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Wie allein bin ich?

Einzeln, einsam oder wirklich allein?

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Safranski bezieht sich auf Burckhardt

Jacob Burckhardt – das ist mein Italien (Michelangelo)

.    .    .    .    . Notiz im Buch

Meine Mutter hatte das hineingeschrieben, ein Geschenk also von Frieder Lötzsch, einem Klavierschüler meines Vaters, in dessen Todesjahr 1959. Er galt als intellektuelles Wunderkind, als er auf Langeoog mit den Älteren diskutierte; er belehrte sie alle und zitierte Aristoteles (Thema „Persönlichkeit“). Nach Jahrzehnten traf ich ihn bei einem Ehemaligen-Treffen in Bielefeld wieder, wir hatten uns nicht viel zu sagen. Seine Veröffentlichung des Jahres 2006 betraf einen unserer ehemaligen Lehrer, den Philosophen Helmuth Dempe, den ich erinnere dank eines heftigen „Gesprächs“, das zwischen ihm und meinem Vater entbrannte, beide recht intensive Rechthaber. Beim Kaffee im Freudental an der Sparrenburg-Promenade. Lauter typische Einzelne. Wie auch ich, im jüngeren Umfeld, zumal ich Geige spielte und klassische Musik ernst nahm. Sehr befremdend eigentlich, dass ich – obwohl Altsprachler und eher schüchtern – zum Schulsprecher gewählt wurde.

Es ist eigentlich immer dasselbe Problem mit den Anderen: ob man mehr vom Individuum her denkt – oder mehr von der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Freundschaft, den Außenbindungen her denkt. Man kann es überall herauslesen, wenn man will. Ein Beispiel: das aktuelle Spiegelgespräch:

Quelle Der Spiegel Nr.46 / 13.11.2021 Seite 96 (Gespräch Christiane Hoffmann mit Timothy Garton Ash).

Gab es nicht schon immer „Persönlichkeiten“? Leute mit bedeutender Ausstrahlung?

Renaissance, Wiedergeburt. Und Gegenwart.

Hannah Arendt nach Safranski

Das muss man verinnerlichen, den Satz von der „Balance zwischen Einheit und Vielheit“. Die Demokratie bewirke und bewege die Lebendigkeit der Gesellschaft dadurch, dass die Einzelnen einander dabei helfen, jeweils neu anzufangen. „Doch die damit einhergehende Nichtübereinstimmung der Individuen muss lebbar bleiben. Das leistet die Demokratie mit ihrem rechtsstaatlichen Regelwerk, das den Differenzen und der Pluralität einen Rahmen gibt. Nur so entsteht die Balance zwischen Einheit und Vielheit. “

Jeder kommt von einem anderen Anfang her und wird an einem ganz eigenen Ende aufhören.

Aber das ist im realen Leben eine zu abstrakte Formel. Denn das Kernproblem liegt heute anders: Wir leben in einer Kultur,

die getrieben ist von einem Konzept der Unendlichkeit, dem unerschütterlichen Glauben daran, dass alles für immer so weitergeht. Diese Kultur ist sehr erfolgreich. Aber wenn man es mit Endlichkeitsproblemen zu tun hat, ist es nicht ideal, keine Vorstellung von Endlichkeit zu haben. Und die Themen, die aus meiner Sicht das 21. Jahrhunderrt bestimmen – Artensterben, Klimawandel und alle anderen ökologischen Probleme – sind Endlichkeitsprobleme. Wenn die Insekten weg sind, sind sie weg. Und wir auch. Ganz einfach.

So Harald Welzer im Interview der Süddeutschen Zeitung (Johanna Adorján) am 13./14. November 2021 (Seite 56), und es wird konstatiert:

2020 hat die tote Masse auf diesem Planeten die Biomasse erstmals übertroffen. Das bedeutet, es gab auf der Welt mehr Menschgemachtes als Natur.

