfälle, und werden damit fertig und führen unser Leben weiter. Nun ist es sicher etwas anderes, ein Verkehrsunfall, eine Flugzeugkatastrophe auf der einen Seite, und ein Anschlag mit einem Täter auf der anderen Seite. Aber wenn wir so tun, als wäre das gewissermaßen in diesem Sinne eine Katastrophe, also die Intention des Attentäters oder des Verbrechers herausdividieren, dann haben wir im Prinzip die Möglichkeit, das was ich „mürrische Indifferenz“ nenne …, wir nehmen das so hin, zur Kenntnis, und nach einigen Tagen führen wir das Leben weiter, wie wir es auch ohne diesen Anschlag vollführt hätten. Das ist eine sehr stabile Abwehrlinie.

MIOSGA Und das bedeutet also, dass wir mit der Gefahr leben müssen? Ist das der Preis, den wir zu zahlen bereit sein müssen, wenn wir eine freiheitliche Gesellschaft behalten wollen?

MÜNKLER Nun leben wir ja sowieso mit Gefahren der unterschiedlichsten Art: dass wir uns infizieren, uns emm .. mit Haushaltsgeräten einen Schaden zufügen und derlei mehr. Und die Statistiker wissen auch, dass die Risiken in diesem Bereich sehr viel größer sind, jedenfalls wenn wir es auf die einzelne Person rechnen, als einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen.

Wir müssen eine gewisse Form der Vergleichgültigung psychischer Art – nicht politischer Art, da muss schon reagiert werden -, aber zunächst einmal psychischer Art hinbekommen, um die Wucht dieses Angriffs herauszunehmen und ihn tendenziell ins Leere laufen zu lassen.

Man lese dazu auch den Blog-Beitrag HIER und die dort gegebenen Links.

19.07.2016

Münklers Anspielung auf die Haushaltsgeräte – während wir uns über Terror echauffieren – hat Tradition:

Der Kurzfilm zeigte uns, wie blöd wir eigentlich sind: Zwei Menschen sind seit 2001 bei Terrorattacken getötet worden. Dagegen gab es 6700 tote Fahrradfahrer und 90.000 Leichen durch Unfälle im Haushalt. Die Chance sei größer, eine Million im Lotto zu gewinnen, denn bei einer Attacke zu sterben, so der Bericht.

So in einem STERN-Artikel vom 20. Januar 2015. Der Politpsychologe Thomas Kliche ist zu Gast bei „Hart aber fair“, siehe HIER.

Ich komme darauf durch die Lektüre der Tageszeitung:

Terror ST 160719 (Link folgt)

Angefangen hatte ich oben mit einer Anspielung auf „die versunkene Welt Bachs“. An dem Buch von Volker Hagedorn fasziniert mich aber u.a. das, was vielleicht andere Leser stört: die immer wieder versuchte Anbindung an die gegenwärtige Situation und sei es der mühsame Recherche-Weg des Verfassers selbst. Oder die Bemerkung, – anlässlich der Gräuel des 30jährigen Kriegs: dass damals mehr Menschen gestorben seien als im Zweiten Weltkrieg -, kann man das glauben? Wie bringt er überhaupt die authentischen Berichte von damals ans Licht? (Und warum? könnte der friedliebende Alte-Musik-Hörer in aller Naivität fragen.)

ZITAT

Irreal, diese Chronik im ICE nach Erfurt zu lesen, online, bequem die Seiten ansteuernd, die Happe, Jahrgang 1587, Sohn eines wohlhabenden Waidhändlers, vor 380 Jahren schrieb. Die 1785 Seiten, bis heute aufbewahrt in der Bibliothek der Universität Jena, sind auf einer digitalen Plattform der Universität Göttingen zu lesen, erschlossen mit differenzierter Suchfunktion, rechts das Original, heranzoombar, links die Transkription, in der sich zu jedem unvertrauten Begriff, jedem Namen eine Erläuterung aufklappen lässt. Eigentlich müsste damit besonders Volkmar Happes Hoffnung erfüllt sein, der seine Chronik merklich mit dem Ziel geschrieben hat, mit seiner Schilderung des Elends spätere Leser zur Arbeit an einer besseren Welt zu motivieren. Doch verursacht, je länger der ICE durch eine funklochfreie Strecke fährt, diese Lektüre auch Schwindelgefühle: Zu groß ist der Kontrast, mit Blick aus dem Fenster auf Landschaften, durch die schon lange keine Heere mehr ziehen, zu den Umständen, unter und zu denen Happe seine Seiten füllte.

