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Melodie ohne Spitzenton

Ist er überflüssig?

Peinlicher Anblick zum Jahresende…

Dies gab mir beim ersten Blick ins heutige Tageblatt am meisten zu denken, – neben der politischen Schlagzeile, die dem Wort „Umweltsau“ in dem beliebten Kinderlied „Oma im Hühnerstall“ galt. Jetzt ist es halt nicht mehr zu gebrauchen. Aber um den fehlenden Spitzenton im Anzeigenteil wird sich niemand kümmern, man ignoriert ihn, weil die wenigstens Kunden Noten lesen, immer nur in Worten denken. Aber gerade der Ton, zu dem man zweimal ausholt, um ihn dann um so lauter zu schreien: der gehört doch einfach an den Anfang der zweiten Zeile. Ach, ich würde gerne in der Annoncenabteilung aushelfen, wenn man mich nur ließe:

Sie sagen: jetzt erst sieht es schlimm aus, den Druckfehler hätte doch keiner bemerkt. Wirklich? Dann sage ich eben auch mal was Schlimmes über Ihre Oma! Zum Beispiel, dass sie noch nicht mal einen Zweizeiler mit Reim aufsagen konnte. Stammt das nicht von ihr? dieses: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf später!“ War sie zu dumm oder ein bisschen hinterfotzig? – In einem alten Film habe ich erlebt, wie jemand am Fischstand mutwillig mit den Worten begann: „Einem geschenkten Barsch …“ und dann zaghafter fortfuhr „… schaut man nicht in den – Schlu—lund!“ Also – erst beim Zögern ist es ein ganz netter Witz geworden, dem wohl anderenorts schon plattere Versuche mit den Worten Gaul, Maul, Hund und Mund vorausgegangen waren.

A propos „platt“: ich assoziiere mit der zweiten Zeile ohne Spitzenton die 50er Jahre mit ihren Heideröslein- und Försterliedern. „Im Wald und auf der Heide“, so hat man den „deutschen Wald“ in die Nachkriegszeit gerettet, wie auch die Rohkost, die Jungschar und die Reformbewegung. Ich konnte alle Strophen vom „Wilddieb“ und habe sie im Landschulheim auf Spiekeroog, wenn wir das Licht ausschalten mussten, den noch lauschenden Mitschläfern vorgesungen; das wirkte Wunder: „der Wilddieb, er gibt keine Antwort, er kennt ja die sichere Hand, ein Knallen und gleich drauf ein Aufschrei, und der Förster lag sterbend im Sand“. Ich glaube, es war diese Version, die den Krieg überlebt hatte, erst später kam Friedel Hensch mit den Cyprys.

Gut, das Lied saß und tat Wirkung, passte auch zu den Büchern, die ich verschlang (Kloss: „Ferien im Försterhaus“). Aber da sich in dieser Zeit auch meine Vorliebe für Klassik festigte („Die goldene Geige“), ärgerte es mich, wenn kostbare Wendungen, die ich liebte, in Schlagern auftauchten, die ich billig fand. Während mein Bruder meinte, dies sei das eigentlich Wahre (was sich auch vertreten lässt), und er war der Ältere. Michael Jary, René Carol, Wolfgang Sauer. Ich hätte nicht ausdrücken können, warum die einfach aufsteigende und wieder absteigende Linie („Du hast ja Tränen in den Augen“) mir nichts bedeutete. Oder das Auf-der Stelle-treten („Glaube mir, glaube mir“, das hat schon den Pendelrhythmus von „Zum Geburtstag“). Ich glaube nicht, dass ich etwa die ausgedehnte Melodie des Adagios hätte beschreiben können, über das mein Vater den Text eines Liedes notiert hatte („All mein Glück hab ich verloren“). Von Beethoven kannte ich nur „Ich liebe dich, so wie du mich, am Abend und am Morgen“ und fand es etwas langweilig, nein, nur bis zu einer bestimmten Wendung, jedenfalls der Sache nicht angemessen, und dann änderte sich alles mit wenigen neuen Tönen. Doch das führt zu weit (ja, die Länge brachte es, nicht die Kurzatmigkeit). Ich bleibe jetzt bei dieser Klaviersonate op. 2 Nr.2, obwohl es eine ganz andere war als die, die ich für immer mit meinem Vater verband, G-dur op. 14 Nr. 2, aber das war viel früher gewesen, in der Wohnung Kurfürstenstraße, mein Bruder übte damals am gleichen Flügel „Guter Mond, du gehst so stille“, für unsern jähzornigen Vater ein pädagogisches Waterloo. Inzwischen wohnten wir längst in der Paulusstraße, mit Blick auf die Paulus-Kirche:

 op. 2 Nr. 1, Satz 2 Adagio

Ich weiß nicht, ob wir damals das Lied „Happy Birthday“ oder „Zum Geburtstag“ schon kennen konnten, wie auch immer: der Rhythmus des Auftaktes stimmt, danach folgt in Beethovens Adagio der große Aufbruch in Gestalt des Sextsprunges, im Geburtstagslied nur die nichtsnutzige Wechselnote auf „-burtstag“, aber die beiden Anfangstöne des nächsten Taktes sind identisch („viel Glück“). Und nochmals beim nächsten „viel Glück“, dem im Adagio allerdings die Anfangstöne in Takt 8 entsprechen. Aber die Dissonanz am Anfang des Taktes 7 tat schon besondere Wirkung, und der Spitzenton der Melodie steht spürbar bevor: in Takt 10, überboten noch in Takt 12, dann aber die wunderschöne Wendung der Trauer in Takt 14, sie war in Takt 7 vorzuahnen: der schmerzliche Terzenvorhalt vor der Subdominante (B-dur-Akkord). Ein rinforzando bereitet daraufhin die Anstrengung der höchsten Töne und des Abstiegs zum Grundton vor, der letztlich analog zu Takt 8 erfolgt.

 Beethoven

 Von F-dur nach C-dur übertragen

 „-tstag, liebe Suzan, zum Geburtstag viel Glück…“

Aber glauben Sie nur nicht, ich will eine echte Verwandtschaft nachweisen. Damit wäre den Schlagern wahrhaftig zuviel Ehre angetan. Die sind bloße Profiteure des klassischen harmonischen Bestands. Und ich trage schließlich lebenslang die Last einer schlechten Assoziation.

Und wenn Sie den Eindruck haben, ich habe Ihnen einiges zugemutet: ich habe Ihnen auch manches erspart, was als Parodie vielleicht lustig gewesen wäre. Vgl. das Thema Klima-Oma. Ich wünsche allen Lesern und Hörern eine leckere Silvestermahlzeit und ein frohes Neues Jahr.

Achtung!  Parodie!