Mehr, mehr, mehr. Die Litanei der Ökonomen.

Wenn etwas Großes passiert ist wie die letzte Finanzkrise, stehen sie da und sagen: „Huch“. Dann schweigen sie drei Monate. Und wenn die Politik agiert hat, sagen sie: „Im nächsten Quartal rechnen wir mit einem Wachstum von soundso viel Prozent.“ Mehr Beitrag haben sie nicht. Auch bei Corona: keine einzige Idee. Nur Hochrechnungen, ab wann wieder mit Wachstum zu rechnen ist. (…)

Harald Welzer gibt einen interessanten Hinweis zur Sprachpraxis, nämlich, statt „Wachstum“ immer „gesteigerter Verbrauch“ zu sagen. Er sagt:

Man stelle sich nur mal vor, der Koalitionsvertrag, den wir bald sehen werden, beginnt mit der Aussage: „Wir werden für gesteigerten Verbrauch sorgen“. Klingt gleich ganz anders, oder? Dann wäre bestimmt ein anderes Bewusstsein dafür da, was diese wohlklingenden Wachstumsbeschwörungen in Wahrheit immer bedeuten. Vor allem für die Umwelt.

Das war am Wochenende zu lesen. Sehr interessant auch seine These, die an Ernst Bloch anknüpft: „Gott wurde säkularisiert, der Teufel aber nicht.“

Ja, die Aufklärung hat nur Gott für tot erklärt. Den Teufel – das Prinzip des Widersacherischen, wie es bei Bloch heißt – nicht. Und so kommt es, dass es bei jeder Katastrophe dieselbe riesige Überraschung gibt. Ein Amoklauf an einer Schule in Amerika: Na so etwas, wie konnte denn das passieren? Der Unfall, die Katastrophe, das Misslingen ist in unserer Gesellschaft systematisch nicht vorgesehen. Es wird immer als Unfall gesehen, als Abweichung von der Normalität, nicht jedoch als Teil der Normalität. (…) Ein Unglück, ein Terroranschlag, ein Erdbeben wird immer als einzelnes Phänomen betrachtet. Eine Art negatives Wunder, dass es überhaupt geschah. Es wird völlig überhöht, ist „tragisch“, „unvorstellbar“. Es muss dann auch immer ein Schuldiger gefunden werden, der das zu verantworten hatte. Dabei, und jetzt kommen wir wieder zum Thema Endlichkeit: Es kann nicht immer gutgehen. Es kann immer etwas passieren. Man muss sogar damit rechnen, dass schreckliche Dinge passieren.

Und heute liegt das Buch vor mir, „Nachruf auf mich selbst“ – einzelner geht es nicht:

Welzer: Nachruf auf mich selbst

dies bewegte mich 1980 / 1982 – die Unterstreichungen stammen von damals . . . rückblickend finde ich mich damals jung …

Die 90er Jahre?

Nach der „Jahrtausendwende“ – ein großer Sprung:

Berlin 2017 / 2019 München 2019

Donnerstag 18.11. 2021 – die neue ZEIT ist da: ich habe Zeit, sie zu durchblättern, schließlich bin ich nicht allein, der Kaffee ist längst fertig. Seelenlage: ausgeglichen.

Aber ich bin abgelenkt durch Artikel und Blickfang auf der nächsten Seite: Foto gemeinfrei. Denn der abgebildete Springer, ein junger Mann, war schon damals tot, sonst wäre dies kein antikes Grabmal.

Paestum um 480 v. Chr. s.a. hier

Zurück zu „Seelenlage: Schmerzlich“. Da heißt es zu dem Buch von Daniel Schreiber („Allein“):

Schreiber ist Experte für Tabus. Er hatte 2017 in dem schmalen Band Zuhause erzählt, wie er sich als schwuler Junge in einem ostdeutschen Kaff durch die Kindheit litt. In Nüchtern (2014) geht es um Sucht. Der Autor weiß, wie es sich anfühlt, randständig zu sein, beäugt und beurteilt zu werden. Alleinsein, schreibt er, ist etwas, was auch anderen Furcht einjagt, weil Einsamkeit als ansteckend wahrgenommen wird, sie ist mit Scham behaftet, wird versteckt.