Dann wieder siegt die Gravitation dieser fernen Realität, mit dem Erfolg, dass die Mitreisenden, der Kaffeeverkäufer, der Zugbegleiter wie durchscheinend werden. Das Mädchen schräg gegenüber, das am rosa Smartphone einer Freundin Banalitäten von einer Party erzählt, wirkt wie die Kunstfigur einer heilen, virtuell erweiterten Welt. Aber die ist ja nicht heil. Auf demselben Weg wie Happes Zeilen erreichen uns die Nachrichten von Gräueln des „Islamischen Staates“, von Leuten, deren Grausamkeiten an Vielfältigkeit hinter dem Dreißigjährigen Krieg zurückbleiben, den Katalog um moderne Waffen, Smartphones und das Internet erweitern, über das sie die ganze Welt an ihren Taten teilhaben lassen.

Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt. Die Familiengeschichte eines Genies. / Rowohlt 2916 / Seite 78

Zur Chronik von Volkmar Happe hier: ( http://www.mdsz.thulb.uni-jena.de/happe/erlaeuterungen.php )

Des Philosophen ornamentale Rhetorik

Zur Genese vorkultureller Polemik

Man wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis Herfried Münklers Kritik an den beiden Philosophen Sloterdijk und Safranski eine Erwiderung bekommen würde (siehe auch hier). Verwundern konnte jetzt nur die Länge der Sloterdijk-Suada, die vielleicht nur darin ihren Grund hat, dass die Überschrift bereits inhaltlich erschöpfend wiedergibt, was im Gedächtnis haften bleibt: „Primitive Reflexe / In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass“.

Das Stichwort Beißwut signalisiert bereits, dass eine feine Unterfütterung möglich wird, Prisen substantiellen biologischen Sandes im Getriebe der philosophisch umgeleiteten Reflexe. Vielleicht auch nur große Metaphern, die man diesem Philosophen mit Vorliebe um die Ohren haut: Beißwut und Reflex gleich „Hund, Pawlowscher“…

Man gewinnt den Eindruck, dass es dem Autor in seinem Artikel quälend lang um die Demonstration des eigenen Niveaus geht, wobei er jedoch auf einige Gags zweifelhaften Geschmacks nicht verzichten mag:

ZITAT

Man darf davon überzeugt sein, Pawlow hätte die Entwicklung der deutschen Debatten mit größtem Interesse betrachtet. Er würde sich in seiner reflexologischen Grundansicht bestätigt fühlen, sofern es tatsächlich oft nichts anderes als Auslöser-Zeichen sind, die bei Teilnehmern an aktuellen Diskussionen den Speichel fließen lassen, sollte es auch bereits digitaler Speichel sein. Bei manchen semantischen Stimuli wie „Grenze“, „Zuwanderung“ oder „Integration“ ist die Futtererwartung des erfolgreich dressierten Kulturteilnehmers so fest fixiert, dass der Saft sofort einschießt. Solange auf Foren genässt wird, darf man vermuten, die Absonderungen blieben harmlos. Pawlows Hund hat nie jemanden gebissen, selbst wenn man ihn mit leeren Signalen abspeiste.

Das geht durchaus in die Nähe historischer CSU-Entgleisungen, die seit Franzjosefs Zeiten vor animalischen Anspielungen nicht zurückschreckten. Der Hinweis, dass Münkler kein kleiner Kläffer ist, im Gegensatz zu einem gewissen Kölner Philosophen, steht noch bevor. Aber die hinrichtende Vokabel für böse Lesarten der von Ornamenten überbordenden Texte liegt schon bereit: Nuancen-Mord.

ZITAT

Man hat zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet, dass in einer alphabetisierten Zivilisation das Lügen eine Variante entwickelt: das absichtliche schlechte Lesen, das heißt die praktische Ausübung des Nuancen-Mords. Es sind naturgemäß politisierte oder politologisierende Intellektuelle, die bei diesem Vergehen die Täterstatistik überproportional bevölkern. Sie fallen dadurch auf, dass sie Ideen umzingeln wie Frauen in Silvesternächten.

