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Harald Schmidt ohne Schnitt

Warum vermisst man ihn?

Man könnte sagen: er ist entspannter (oder umgekehrt: steht mehr unter Strom) denn je, hier hat er Heimvorteil, der Vfb ist ihm egal, Nürtingen ist nicht weit, nur was Hegel angeht, hat er nicht richtig aufgepasst: der Satz über die Heimat stammt von Herder („Heimat ist das, wo man sich nicht erklären muss“), aber das weiß ich auch nur aus den (lesenswerten) angehängten Fan-Stimmen. Ich erwähne sie, weil sie den Interviewer nicht aufs Korn nehmen, sondern Geschmack zeigen und ihn auch sehr nett zitieren: „Niemand darf wegen seines schlechten Geschmacks bevorzugt werden.“

1:31 Was bedeutet denn Heimat für Sie? Hegel, Hansi Hinterseer („Heimat ist, wo dich der Nachbar grüßt.“) 2:20 Nürtingen („da kommen ja die Storys her.“) Autokennzeichen NT, LEO, Backnang BK, („niemand darf wegen seines schlechten Geschmacks…“) 4:04 ab September „Echt Schmidt“ im Schauspielhaus, 5:24 Werbung in Late-Night? 5:56 „Gibts etwas aus der Zeit, was Sie vermissen?“ Warm  up! „Mein Gast steht im Mittelpunkt?“ Ja, wo sinmer denn!? Wolln Sie mich fragen, wer mein Lieblingsgast war? 7:11 Vfb Stuttgart. Manuel Andrack, Helmut Zerlett. Kein privater Kontakt: „Es muss alles in der Show kanalisiert werden.“ 9:35 Satz vollenden… 12:00 Polizei. Karneval. 14:30 Anbiederung über Youtube. 14:40 Rezo: „Unfassbar schlecht von der Performance (her)“. Autoindustrie. Über Fernsehen. Durchschnittsalter der Zuschauer. 19:10 Böhmermanns Film mit Sahra Wagenknecht für H.Schm.-Show. „Ich wusste, dass er es als Moderator nie schaffen wird, aber als Krawallschachtel…“ 19:50 Nur ins ZDF nach Mitternacht? Late Night Deutschland oder USA 21:00 nur New York und Los Angeles. Funktioniert nur täglich! „Late Night in D ist tot!“ Sätze, die so’n Format killen. 23:00 Erfolgreichste Quote, die wir jemals hatten. Porsche mit Zerlett. Kreuzfahrtdirektor. „Wenn das E-Auto kommt, ist Schluss mit billigen Kleinwagen.“ 24:54 Parteienveränderung. „Die Grünen sind die neue CDU.“ Kerzenschein? Briefe? Vfb warum? „Game of Thrones hab ich noch komplett vor mir, da weiß ich, muss ich durchkucken. Im Winter mal nachts wird das durchgezogen.“ 30:46 Liebster Gast? Bowie, Iggy Pop, Anne-Sophie Mutter (s.u.) und 31:04 Helmut Berger! 32:25 Angela Merkel-Fan. Wäre vor der Kamera völlig uninteressant. „Ja zu deutschem Wasser.“ 37:30 Schauspielhaus. 39:37 „Der dümmste Satz! Morbus Plasberg (…) Ich freu mich auf Sie!“ 40:55 Fragen aus dem Off: Berge oder Meer? 41:30 „Only jellyfishes this year!“ (Quallen). „Die Leute haben gar nichts zu tun mit dem Klima, weil sie erstmal kucken, wie sie überleben.“ ACHTUNG beim Zuhören!! ab 42:00 Schreckensschrei! 43:20 Nochmals Rezo (= „armseliger Performer“). „Was da inhaltlich neu gewesen sein soll, erschließt sich mir nicht.“ „Nix, was man nicht in der Stuttgarter Zeitung hat lesen können.“ (Auffällig tendenziös in diesem einen Fall. Warum kommt er auf Rezo zurück, um nochmal dasselbe zu sagen?)