Es ist die Selbstoffenbarung, die Schreibers Buch von dem Werk Rüdiger Safranskis gänzlich unterscheidet, auch wenn die Titel ähnlich sind. […] Hier nun: Start bei der Renaissance! Safranski arbeitet sich durch die Reformation über Rousseau zu Kiekegaard vor, verweilt bei Stefan George, Zwischenstopp bei Ricarda Huch und Hannah Arendt (niemand soll ihm sagen, wie beim Romantik-Buch, er habe die Frauen vergessen!), am Ende landet er bei Ernst Jünger – »Der Einzelne als Stoßtruppführer«

Es ist ein Fast Forward durch die Philosophie. Man kann sich vorstellen, wie so ein Buch zu Weihnachten an die Papas geht und wie wenig nach einem Cognac noch auffällt, wie grob es geschnitzt ist. »Wer als Einzelner erlebt, steht im Freien, ohne sich deshalb schon befreit zu fühlen.« Nun ja. Ob italienische Stadtstaaten sich »in der Arena des polyzentrischen Kräftespiels wie eigensinnige Individuen« verhielten? Sind die großen Künstler von Florenz vor allem »Darsteller des eigenen Ichs«? Eigentlich nein. Wohin führen solche Vereinfachungen? Mit Sicherheit weit weg vom Schmelzkern des Themas, einer eigenen Einsamkeitserfahrung.

Quelle DIE ZEIT 18. November 2021 Seite 72 „Seelenlage: Schmerzlich“ Daniel Schreiber und Rüdiger Safranski erkunden das vereinzelte Ich auf verblüffend verschiedene Weise / Von Susanne Mayer

Stadtstaat und Kosmopolitismus

Die großen Begriffe der italienischen Stadtstaaten uomo singolare, uomo unico“

Quelle Jacob Burkhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien / Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1952 (1860)

Siehe auch hier: http://s128739886.online.de/athen-und-florenz/

Sobald man das Individuum hervorhebt, ist es ein notwendiger Schritt zu bedenken, dass kein Individuum für sich allein existiert.

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Quelle Thomas Vašek: Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen / Theiss/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017

P.S. Ich verweise dankbar auf den Artikel, in dem ich wohl zum ersten Mal im Blog auf dieses schöne Lexikon hingewiesen haben (ebenfalls in der Vorweihnachtszeit, Thema SEELE): hier

Und was ist, was vermag eigentlich der einzelne schöpferische Mensch?

Hier war mir das Büchlein noch neu. Jetzt ist es mir aus einer veränderten Situation heraus von neuem wichtig geworden. Ich schaue nicht mehr als erstes auf die Tiere, auf die Natur, sondern auf den Menschen, der an die Stelle Gottes tritt. In der Kunst ebenso wie bei der Herstellung einer wohlgeformten Holzkelle oder eines Hauses. Da sollte ich den entscheidenden Sprung der Gedanken darstellen oder wiedergeben…

Welche Visionen brauchen wir?

Angenommen: einzig Untergangsszenarien sind realistisch

Dann kommt man gern mit Luthers Apfelbäumchen daher, – ein Spruch dieser Art ist aber bei dem großen Reformator gar nicht nachweisbar. Wir müssen eigene formulieren. Angenommen im Herbst des Jahres 79 n. Chr. hätte ein wohlhabender Bürger Pompejis die Weissagung bekommen: in Kürze wird diese Stadt untergehen, es grummelt schon bedrohlich aus der Tiefe des Vesuvs. Würden wir ihn bewundern, wenn er furchtlos seinen Garten bestellt hätte statt sich außer Reichweite zu begeben?