Lese ich schlecht? Oder sogar recht und schlecht? Wer hat nun Ideen umzingelt und wer die Frauen in der Silvesternacht? Ist der Mann bei Troste? Wenn er endlich im letzten Viertel seines Textes auf dessen Anlass und Zweck zu sprechen kommt, tut er so, als sei das nur ein beiläufiges Impromptu:

ZITAT

Ein kurzes Wort will ich anfügen zu der Polemik von Herfried Münkler gegen Safranskis und meine Äußerungen über deregulierte Migrationen und übers Ufer getretene Flüchtlings-“Ströme“. Der Fall hat eine aparte Seite, da Münkler kein kleiner Kläffer ist, wie ein Philosophie-Journalist aus der Narren-Hochburg Köln, der offensichtlich immer noch nicht weiß, wer und wie viele er ist. Münkler jedoch hat sich als Autor von Statur erwiesen. Umso erstaunlicher bleibt seine Fehllektüre-Leistung, die er in einem Artikel dieser Zeitung vor wenigen Wochen zum Besten gegeben hat.

Immerhin: anders als bei Precht sieht er hier nur eine Fehllektüre-Leistung und keinen Nuancen-Mord.

Das alles ist unbegrenzt ausbaufähig, jedes Detail kann paraphrasiert werden. Bis endlich die Stretta der letzten Sätze eine natürliche Coda ergibt:

ZITAT

In der Zwischenzeit, denke ich, sollte Herr Münkler die Gelegenheit nutzen, seine okkasionellen Ungezogenheiten zu überdenken. Offenbar stammen seine polemischen Thesen (er war erregt genug, meine und Safranskis Sorgen-Thesen als unbedarftes „Dahergerede“ zu bezeichnen) doch auch zum Teil aus der Sphäre der vorkulturellen Reflexe, nicht zuletzt aus dem Revierverhalten und dem Streben nach Deutungshoheit. Sind unsere Sorgen nicht zu real, als dass sie auf die Ebene von Gezänk zwischen Krisen-Interpreten gezogen werden dürften? Es kann nicht wahr sein, dass ausgerechnet unter Intellektuellen die unbedingten Reflexe gegenüber den bedingten die Oberhand gewinnen.

Bleibt nur noch eine Nacharbeit auf dem Felde der Kläffer-Komplexe: Was unterscheidet nochmal die bedingten von den unbedingten? Man schaue hier. Und was den Hund schlechthin angeht, hier!

Quelle der Zitate DIE ZEIT 3. März 2016 Seite 39-40 Primitive Reflexe In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Abweichungshass. Eine Antwort an die Kritiker. Von Peter Sloterdijk.

Nachtrag 21. März 2016

Ich hätte mir denken können, dass es nicht bei der Entgegnung des Philosophen bleiben würde, und erst mit der neuerlichen Antwort des Politologen wird aus dem polemischen Wortwechsel ein hochinteressanter Diskurs über strategisches Denken und gedankliche Ausweichmanöver. Stoff genug für ein methodisches Seminar. Ich würde viel darum geben, wenn sich auch Rüdiger Safranski dazu äußern würde.

DIE ZEIT 10. März 2016 Seite 42 Weiß er, was er will? Der Philosoph Peter Sloterdijk hat sich vorige Woche in der ZEIR gegen die Kritik von Herfried Münkler gewehrt und ihn einen „Kavaliers-Politologen“ der Kanzlerin genannt. Eine Antwort / Von Herfried Münkler.

Ach, Europa!

Zur Orientierung 

Renaissance Bildband

Es erscheint weltfremd, wenn man zugunsten eines einigen Europas auf die gemeinsame Kultur in ihrer Vielfalt pocht, und wenn ich erzähle, was ich tue, wenn ich mich unserer Geschichte erinnern will, klingt das gewiss sinnlos elitär. Ich tue es trotzdem: ich greife nämlich nach einem opulenten Bildband, der da heißt RENAISSANCE. Ich besitze ihn seit Mitte der 80er Jahre. (Genauer: Die italienische Renaissance / in Bildern erzählt von Erich Lessing. Weiteres s.u.)