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Das Rezo-Video hier. (Bis heute 15.507.276 Aufrufe!)

Harald Schmidt 2009 u.a. mit Anne-Sophie Mutter hier (ab 29:39) (übers Üben, nicht jeden Tag! sonderbar, was sie über Mendelssohn sagt: „unterschätzt, weil er im Zweiten Weltkrieg…? …getaufter Jude, der Bach wiederentdeckte…“ waas? will sie nicht Hitlerzeit sagen? Antisemitismus? War es nur der böse Krieg?)

Böhmermanns Beitrag mit Sahra Wagenknecht hier. Nicht zu fassen… Zum Ausgleich die ebenso hastige wie ausführliche Abfrage bei Schmidt: hier, ab 7:25 über Marx: „interessante, hilfreiche Analysemittel“, und: „so wollen wir ihn garantiert nicht wieder umsetzen“. Für alle Fälle gebe ich zu, dass ich gerade ihr Buch über Hegel (missverstanden vom frühen Marx) durcharbeite: ich hatte schon vorher großen Respekt!)

Gut (und richtig), was Harald Schmidt über Jan Böhmermann sagt. Eine „Krawallschachtel“. Ja, und ich füge hinzu: vor allem – dieser ist im Vergleich zu H.S. zu wenig witzig. Ähnlich wie mein Opa, der – wenn er gut aufgelegt war – eher höhnisch wurde und selbst alte Freunde in die Pfanne haute.

Und jetzt folgt Werbung! (Bei mir gratis!) In diesem Sinne:

„Ich freu mich auf Sie!“

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Eine kritische Stellungnahme zu diesem Blog-Beitrag kam per Mail von einer Bekannten, Prof. Große-Söhnermann: 

Habe gerade Deine Verarbeitung des Schmidt-Interviews gelesen - das ich
als Württembergerin ja auch amüsant und lehrreich fand. Im Falle der
Bemerkungen über Böhmermann gehst Du aber glaube ich in die Falle des
Outsider-/Insider-Vexierspiels. M.E. ist völlig klar, dass Kollegen in
diesem Metier übereinander - geschweige denn über die Inhalte der
Profession selbst - nichts auch nur annähernd Ernsthaftes öffentlich
verbreiten. Will sagen: die Aussagekraft von "Krawallschachtel"
erschöpft sich völlig in der bizarren, unzeitgemäßen Wortwahl. (Wenn Du
Dich an die Episode mit Oliver Pocher als Sidekick oder wie das heißt
erinnerst, das war ja auch ein ständiges latentes Machtspiel, das seinen
Reiz für die Zuschauer aus sich als solchem bezog und nicht aus dem
tatsächlichen Niveauunterschied - der wäre viel schneller uninteressant
geworden.) Die Äußerungen über Böhmermann - ebenso wie, deutlich
desinteressierter, über Joko & Klaas & Co., sind einfach diskursives
Säbelrasseln, denn was er über die Qualitäten und Ansprüche von
Late-Night-Shows denkt, er (Schmidt), es ist auf der Ebene der
Medienöffentlichkeitsrivalität völlig unerheblich. Er würde sich nicht
die Blöße geben, es "im Ernst" nötig zu haben, einem Kollegen ans Bein
zu pinkeln.

Mit den - ja eigenartigerweise oder bezeichnenderweise? wiederholten -
Bemerkungen über Rezo verhält es sich auch, glaube ich (!), nicht
einfach faktisch im Sinne einer Aussage von A über B. Schmidt weiß doch,
während er es ausspricht, dass sein Urteil ebensowenig wie das von AKK
oder den anderen verschreckten Berufspolitikern die Wirkungsebene überhaupt
berührt, auf der sich "Rezo" als Phänomen abspielt.