Einerseits ist Optimismus hoch im Kurs, weil zukunftsorientiert. Andererseits wissen wir, dass nur die Wahrnehmung maximaler Gefahr eine echte Kehrtwendung veranlassen kann. Und nicht die Formel: es wird schon wieder werden…

Wir können uns nicht mehr außer Reichweite begeben, abgesehen davon, dass wir nicht einmal wohlhabend sind. Bei Markus Lanz habe ich kürzlich erfahren, dass man in San Francisco, „der reichsten Stadt dieses Planeten“, laut Statistik als arm gilt, wenn man weniger als 115.000 Dollar pro Jahr verdient. Und noch nie konnte man dort soviel Obdachlose sehen wie heute. Also: es sind hochinteressante Zusammenhänge, mit denen wir konfrontiert werden, und man sollte sich unbedingt um die Zukunft kümmern, – quia absurdum est, sagte man im alten Italien. Nein, auch dieser Satz ist nie so formuliert worden, wie man ihn zitiert. Dabei ist das Fazit, wie man lesen kann, ziemlich genau so, wie es gleich im Gespräch mit einem unverbesserlichen Optimisten zutage tritt.

ZITAT

Aber das ist nicht der Grund zum Aufhören und schon gar nicht das Ende von allem. Wir sollten uns vielmehr neu darauf besinnen, was uns wichtig ist. Deshalb, so Franzen, wird es jetzt Zeit, sich auf die Folgen vorzubereiten, zum Beispiel auf Brände, Überschwemmungen und Flüchtlingsströme. Es geht aber auch darum, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um unsere Gesellschaften, unsere Demokratien zu festigen.

Ich weiß nicht, ob dieser Autor zu den Untergangspropheten gehört, die in der Markus-Lanz-Sendung vom 4. Februar 2020 apostrophiert wurden. In diesem Blog wurde er schon als bedenkenswert zitiert, als es die kleine Schrift noch gar nicht ohne weiteres zu kaufen gab. HIER.

Hier ist ein Protokoll dessen, was Harald Welzer in der Sendung gesagt hat. Vielleicht kann man alles in seinem Buch systematischer nachlesen, aber manches wirkt gerade in den locker (und engagiert) hingesprochenen Beiträgen inspirierender.

ZDF Sendung Markus Lanz 5.2.2020, nachzuhören bis 5.3.2020 HIER.

Zum Text (noch nicht vollständig lektoriert)

Lanz (ML)bei der Vorstellung der Gäste:

Wir müssen, schreibt er, endlich den Untergangspropheten ihre Uhr wegnehmen, die seit 40 Jahren auf 5 vor 12 steht, für diese – Achtung! – Lamentierökos richten wir eigene Nöhlreservate ein, und da gehen wir dann alle hin, wenn wir mal versehentlich gute Laune kriegen. Herzlich willkommen, Harald Welzer!

20 Minuten später…

Harald Welzer (im folgenden als HW)

20:35 Mich erschüttert, dass bei solchen Aussagen geklatscht wird. Also es ist wirklich irre, wir haben – ML stopp stopp, geklatscht wurde grade, weil Frau Wöhrl sagte, da sind Lobbyisten dahinter, die puschen (ja, aber) (alle durcheinander)