Wie gern höre ich zu, wenn mir nun, wie dieser Tage, ein Italiener von Europa erzählt:

(…) Ich glaube, die nackte und hässliche Wahrheit lautet: Das Projekt für den europäischen Kontinent ist zu einer Zeit entstanden, in der allgemeiner Wohlstand und überwiegend sozialer Frieden herrschten. Jetzt haben sich die Dinge verändert, zum einen durch die Krise eines Entwicklungsmodells, das die Wirtschaft den Finanzmärkten unterworfen hat und das die Mittelschicht schrumpfen lässt, zum anderen durch den Terror islamistischer Gruppen, die in den Peripherien Europas beinahe mehr Anhänger finden als in der arabischen Welt. Und nun offenbart sich erneut die Gemeinheit des menschlichen Herzens. Wir Schönwettereuropäer igeln uns in unseren mittelmäßigen nationalen Egoismen ein, unfähig, nicht nur mit anderen Kulturen, sondern auch und vor allem mit uns selbst, unseren Wurzeln, unserer Identität, ein Gespräch zu führen.

Die gute Nachricht: Nicht die Masse schreibt Geschichte. An der italienischen resistenza nahm anfangs nur eine Handvoll Menschen teil, nicht anders war es mit den Nazigegnern in Deutschland. Es sind Eliten, die Geschichte schreiben. Allerdings müssen diese Eliten, so sie ihren Namen verdienen, mehr als nur den passenden Slogan finden, um sich Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern – sie sollten vorher auch Shakespeare und Goethe gelesen haben, vielleicht noch Ovid und ein bisschen Aristoteles und Freud, sie sollten Michelangelo, Masaccio, Gauguin, Francis Bacon und Goya kennen. Sie sollten das Bauhaus schätzen und den Barock, Gaudì und Alvar Aalto, Fellini und Jean Renoir, Ingmar Bergmann, Leopardi, Thomas Mann, Virginia Woolf, Doris Lessing, Milan Kundera und Wislawa Szymborska. Mit anderen Worten: Sie sollten sich selber kennen.

Dies scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Europa tut sich schwer damit, eine echte politische und wirtschaftliche Gemeinschaft zu werden, weil seiner führenden Klasse nicht bewusst ist, dass Europa das Produkt einer jahrhundertealten Zivilisation ist, in der die Kultur immer wichtiger war als es die Kriterien von Maastricht, die Börsen in Mailand und Frankfurt oder auch die EZB je sein können. Ich sage das ohne jede Polemik: Es sind nicht die abstrakten und farbigen Prägungen auf hässlichen Euro-Scheinen, die unsere gemeinsamen Wurzeln ausmachen, sondern jene Künstler, die, ohne es zu wissen, unsere Identität erst erschaffen haben. (…)

Quelle Süddeutsche Zeitung 9. Februar 2016 Seite 2 Lest Shakespeare und Goethe Das Unbehagen der Italiener an Europa und was daraus zu lernen ist / Von Mario Fortunato (Aus dem Italienischen von Jan Koneffke)

Und wenn man nun ernstlich von den Kosten reden würde? Jahrelang habe ich nicht hinterm Berge gehalten, wieviel ich von Philosophen wie Rüdiger Safranski gelernt habe, und nun lese ich mit großer Befriedigung eine Polemik gegen seine neuesten Auslassungen, und zwar in der neuen ZEIT. Herfried Münkler:

Es ist nicht auszuschließen, dass die EU unter dem Druck der Flüchtlingskrise zerbrechen wird, aber es ist ein Essential der deutschen Politik, dass dies erst eintrifft, nachdem man in Berlin alles versucht hat, das zu verhindern. Die Regierungen, die den deutschen Beitrag zur Rettung des Europaprojekts jetzt diskreditieren, verfolgen dabei nationale Interessen: Sie wollen hernach unschuldig dastehen. Einige deutsch Intellektuelle spielen ihnen dabei unbedacht in die Hände.

Deutschland hat wirtschaftlich von der Schaffung eines gemeinsamen Marktes in Europa ungemein profitiert, und es war und ist der Hauptnutznießer der Einigung des Kontinents. Erste Schätzungen besagen, dass die unmittelbaren Kosten nationaler Grenzregime für jedes größere EU-Land 10 Milliarden Euro pro Jahr betragen dürften. Das ist ein geringer Betrag mit den zu erwartenden Wohlstandseinbußen, die mittelfristig aus dem dann unvermeidlichen Wiederaufleben eines wirtschaftlichen Protektionismus erwachsen würden. Die Gesamtkosten, die jetzt für die Unterbringung, Versorgung und Ertüchtigung der ins Land gekommenen Migranten anfallen, dürften ein Bruchteil dessen sein, was der Zusammenbruch des europäischen Marktes kostet – zumal dann, wenn in den europäischen Polemiken Deutschland als „der Schuldige“ dafür dargestellt wird. Daran wird kein Essay von Sloterdijk etwas ändern.