Auch das ist Säbelrasseln, aber auf verlorenem Posten; es ist allenfalls
Teil von Schmidts Medieninstinkt zur Sympathiengewinnung durch
("bessere") Formulierung dessen, was jeden nicht
aufmerksamkeitsdefizitären Rezo-Zuschauer auch nervt. Was aber noch
lange nicht heißt, dass Schmidt hier außergewöhnliche Urteilskraft
hätte. Er hat ein Podium, aber (wie ja auch Deine Klickzahl belegt)
ein vergleichsweise kleines.

Die Stärken des Schmidt-Interviews liegen ja, da waren wir uns sowieso
einig, in anderen Punkten. (Ich wollte nur nochmal auf die
Nicht-Aussagekraft der Bemerkungen zu Böhmermann hinweisen, da sie mir
in Deiner Zusammenfassung wie echte Aussagen vorkamen.)

Danke! Zur Klickzahl: Rezo am 8. Juli 15.507.276 Aufrufe, heute (am 21. Juli) 15.605.869. Schmidt heute 183.144 Aufrufe. Dieser Blogbeitrag bis heute: 32, ein anderer („Wozu Musikwissenschaft?“ seit 3. Juli) 56. Das muss den Urheber nicht irritieren: es gibt halt Themen, Inhalte und Tonfälle, die man selbst guten Freunden im Alltagsgespräch nicht zumuten würde. Gründliche (monologische) Erklärungen mögen willkommen sein, wenn die anderen sie lesen können (nicht anhören müssen).  Eine bloße Unterhaltung jedoch sollte eigentlich immer – unterhaltend bleiben. Für beide Seiten!

Im Radio, auf Youtube (und bei Bloglesern) darf man auf Seiten der Rezipienten sowieso Freiwilligkeit voraussetzen. Und die bloße Anzahl der Klicks sagt nichts über Verweildauer und Gründlichkeit des Besuchs…

Nach Harald Schmidts Solo-Auftritt in Stuttgart

ZITAT

(…) Der Abend dient einerseits der Bewältigung (oder Feier) von peinlicher persönlicher Vergangenheit und andererseits der Bewältigung tagespolitischer Zumutungen.

In den stehengebliebenen Bierzeltkulissen der Italienischen Nacht geht Schmidt umher, als sei er ein Dozent, der uns anhand der Ruinen deutscher Geschichte sein Weltbild erläutert. Er assoziiert nicht frei, erweckt aber immer wieder auf geniale Weise den Eindruck, dies sei seine Arbeitsmethode. In Wahrheit, so sagt er selbst, gebe es keine Schlagfertigkeit, sondern nur gute Vorbereitung. Hier gilt ein Satz von Rudi Carrell, den Schmidt voller Ehrfurcht zitiert: „Damit du was ausm Ellenbogen schütteln kannst, musst du vorher was reingetan haben.“ Bisweilen wirkt er wie eine Figur von Thomas Bernhard, die im letzten Monolog angekommen ist: einer, der unsere Gegenwart als etwas tief Vergangenes betrachtet und sie, aus einem idealen Jenseits heraus, mit dem Spott dessen übergießt, der halbwegs heil hinübergekommen ist. Was den Figuren in Bieitos Inszenierung der Italienischen Nacht noch bevorsteht, ist hier schon, wie alles andere, was damals folgte, verschmerzt und verarbeitet: zum Pointenmaterial eines Bildungsmelancholikers, der der Nachwelt zugehört und uns in ihr begrüßt, als wäre er ihr Honorarkonsul.

Quelle DIE ZEIT 2. Oktober 2019 Seite 59 Der magische Ellenbogen Vorwelt trifft Nachwelt: Harald Schmidt macht am Stuttgarter Schauspielhaus Comedy in den Kulissen eines Horváth-Stücks / Von Peter Kümmel