HW – wir haben nun eine ausgebaute Klimawissenschaft aus sehr sehr vielen verschiedenen Disziplinen zusammengesetzt, die seit vielen Jahrzehnten an diesem Thema arbeiten, es gibt eine weit, weit über 90prozentige Übereinstimmung der Befunde, die aus diesen unterschiedlichen Disziplinen kommen, dass wir es mit einem menschengemachten Klimawandel zu tun haben, und wir wissen auch mit einer hinreichenden Sicherheit, wie die Sache sich weiter entwickelt, und wir wissen auch, dass es an Treibhausgasen liegt.Das gibt es in keinem andern wissenschaftlichen Bereich – ich bin selber Wissenschaftler -, dass es einen solchen Konsens gibt. Und wenn es bezahlte[r] Institute usw. gibt, die insbesondere in den USA seit vielen vielen Jahren gegenteilige Dinge behaupten, dann sind es nicht – die Wissenschaftler sind sich nicht einig, sondern die WissenschaftlerInnen, die von dem Thema was verstehen und da arbeiten, sind sich einig. Deshalb gibt es die Berichte vom IPCC (ML: Weltklimarat usw.) usw. usw., und man kann auch nicht sagen, – und deshalb finde ich es hier auch nicht berechtigt an der Stelle zu klatschen – beide werden bezahlt. Ich glaube, es gibt ne ganze Reihe von WissenschaftlerInnen, gerade in dem Umweltbereich, im Klimabereich, die haben eine echte Besorgnis über ihre Forschungsergebnisse, die kommunizieren die nicht deswegen, weil sie dafür bezahlt werden, sondern weil sie als Wissenschaftler sehen, wir haben ein riesiges Problem. Dieses Problem haben wir seit mindestens 1972 erkannt, als „Die Grenzen des Wachstums“ erschienen sind, seitdem wissen wir das (ML: Club of Rome!) ja, ja, und nennen uns selber eine Wissensgesellschaft, aus diesen Wissensbeständen werden kaum Konsequenzen gezogen, das ist der Punkt! (22:50 Einspruch von Heiner Lauterbach über Situation „auf beiden Lagern“, Dagmar Wöhrl über politische Interessen, ML „es geht immer um die Schuldzuweisungen, es geht doch vielmehr um die Frage: wie gehen wir mit dem Klimawandel um in der Zukunft“ ML: „wie gelingt es, diese Polarisierung aufzuheben?“)

22:50 Na ja, ich würde eigentlich – und dann können wir auch harmonischer werden in der Runde – ich glaube, da gäbe es ja eine Übereinstimmung, woran es uns da elementar fehlt, sind tatsächlich Zukunftsbilder, und Gesellschaften, dieses Typs, also der westlich-liberalen Demokratien, sind ja immer erfolgreich gewesen, weil sie immer ne Vorstellung hatten: wer wollen wir sein? Wo soll diese Gesellschaft (ML sie sagen: immer neuer, immer besser, immer mehr, das ist sozusagen unser Mantra) ja, darauf ist es zusammengeschrumpft, ja, aber dass es mal ne Gesellschaft gewesen ist, die gesagt hat, jetzt kommen diese Klischee-Zitate „mehr Demokratie wagen“, aber „Öffnung des Bildungssystems“, großes Programm der 1960er Jahre, ich hab da extrem von profitiert, als Ziel: wir müssen eine andere Gesellschaft sein, mehr sozialen Ausgleich, mehr Partizipation etc. etc. oder auf der symbolischen Ebene solche Dinge wie Apollo-Projekt, Eroberung des Weltraums usw.usw., also Dinge, wo Gesellschaft nicht einfach nur um ihre eigene Gegenwart kreist, sondern wo sie eine Vorstellung hat: da sind Ziele, da wollen wir hin, da wollen wir auch alle mitnehmen. (ML: Heute, also, Apollo ist abgehakt, für mich zumindest, aber – E-Mobilität wär doch so’n Ziel…)

