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Das Unbehagen an der Klassik

Am Beispiel Adalbert Stifters (nur ein Versuch, ein „Platzhalter“)

Es wirkt nach, seit der jüngsten Lektüre zweier Werke („Der Hochwald“ 1841 und „Brigitta“ 1843), zwiespältig trotz eines gewissen Vergnügens und freundlichen Zuspruchs von außen.

Siehe hier.

Eine Fortsetzung war erst möglich, als ich mich auch in meinem Widerstreben besser verstanden fühlte. Ich denke nicht nur an mich, sondern – sagen wir – an die Aufgabe, ich müsste dergleichen an meine Enkel vermitteln (reales Beispiel „Kleider machen Leute“).

Zur Vergegenwärtigung dessen, was mir – neben allerhand ruhevollen Naturschilderungen – als allzu selbstgenügsame oder sogar „papierene“ Ausdrucksweise aufgefallen war, lese man die unten im Text wiedergegebenen Beispiele. Es ist ja ganz anders als bei Kleist (natürlich), dessen stilistische Widerborstigkeit mich schon früh positiv gereizt hat. Sobald man eine bewusst stilisierende Absicht erkennt (statt Unvermögen), wird man ästhetisch wachsam. Hier ist ein Buch, das ich bis jetzt gemieden hatte, zumal der seit Schulzeiten vertraute Name Benno von Wiese nur noch die Assoziation „Nazi“ weckte. Victor Lange ist unverdächtig, ein differenzierter Sprach-Beobachter .

ZITATE (Victor Lange)

Quelle Victor Lange: Stifter – Der Nachsommer / in: Der Deutsche Roman, herausg. von Benno von Wiese / Vom Realismus bis zur Gegenwart / Bd.II / August Bagel Verlag Düsseldorf 1963 / Seite 34 bis 75

Es ging mir vor Jahren nicht wesentlich anders mit Goethe („Wahlverwandtschaften“) oder bei den vergeblichen Versuchen mit Jean Paul („Siebenkäs“). Beschämend, weil ich es zu Schumanns Ehren angestrebt hatte. Dagegen war mir E.T.A. Hoffmann in Berlin (vielleicht nur durch universitären Druck: Proseminar bei ???) früh zugänglich geworden. Ich hatte sogar eine ganz erfolgreiche Arbeit über die Erzählanfänge in den „Serapionsbrüdern“ geschrieben. Erfreuliche Wiederkehr der Eindrücke, als ich über das erste Klaviertrio von Brahms nachdachte („der junge Kreisler“).

Jetzt kam mir in Erinnerung, irgendwo über den Kanzleistil als eine deutsche Schule der Schreibkunst gelesen zu haben. War es bei Heinz Schlaffer? Also ist schnellstens eine „Nachlese“ in seinem genialen Büchlein fällig: über „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (dtv 2003/2008). Wer sonst hat solche Ideen gewagt?!

P.S. Mit Bezug auf meine Nazi-Bemerkung zu Benno von Wiese fühle ich mich veranlasst – insbesondere nach weiterer Lektüre dieses Werkes zum Deutschen Roman – daraus die erste Seite über Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wiederzugeben, – Albrecht Schöne, dessen Buch „Barock-Symposion 1974“ in meinem Bücherregal der Wiederentdeckung harrt, zunächst jedoch nur dieses (Quelle s.o. Benno von Wiese a.a.O.):

Um noch einmal auf die Rehabilitation Adalbert Stifters gegenüber einem „modernen“ Urteil zurückzukommen. Sehr lesenswert ist nach wie vor Walther Killy:

Bei Proust I – wo?

Man müßte verhärtet sein, wollte man die Reinheit der Absicht nicht bemerken und von der Vergeblichkeit nicht ergriffen werden, mit der in deutscher Sprache, im 19. Jahrhundert und in einer alternden Kultur eine Art von erzieherischem ›Robinson‹ versucht wird. Allein wie dieser auf seiner Insel, leben die Menschen des ›Nachsommer‹ in einer anderen Welt und Zeit, überzeugt, daß alles ihnen zum Besten dienen und einen Sinn erweisen werde. Wäre Stifter nicht ein großer Erzähler gewesen, so hätte des Programmatische seines Werkes Leben und Wirklichkeit zum Erliegen gebracht. Es blieb dies seinen Nachfolgern minderen Ranges überlassen, die, vom „Bildungroman“ fasziniert, letzte Frage stellen zu müssen glaubten, wo der große Roman Welt aufstellt. Stifter war ein Dichter und …