Solastalgie

Trostlosigkeit

Ich weiß nicht, warum dies Wort erfunden wurde, und weiß auch nicht, ob Bruno Latour es so verstanden hat, wie der Erfinder Glenn Albrecht es gemeint hat. Das lateinische Solacium bedeutet Trost oder Trostmittel; Solastalgie wäre dann vielleicht die Krankheit, sich aller Trostmittel beraubt zu fühlen, so jedenfalls meine Deutung, und so würde ich beschreiben, was ich (manchmal) fühle. Obwohl ich auch an „Sol“ denke, vielleicht weil Bruno Latour aus einer Winzerfamilie in Beaune stammt, wo man etwas vom Boden versteht, auf dem die Reben wachsen, den Rest besorgt le soleil, die Sonne. „Heimat. Was bedeutet sie heute? “ so die Schlagzeile. Aber schon der Untertitel signalisiert, dass es nicht um Regionales geht: „Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet.“

ZITAT Bruno Latour:

Wenn die Frage nach der Heimat überall, nicht nur in Deutschland, wieder zurückkehrt, dann offensichtlich deshalb, weil wir alle, aus welchem Land wir auch stammen, eine allgemeine Krise des Verlustes unseres Selbst und unseres Grund und Bodens erleben. Es ist dieses Gefühl der Verlassenheit, das der Psychiater Glenn Albrecht auf den Namen Solastalgie getauft hat. Die Nostalgie ist ein universelles und altersloses Gefühl, das uns angesichts der Erinnerung an eine entschwundene Vergangenheit zum Lachen oder zum Weinen bringt. Um es aber mit dem witzigen Titel von Simone Signorets Autobiografie zu sagen: Die Nostalgie ist auch nicht mehr, was sie mal war. Es ist nicht mehr eine für immer verlorene Vergangenheit, die uns vor Elend zum Weinen bringt, sondern der Erdboden, der vor unseren Augen verschwindet, was uns nach und nach unserer Existenzgrundlagen beraubt. Solastalgie heißt, Heimweh zu haben, ohne ausgewandert zu sein, also Heimweh daheim. Dies ist der radikalste Effekt der neuen klimatischen Verhältnisse: Die Klimakrise, das allgemeine Artensterben, das Sterilwerden der Landschaften macht uns verrückt.

Quelle DIE ZEIT 14. März 2019 Seite 40 f Heimat. Was bedeutet sie heute? Rede: Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet. Von Bruno Latour.

Als Gegenrede folgt Seite 41 Zugehörigkeit braucht Grenzen. Von Mark Lilla.

Ich kann ebensowenig erkennen, dass die Rede von der Gegenrede in Frage gestellt wird, wie umgekehrt. Mark Lilla sagt:

Gibt es den geringsten Grund für die Annahme, die heutige Welle der Globalisierung sei in irgendeiner Weise destabilisierender oder beunruhigender als früher? Oder für die Annahme, dass wir uns nicht letztlich daran anpassen würden, wieder in einer stärker nomadisch geprägten Welt zu leben? Ja, gibt es, und Bruno Latour erinnert uns an einen entscheidenden: die durch menschliche Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung in globalem Maßstab. Der Klimawandel wird jedes Gelobte Land heimsuchen, das wir uns je vorstellen können.

Ein weiterer Grund ist die Geschwindigkeit, mit der Kapital und Arbeit heute verlagert werden. Der Niedergang antiker Städte vollzog sich über Jahrhunderte, der meiner Heimatstadt Detroit über zwanzig Jahre. So schnell passt sich unser Orts- und Heimatgefühl nicht an. Der wichtigste Grund aber, warum wir unglückliche Nomaden sind, besteht in unserem Wissen, dass wir nirgendwo mehr hingehen und von vorne anfangen können, befreit von den globalen Dynamiken, die unsere Gegenwart bestimmen.Wir verlieren unser ‚Hinterland‘, l’arrière pays, wie es der französische Dichter Yves Bonnefoy genannt hat – das ungesehene, aber angenommene Jenseits, das Menschen immer über sich hinausgetrieben hat, voller Hoffnung und Schrecken.

Insgesamt nachlesbar in DIE ZEIT online: HIER.

Ich halte mich einstweilen an ein Buch, das nicht in der Perspektive der Trostlosigkeit endet, – wie schon auf der Umschlaginnenseite angekündigt:

In dieser brisanten Situation gilt es, zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren.