22:50 Aber das ist doch kein identifikationsstiftendes Ziel, das ist doch dasselbe wie jetzt, nur Sie haben n Antrieb ausgetauscht, ist doch nichts, wo man sagt: au, cool!!! 2050 haben wir nur noch E-Autos (ML: also 50 sagen Sie jetzt…ganz cool, ehrlich gesagt, in ner Innenstadt zu leben, die nicht mehr stinkt morgens, nach Abgasen) ich fänd’s ja viel cooler in ner Innenstadt zu leben, wo es keine Autos mehr gibt (auch gut! Beifall können wir uns sofort drauf einigen), aber vielleicht verbirgt sich genau dort der Witz, dass es dort auch so etwas wie Utopien geben, Visionen geben muss, wir könnten uns vorstellen, – dieses Thema, das wir zu Anfang hatten, wir haben keine soziale Ungleichheit in diesem Ausmaß mehr, meine ich keine sozialistische … ja? aber keine soziale Ungleichheit in dem Sinne, dass Menschen zur Tafel gehen müssen, wenn sie was zu essen haben wollen. Wir könnten doch ein Zukunftsbild haben, dass wir eine Gesellschaft haben, in der alle anständig essen können, ich meine, dass man im Jahr 2020 sowas überhaupt sagen muss. Oder das als Ziel ist ja schon bizarr. (ML Oder in die andere Richtung jetzt wenn Sie nach San Francisco gehen, also noch nie konnten Sie in der reichsten Stadt dieses Planeten, wo Sie glaube ich mit 114 000 Dollar mittlerweise offiziell arm sind, wenn Sie ein Jahreseinkommen von 115.000 Dollar haben, sind Sie statistisch arm, nie konnten Sie soviel Obdachlose dort sehen wie im Moment.)

Ja, selbstverständlich, und das ist in allen Metropolen, ehm, aber jetzt wollen wir nicht das Negative sagen, man könnte ja sagen: wir haben die Power, wir haben auch das Bildungssystem, wir haben auch sozusagen theoretische Motivation genug, uns diese Gesellschaft anders vorzustellen, nämlich eine, die viel weniger Ressourcen verbraucht, siehe Frage Mobilität, was ist die Mobilität der Zukunft? Ist das der Ersatz eines Energiegebers gegen einen andern, oder ist es intelligenter Bewegung, also sprich: nicht mit Autos, sondern mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die super funktionieren 29:21 weil sie digital orchestriert sind. Ist die Stadt der Zukunft, sieht die aus wie jetzt aussieht? Oder hat die ganz andere Nahversorgungskonzepte? Wird viel mehr Nahrung in der Städten angebaut? Usw. ML Nahrung? Nehmen Sie uns doch mal mit, lassen Sie uns frei denken , auch mal verrückt denken. Welche Ideen gibt’s da? Wie sieht sozusagen der Nahrungsmittelanbau der Zukunft aus?

HW Naja, da gibt es n ganzes Spektrum von Ideen, da geht von den Verical Gardening – das kennen die meisten: dass man Hochhäuser auch dafür verwendet, dass man in bestimmten Etagen die Nutzung der Fassaden, um Nahrungsmittel anzubauen, das gibt es als ganz konkrete Utopie, umgesetzt in Andernach, wo der Grünraumplaner der Stadt vor 10 Jahren auf die famose Idee gekommen ist, dass Stadtgrün auch verwendet werden kann, um Nahrungsmittel anzubauen. Seitdem nennen die sich die essbare Stadt, zeigen stolz vor, dass in ihrer Stadt Flächen usw. anders genutzt werden, die Bürger finden das zum Teil toll (glaub ich) nich? weil die jetzt sagen können, wir sind die mit der essbaren Stadt, ja, die haben viele Preise bekommen, und sowas, das sind so Ansätze, und das geht bis hin, dass man natürlich eh eh im Untergrund bestimmte Formen von Nahrungsmitteln anbauen kann usw. (ML Beispiel? Im Untergrund? Ohne Licht, ohne…) Ja, kann man machen, ich bin kein Biologe, aber da laufen solche Experimente oder in Rotterdam, da machen sie auf Poldern im Fluss sozusagen Kühe, ja, da machen sie Weidewirtschaft, es gibt total verrückte Geschichten, ehm, ich finde an solchen Dingen nur interessant, wir habe eigentlich keine – wie soll man sagen – keine Medienformate, wo solche Zukunftsbilder, die z.T. ja sehr konkret sind, wo die richtig sexy vermittelt werden (ML doch Sie heute grade hier, das ist doch cool / Wöhrl: aber man kann das doch auch immer nur ergänzend sehen, es sind ganz tolle Geschichten, man kann es sich ganz super vorstellen, aber es wird nichts das ersetzen, was notwendig ist, um alle zu ernähren) ML was machen wir mit der mit der mit dem Bevölkerungswachstum, das ja enorm ist, wenn man sich das mal anschaut, (HL das ist das Problem, das wir haben, das mit Abstand größte Problem, das wir habe, ist die Überbevölkerung. Sie sagen ja in einem Artikel, den ich gesehen habe von Ihnen, den ich unterschreiben würde, dass die Menschen durchaus in der Lage sind, 9 Milliarden Menschen zu ernähren, das ist nicht das Problem. Als ich auf die Welt kam, da hatten wir 3,5 Milliarden Menschen, jetzt haben wir mehr als doppelt so viel, man muss ja kein Mathematiker sein, was lässt Sie denn daran glauben, dass es bei 9 Milliarden bleibt?