Walther Killy „Utopische Gegenwart“ 1967

Radikal kurz…

…die deutsche Literaturgeschichte

Ich kürze sie radikaler als Bismarck die Emser Depesche und schlage zugleich vor, sie später im Original und in Echtzeit zu studieren, vieles ist atemberaubend:

Der von den Literaturgeschichten suggerierte Zusammenhang einer deutschen Literatur vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart ist eine erfundene Tradition. Sie wurde von Germanisten eben in der klassisch-romantischen Periode der deutschen Literatur behauptet, um den nationalen Anspruch auf ein uraltes Fundament zu stützen. So plötzlich trat im 18. Jahrhundert eine deutsche Literatur von höchstem Rang hervor, daß selbst die Zeitgenossen glaubten, es müßten vergessene Vorläufer in der deutschen Vergangenheit zu finden sein.

Quelle Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 18 f)

Widersprüchlich muß es erscheinen, daß die deutschen zu den alten Kulturvölkern Europas gehören, im Mittelalter als Zentralmacht sich auf die Tradition des Imperium Romanum beriefen, und daß dennoch eine kontinuierlich wirksame literarische Überlieferung erst seit 250 Jahren besteht. Bei anderen europäischen Nationen besteht sie seit 500 Jahren – so in Frankreich, England, Spanien – oder gar seit 700 Jahren – so in Italien, wo sich die Erinnerung an Dante, Petrarca und Boccaccio bis heute nicht verloren hat. Deutsche Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit hingegen stehen wie eine fremde Literatur mehr außer- als innerhalb der literarischen Tradition in Deutschland. Als letzte unter den westeuropäischen Sprachen, lange nach der portugiesischen und selbst nach der niederländischen (die sich von der hochdeutschen getrennt hat), findet das Deutsche, von Gottsched auf den Weg und von Goethe ans Ziel gebracht, zur allgemein akzeptierten Gestalt einer Literatursprache, die dann auch zur grammatischen und stilistischen Norm nicht-literarischer Prosa wird. Traditionen sind in der Geschichte der deutschen Literatur so kurzlebig, daß sie gar nicht Traditionen heißen dürften. Die Kenntnis althochdeutscher Dichtung geht nach 1150 verloren, die der mittelhochdeutschen nach 1450, die der frühen Neuzeit nach 1770. Die Geschichte der deutschen Literatur besteht aus einer Serie verlorener Anfänge, ehe es zu einem Anfang kam, der Bestand haben sollte. Die ältesten deutschen Werke, die das literarische Gedächtnis bis heute behalten hat, sind Lessings Dramen, Goethes Werther, einige Gedichte Klopstocks, Bürgers, Claudius‘ und des jungen Goethe.

Es liegt auf der Hand, Namen zu nennen, die Schlaffers Meinung zu widerlegen scheinen (von Meister Eckhart oder Walther von der Vogelweide bis zu Grimmelshausen), – sie taten keine Wirkung (oder erst bei der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert), sie gehörten nie zum öffentlichen Bewusstsein, der Gebildete in Deutschland verwendete Latein, die Klöster, der 30jährige Krieg, die Reformation usw. all dies bedeutete nicht eben einen Aufschwung der humanistischen Idee und der Renaissance.

In Deutschland, wo der Buchdruck erfunden wurde und sich das Verlagswesen am frühesten entwickelte, erschien in der frühen Neuzeit weniger weltliche Literatur in der eigenen Sprache als in anderen Ländern, und, was wichtiger ist als die Quantität, darunter keine, die heute noch Leser vergnügen, erstaunen, anrühren können. In der deutschen Literatur gibt es kein Gegenstück zu Villon, Ronsand, Rabelais, Montaigne in Frankreich, zu Sannazaro, Ariost, Tasso in Italien, zu Chaucer und den Elisabethanern in England, die alle zur Weltliteratur zählen. (Seite 36)

Deutschland ist das Land der Verspätung. Sehr interessant z.B. die Einschätzung des Begriffs „Barock“.