 ISBN 978-3-518-07362-9

 Inhaltsverzeichnis  Rechts oben das Motto für Nicht-Leser

Erläuterung für Noch-weniger-Leser: es stammt von Donald Trumps Schwiegersohn, zitiert von Sarah Vowell in „The danger of an incurious president“ in The New York Times (9. August 2017)

*     *     *

Es gibt nur noch ein anderes Buch, dass ich an dieser Stelle zwischenschalten würde und ohnehin zur regelmäßigen Konsultation im Sichtbereich halte. Es enthält seltsamerweise Leerseiten, als hätte der Stoff nicht ganz für ein Buch gereicht. Etwas enger gedruckt hätte es vielleicht nur 100 Seiten umfasst, und meine selbstverordnete Pflichtlektüre umfasst letztlich 7 Kapitel, die man leicht in einem Zug durchlesen kann. Das Gegenteil aber würde ich raten: nämlich lange Denkpausen einzulegen (Pausen zum Nach-Denken ohne Buch), sagen wir: anstelle einer Morgen-Meditation. Und 7 Tage ergeben 1 Woche. Soviel Zeit muss sein.

Ich will das Buch nicht abbilden, es ist oft genug eine Fehlentscheidung, den Autor oder die Autorin aufs Titelblatt zu setzen und auf die Suggestion der individuellen Ausstrahlung zu bauen. Wer hat schon ein Gesicht, das zur Idee des Weltfriedens passt. Immanuel Kant etwa? Aber seine unbestechlichen, unbarmherzigen Ausführungen zum Weltfrieden stehen im Mittelpunkt aller Gedankengänge zur Globalisierung und laufen nicht auf einen treuherzigen Aufruf zur Gewaltlosigkeit hinaus, sondern auf das Prinzip Gewaltenteilung. So, dass „die unfriedlichen Gesinnungen in einem Volke [der Vielzahl aller Völker] in ein solches Verhältnis zueinander gebracht werden, dass sie, sich wechselseitig neutralisierend, zu einem Friedenszustand führen“.

Quelle Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2004 / Carl Hanser Verlag München Wien 2003

I Zunächst muss klar sein, dass es den Naturzustand der Menschen nicht gibt und auch nie gab. Der Mensch ist das „transzendierende Tier“. Er ist „von Natur aus auf Künstlichkeit, also auf Kultur und Zivilisation angewiesen.“ Das Problem: „Wie weit kann der Mensch sich mit seiner zweiten Natur – also der kulturellen – von der ersten Natur entfernen?“

II Wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung, das heißt aber auch: „Es gibt seit der Atombombe eine globale Gemeinschaft der Bedrohung. Raketen erreichen jeden Punkt der Erde“. – „Das Ganze wirkt wie eine Naturkatastrophe globalen Ausmaßes, ist aber menschengemacht, wenngleich nicht geplant. (…) Die Prozesse sind im einzelnen rational und im Ganzen unvernünftig. Dabei ist für Öffentlichkeit gesorgt. Mit Hilfe der globalen Informationstechnologie kann man überall auf der Welt wissen, was überall auf der Welt geschieht.“