Vor allem muss man sich vor Augen halten, welche Folgen ein Rückstau der Flüchtlinge auf der Balkanroute haben würde beziehungsweise im Herbst 2015 gehabt hätte. (…)

Quelle DIE ZEIT 11. Februar 2016 Seite 7 Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk kritisieren die Regierung und verlangen eine rigide Grenzsicherung – das zeigt, wie unbedarft die beiden sind. Von Herfried Münkler

Ich habe mit Bedacht nur den Abschnitt über die Kosten zitiert, gewissermaßen als Gegengewicht zur Hervorhebung der Kultur im vorhergehenden Zitat. Ich empfehle dringend die Lektüre des ganzen Artikels, der vermutlich in den nächsten Tagen online zu lesen sein wird. Der SZ-Artikel ist jetzt bereits vollständig im Internet zu finden. Zur weiteren Diskussion siehe auch im Deutschlandfunk hier. (JR)

Erich Lessing siehe hier / ISBN 3-570-02388-5 München 1983 / Das Internet sagt, dass dieser Band später vom Orbis-Verlag übernommen wurde, der aber inzwischen aufgelöst ist.

Renaissance Bildband b

Die Überschrift dieses Artikels bezieht sich auf Buch-Titel von Jürgen Habermas (1) und Hans Magnus Enzensberger (2). Dort anspielend auf Thomas Manns Aufsatz „Achtung Europa“ (1935).

(1) Jürgen Habermas entwickelt in einer Rede, die er aus Anlass einer Diskussion mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hielt, politische Alternativen für den Kontinent. Er plädiert für eine Politik der abgestuften Integration und für eine „bipolare Gemeinsamkeit“ des „alten Europa“ mit den USA.

(2) Die Einheit des Kontinents, so wie sie in der Logik der Konzerne, der Parteien, der Bürokratien verstanden wird, nämlich als Projekt der Homogenisierung, erweist sich als Chimäre. Europa ist als „Block“ undenkbar. Es ist kein Zufall, daß sich der Autor seinem Thema von der Peripherie her nähert. Die drei „Großen“, Frankreich, die Bundesrepublik und das Vereinigte Königreich, bleiben in seinem Buch ausgespart.

Das Titelbild des Bildbandes (ganz oben) stammt von Piero di Cosimo und zeigt Simonetta Vespucci, die man möglicherweise auch im Mittelpunkt des Gemäldes „Der Frühling“ von Sandro Botticelli wiederfindet. Wer weiß, ob es – global betrachtet – zu gewagt ist? Es könnte für europäische Werte stehen, die zuweilen – wie man kürzlich in Italien erlebt hat – für fremde Besucher verhüllt werden. Ach, Europa!

Kein Krieg, – nur Terrorismus

Was man „tun“ kann: Bei sich bleiben, Normalität bewahren.

ZITAT

Der Terror des IS gedeiht dort, wo alles andere Wüste ist. Nachdem autokratische Systeme wie Ägypten oder zerfallene Staaten wie der Irak und Syrien ihre Wirtschaft sterben ließen, waren Millionen junger Männer immer noch da. Und wütend. Und ohnmächtig. Diese Ohnmacht ist heute das dominierende Gefühl der arabischen Welt. Die Ohnmächtigen wollen es den Mächtigen heimzahlen.

Der Terrorismus des IS soll überraschen, Angst erzeugen, schockieren, und all das tut er. Aber er ist, jedenfalls außerhalb Syriens und des Iraks, kein Krieg, schon gar kein Dritter Weltkrieg, sondern immer noch lediglich Terrorismus. Der IS ist nicht in der Lage, unsere Staaten zu gefährden. Er kann auch nicht, so wie der Klimawandel, langfristig die Menschheit bedrohen. Das Handwerk des Terrorismus allerdings beherrscht er, und das ist bedrohlich genug. Wenn wir verstanden haben, wer der Gegner ist, können wir handeln.

Quelle DER SPIEGEL  48/2015 19. November 2015 Seite 8 Leitartikel „Die wehrhafte Demokratie. Terrorismus führt nicht in den Weltkrieg, ist aber eine Gefahr. Was wir tun können.“ Von Klaus Brinkbäumer.