Die Serie der Verspätungen setzt sich im 17. Jahrhundert fort. Sie wäre deutlicher sichtbar, wenn man die – mit dem Klassizisten Opitz beginnende und mit dem Manieristen Hofmannswaldau endende – Epoche nicht „barock“ sondern „Renaissance und Manierismus“ genannt hätte. Der Begriff „Barock“ ist der Kunstgeschichte entlehnt, die ihn für Stilphänomene in europäischen Bauwerken und Gemälden des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet. Die Eigenheiten dieses Stils sind ohne gewaltsame Interpretation in der deutschen Literatur des „Barock“ nicht wiederzufinden, doch verleihen sie ihr den Nimbus des Zeitgemäßen und gar einer Vorläuferschaft in der europäischen Kunstgeschichte. Durch geschickte Namensgebung hat die Germanistik das Abgeleitete zum Ursprünglichen umgetauft.

Nicht nur verspätet gelangt die Nachricht von der Wiederentdeckung der Antike nach Deutschland, sondern auch entschärft und entleert. (Seite 38)

Was ist mit meiner Langversion aus dem Jahr 1964?

LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte VI

ZITAT

Erst die Dissertation von Julian Schütt kehrte 1996 hervor, dass de Boor vorbildliche Arbeit für den NS-Staat leistete, indem er zum einen die deutsche Studentenschaft in der Schweiz zur Regierungspropaganda anregte und zum anderen im Auftrag der Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Bern die politischen Einstellungen der Berner Universitätsdozenten auskundschaftete. Leider verfiel der Schweizer Bundesrat erst 1945 darauf, de Boor zusammen mit seinem Gesinnungsfreund Richard Newald des Landes zu verweisen, auch wenn den beiden, wie Max Wehrli unterstrich, „wissenschaftlich […] kaum etwas vorzuwerfen“ war. Die Rubrik ‚Literatur‘ (gemeint ist Sekundärliteratur) nennt weder Schütts Monographie, noch Wehrlis Aufsatz, leider; auch wäre im Falle de Boor die Tatsache, dass er 1937 in die NSDAP eintrat, besonders aussagekräftig gewesen, da dahinter weniger Karrierekalkül, denn politische Überzeugung zu vermuten ist, schließlich lehrte de Boer zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre lang in der Schweiz. Nicht eigens Erwähnung finden im Übrigen de Boors wie auch Burgers Beitrag zum germanistischen Kriegseinsatz-Projekt ‚Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‘.

Quelle Geschichte der Germanistik / Mitteilungen herausgegeben von Christoph König in Verbindung mit Michel Espagne, Ulrike Haß, Ralf Klausnitzer, Ulrich Wyss / 2004 Doppelheft 25/26  Wallstein Verlag (Seite 31)

Kritische Worte zum enzyklopädischen Ansatz

Ein Literaturhistoriker, dem in dem vielbändigen Großunternehmen Geschichte der deutschen Literatur (begründet von de Boor und Newald) die Darstellung des 15. und 16. Jahrhunderts zugefallen war, wehrt sich gegen das „Vorurteil“, daß die deutsche Dichtung dieser Epoche „minderwertig sei und die Mühe einer systematischen Beschäftigung nicht lohne“. Er hofft, das Vorurteil dadurch widerlegen zu können, daß er „philologisch sachliche Stofferfassung und -darbietung“ verbindet, an „die Stelle einer Geschichte der poetischen Literatur die Schrifttumsgeschichte treten“ läßt, um auf diese Weise zwei Bände mit mehr als 1400 Seiten zu füllen. Unter den vielen hundert Dichtern, die hier angeführt sind, kennt selbst der Gebildete (falls er nicht professioneller Germanist ist) lediglich den Namen – nicht das Werk – von Hans Sachs, und auch dies nur dank seiner Würdigung durch Goethe und seinen Auftritt in Wagners Meistersingern. Kultur- und Schrifttumsgeschichte läßt sich, da Kultur immer stattfindet und irgend etwas immer geschrieben wird, auch dann betreiben, wenn es an lesens- und erinnernswerter Dichtung fehlt. Wer diese beiden Bände liest, erfährt von der Existenz vieler Schriften, deren Lektüre er sich trotz dieser Unterrichtung dennoch nicht vornehmen möchte. Wie so oft ist das „Vorurteil“ Ergebnis eines vielfach bestätigten Urteils. Es ist nicht sinnvoll, das Urteil über die deutsche Literatur der frühen Neuzeit zu korrigieren, sinnvoll ist es aber zu erklären, weshalb es zutrifft.

Quelle (s.o.) Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur dtv Deutscher Taschenbuch Verlag München 2003 ISBN 978-3-423-34022-9 (Seite 35 f)