III Vom Globalismus handelt ein wichtiges Kapitel, denn angesichts der Globalisierungen entgeht einem leicht die Umdeutung in die globalistische Ideologie, die das Bild einer Weltgesellschaft erzeugt, „die einheitlicher erscheint als sie ist. Häufig wird die Tatsache verdrängt, daß in dem Maße, wie in bestimmten Regionen die Homogenität wächst, in anderen Regionen sich dramatische Prozesse der Abkopplung vom übrigen Weltgeschehen vollziehen.“ Das Phänomen der Ungleichzeitigkeiten ist allenthalben zu beobachten. „In Afrika zum Beispiel lösen sich Staaten auf in Tribalismus, in Bandenkriege; es gibt Refeudalisierung, Raubrittertum, die Seeräuber kehren zurück; unvorstellbare Armut und bestialische Überlebenskämpfe setzen gesellschaftliche Regeln außer Kraft. Das zivilisatorischen Minimum verschwindet.“ Der Globalismus wirkt auf die reale Bewegung zurück: „verhüllend, forcierend, lähmend, legitimierend“, – die Globalisierungsfalle: a) als Neoliberalismus. Ökonomie first! Entpflichtung des Kapitals, die Staaten konkurrieren um Arbeitsplätze und locken mit dem Abbau von Investitionshindernissen. Entfesselung des Marktes. b) Anti-Nationalismus (!), der gut scheint. „Aber an der anthropologischen Grundbedingung, daß Mobilität und Weltoffenheit durch Ortsfestigkeit ausbalanciert werden muß, ändert auch der anti-nationalistische Globalismus nichts.“ – „Es gehört die Bereitschaft dazu, sich ins Fremde verwickeln zu lassen. Weltläufig ist nur, wer durch den Reichtum von Welterfahrung verwandelt wurde.“  c) die Vorstellung „der Erde als globales Biotop“, im „erhabenen Ton“ auch als allgemeine Drohkulisse verwendet. „Nur Staaten und Staatenbündnisse haben Macht, ‚die Menschheit‘ aber hat keine Macht. Sie ist eine Beschwörungsformel in der Arena der wirklichen Mächte, wo die globalen Asymmetrien von Macht, Produktivität und Reichtum ein Souveränitätsgefälle neuen Typs hervorbringen. (…) Es ist […] eine Selbsttäuschung zu glauben, daß globale Probleme in apokalyptischer Größenordnung zu globaler Solidarität führen könnten. Auch hier gilt: die Letzten tragen die Last. Solange man hoffen kann, daß man zu den Vorletzten gehören wird, bleibt diese Logik in Kraft.“ – Dieses Kapitel ist besonders wichtig, weil es beliebte Irrtümer offenlegt und zugleich darauf vorbereitet, dass man sich der eher lästige Problematik der „Verfeindungsgeschichten“ und des (womöglich unrealisierbaren) Weltfriedens unbedingt stellen muss. Ich vermute, dass ich dem Thema damals, Ende 1956, nicht gewachsen war. (Albert Schweitzer spielte als Vorbild die Hauptrolle, auch Nietzsche, Beethoven, jugendlicher Enthusiasmus.)

Die Enttäuschung begann schon auf der ersten Seite. Stichwort „Traum“. Ich wollte Eindeutigkeit, Aufklärung, Idealismus. Mir hätte ein Buch wie das jetzt neben mir liegende zur Globalisierung gut getan. Ich war viel allein, etwas mehr Menschengewühl hätte vielleicht auch nicht geschadet… Ich zitiere:

Eines ist gewiß: im dichten Menschengewühl, in ständiger aufdringlicher Kommunikation mit seinen Mitmenschen, hätte sich ein solcher Enthusiasmus kaum entwickeln können. Nur in wohldosierten Portionen genossen, können Menschen Enthusiasmus erregen. Der idealistische Menschheitsenthusiasmus konnte vielleicht nur in kleinen Städten wie Tübingen oder Jena gedeihen und nur in Zeiten, da es noch keine Weltkommunikation gab. [Seite 42]

Hätte ich die Kant-Einleitung von Theodor Valentiner nur drei Sätze weitergelesen, so hätte doch die Neugier überhand nehmen müssen:

…[von einem Traum], der „ebenso wenig zwischen Herrschern wie zwischen Elefanten und Rhinozeros, zwischen Wolf und Hund bestehen kann“, oder man spinnt den Gedanken aus, auf den Kant in seinem Vorwort deutet, daß im Zeitalter der Atombombe das Ende aller Bemühungen um einen Völkerfrieden ein Kirchhof ist, in dem die Menschheit sich einmal zur ewigen Ruhe betten wird. Nichts von alledem finden wir in der Schrift. Vielmehr faßt Kant seine Aufgabe an, wie wir es nach seinem kritischen Hauptwerk erwarten.

(Fortsetzung folgt)