ZITAT Eva Illouz:

Die Attentate zielen auf Zivilisten als Symbole des Westens, nicht als Angehörige einer bestimmten Nation. Einen Franzosen anzugreifen ist so gut, wie einen Amerikaner anzugreifen: Beide symbolisieren Unreinheit (in einer offiziellen Erklärung des „Islamischen Staats“ hieß es, es hätten „acht Brüder […] Hunderte von Götzendienern […] auf einer Party der Perversität angegriffen – in ihren Worten verwandelte sich Paris in „die Stadt der Perversion und Obszönität“). Rockmusik im Bataclan, ein Fußballspiel zwischen den friedlich zusammenarbeitenden und sich austauschenden Nationen Deutschland und Frankreich, Meinungsfreiheit, die von einer Satirezeitung symbolisiert wird, vergnügliche Stunden mit Freunden in einem Restaurant, all dies sind die zentralen heiligen Werte des Westens (Genuss, Konsum, Individualismus, Freiheit). Und genau als solche, als die sakrosankten Werte einer ganzen Kultur, wurden sie auch ins Visier genommen.

Darüber hinaus sehen sich die IS-Kämpfer in einem täglichen Krieg mit dem Westen. Für Europäer aber, die mit ihrem guten Leben beschäftigt sind, ist der IS nicht mehr als ein Nachrichtenereignis.

Quelle DIE ZEIT 19. November 2015 Seite 51 Lasst sie nicht gewinnen Wer wissen will, wie mit einem feindlichen Umfeld zu verfahren ist, schaue nach Israel. Von Eva Illouz.

ZITAT Herfried Münkler

Der Kampf gegen den Terrorismus muss im Modus der politischen und gesellschaftlichen Normalität geführt werden, wenn der selbst zugefügte Schaden mittelfristig nicht größer ausfallen soll als der durch terroristische Anschläge.

Damit kommt ein weiteres Problem ins Spiel, dass es sich nämlich bei den jetzt angegriffenen Gesellschaften Europas – wenn wir die Pariser Anschläge als exemplarische Attacke auf den (west-)lichen Lebensstil begreifen – um postheroische Gesellschaften handelt, Gesellschaften also, in denen die Überwindung des Opfermotivs als gesellschaftlich-politischer Lernerfolg begriffen wird. Dass wir die innergesellschaftlichen wie innerstaatlichen Verhältnisse im Modus des Tauschs und nicht in dem des sakrifiziellen Opfers organisieren, wird von uns als zivilisatorischer Fortschritt begriffen, den wir nicht rückgängig machen wollen und vermutlich auch nicht können. Die in diesem Fall weniger strategische als symbolische Herausforderung durch den Terrorismus besteht in der demonstrativen Bereitschaft der Attentäter zum Selbstopfer. Neben den eigenen Opfern ist es diese Form der Selbstsakrifizierung, die uns erschüttert und das Gefühl von Wehrlosigkeit auskommen lässt. Die erste Linie des Gegenhandelns angesichts der terroristischen Herausforderung besteht also darin, dass wir das Empfinden der Wehrlosigkeit und die damit verbundenen Affekte in uns niederringen, uns nicht ducken, sondern aufstehen und uns zeigen, von Kundgebungen der Trauer bis zur Fortführung des alltäglichen Lebens, so, als hätte es die furchtbaren Anschläge nicht gegeben.

Quelle DIE ZEIT 19. November 2015 Seite 49-50  Wie wir kämpfen müssen Der Terror richtet sich gegen Europa, nicht nur gegen Frankreich. Sind wir reif für eine gefahrvolle Solidarität? Von Herfried Münkler.

Nachtrag 26.11.2015

Es gibt kaum eine überzeugende Geschichte, zu der man keine überzeugende Gegendarstellung findet. Das gilt noch radikaler für Einzelsätze, so auch für die in diesem Artikel zitierten, oder für die von Bert Brecht und Philipp Ruch des Artikels In finsteren Zeiten. Dennoch ist nicht alles gleichermaßen wahr (oder gleichermaßen egal). Gestern in der Süddeutschen Zeitung:

… man wundert sich dann doch, dass die, die nun für die Pariser Opfer zu sprechen glauben, so inständig betonen, dass die Ermordeten doch nur ein wenig Spaß haben und feiern wollten, einfach ein bisschen das Leben genießen, fast als wollten sie ihnen noch ins Jenseits nachrufen, sie seien im Schlaf ermordet worden.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht die Lebensart, die vermeintlich attackiert wurde, nicht der Spaß, nicht das Feiern sind das Problem. Das Problem ist auch nicht das recht exklusive „Wir“, das hier seine Lebensart einklagt und das vermutlich mehr von „Freiheit“ als von „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ versteht. Das Problem ist das unglaubliche Staunen, das Nicht-wahrhaben-Wollen, dass auch wir, die doch nur das Leben im Diesseits genießen wollen, in dieser Welt leben, und dass diese Welt eine einzige Welt geworden ist, unteilbar, ohne Grenzen, globalisiert eben auch in Sachen Gewalt, Unterdrückung, Verfolgung.

Quelle Süddeutsche Zeitung 25. November 2015 Seite 12 Europa hat genug geschlafen Über die unerträgliche Illusion, man solle bitte lieber nicht vom Krieg sprechen / Von Stefan Weidner.

Wir kennen durchaus die Mahnung, die Zeiten seien zu ernst um Späße zu machen. Und man kann genug Fälle aufzählen, bei denen einem das Lachen vergeht. Sagt der eine: Vorsicht mit dem Wort Krieg, sagt der andere: man soll den Terror nicht verniedlichen. Sagt der erste: das habe ich nicht gesagt. Und der andere: dann nimm doch das Wort „relativieren“. Du weißt was gemeint ist.

Es sind halt Worte. Man vergesse nicht, dass die Leute, die angeblich nur gefeiert haben, vom Ernst der Kriege in aller Welt einen Begriff haben können und im Café sogar mit Sorge über die Millionen frustrierter junger Männer hier oder dort gesprochen haben.

ZITAT

Herfried Münkler etwa, der sich mit Kriegen auskennt, lobte letzte Woche in der SZ das schnelle Vergessen sogar als Haltung „heroischer Gelassenheit“. Die Menschen schlafen. Und wenn sie sterben, erwachen sie immer noch nicht.

Quelle wie zuvor

Es ist der prophetische Ton, der misstrauisch macht. Meine Oma sagte zuweilen in den ausgelassensten Momenten: Ja ja, Kinder, euch wird das Lachen noch vergehen. Ich fand das damals irgendwie unpassend. Und heute zuweilen anmaßend.

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ZITAT

Wenn Ruch schreibt, es gelte, die gegenwärtige „Trockenphase der Weltgeschichte […] mit Schönheit zu tränken“, wird aber auch klar, dass seine Gedanken mehr um seinen Nachruhm als um das Schicksal von Flüchtlingen kreisen. Die „wirklich wichtigen Fragen“ lauten für ihn, so ehrlich ist er immerhin: „Wofür will ich einmal stehen? Welches ist die größte Tat, mit der mein Name einst verbunden werden soll?“ Dieses Verlangen nach eigener historischer Bedeutung ist aber nur die Kehrseite der Kränkung, die Ruch allseits empfindet. In seinem Antimodernismus kommt jene „Größensucht“, ja ein unersättlicher Geltungsdrang zum Ausdruck.

Das wird noch deutlicher, wenn man sein Manifest mit anderen modernekritischen Texten vergleicht. Günther Anders etwa beklagt zwar ganz ähnlich die „Antiqiertheit des Menschen“, reagiert darauf aber nicht als Gekränkter, sondern mit der genauen Beschreibung dessen, was er „prometheische Scham“ nennt: Da die Menschen von immer leistungsfähigerer Technik umgeben seien und sich im Vergleich dazu minderwertig vorkämen, fühlten sie sich beschämt. Und so entwickelt Anders, statt sich Selbstmitleid und Dünkel hinzugeben, aus dem Schambegriff heraus eine Deutung verschiedener Phänomene des menschlichen Umgangs mit Maschinen, Medien und Massenprodukten. Das mag kontrovers sein, wirkt aber auch nach 60 Jahren ungleich lebendiger und aktueller als Ruchs Manifest.

Quelle DIE ZEIT 26. November 2015 Seite 53 Das Erdbeben der Schönheit Mit radikalen Aktionen ist Philipp Ruch zum bekanntesten deutschen Politikkünstler aufgestiegen. Jetzt legt er ein Manifest vor, das mit seinem Antimodernismus Sympathisanten verstören wird / Von Wolfgang Ullrich.

Was tun? – Vor allem dies zur neuen Lektüre bereitlegen:

Anders Antiquiertheit

Nachtrag 26.12.2016 Umgang mit Terror Interview mit dem früheren Bundesinnenminister Gerhart Baum im Deutschlandfunk, nachzulesen HIER.