HW Oh, das wiederum, sagen die Leute, die sich damit beschäftigen, Demographen, die können das relativ gut berechnen, weil sie sehen können, wie die Kinderzahlen sinken, (ML mit steigender Bildung…) mit steigender Bildung und bestimmten anderen sozialen Faktoren sinken die Kinderzahlen, auch heute schon, und dann können Sie hochrechen: wenn Sie weniger Kinder haben, haben Sie entsprechend in der nächsten Generation so und so viel Bevölkerungszuwachs oder -abnahme, und (HL dann muss man aber die Bildung heben, in Afrika zum Beispiel) ja, das kann man ja auch machen bzw. sollte man machen (ML es geht ja um Frauenbildung vor allem) ja, es gibt bei Bevölkerungswachstum keinen unendlichen Anstieg, es wird sich bei 9 – 9 ½ Milliarden irgendwie einpegeln. Da gibt’s sozusagen Übereinstimmung. Das macht das Problem nicht besonders klein, denn das sind immer noch sehr viele, wir haben durch Klimawandel und anderen Umweltstress natürlich immer mehr Probleme, diese Leute zu ernähren, nur über einen Faktor müsste man in dem Zusammenhang auch sprechen: dass natürlich die Menschen in den USA oder wir hier in der Bundesrepublik und so das Zehn- bis Zwanzigfache von dem verbrauchen, was Menschen in andern Teilen der Welt verbrauchen. Das heißt, wir müssen das Bevölkerungsproblem auch mit solchen teilen, und da kann die Lösung nicht sein: alle müssen so viel zuviel verbrauchen wie wir, das ist die Aufgabe…

Markus Lanz: Aber Ihr Buch gefällt mir deswegen so gut, Herr Welzer, ich hab das schon vorm Jahr gesagt, weil das ein optimistisches Buch ist, weil Sie sagen, wir müssen da für diese Öko-Lamentierer müssen wir eigentlich so Nöhlparks einrichten, da sperren wir die alle ein, da können die alle rummaulen von morgens bis abends, und diese Weltuntergangspropheten, bei denen die Uhren seit 40 Jahren auf 5 vor 12 stehen, äh, das kann man ja alles nicht mehr hören. Deswegen: wo ist sozusagen der positive Blick ins Morgen, wie lösen wir das? Wenn Sie sagen, zu recht ja sagen, wie kann das sein, dass wir weiterhin auf dem Niveau Spaß haben und Halligalli machen und CO2 in die Luft pusten, und die andern, die jetzt also grade erst dazukommen, die Schwellenländer, Indien und China usw., die jetzt aber auch partizipieren wollen, – dann können wir nicht einfach so weiter machen, was bedeutet das? Kommen dann tatsächlich die Verbote? Müssen wir runter von unserem Lebensstil? Oder gibt es ein gutes Leben, das nur anders gestaltet wird?

HW Ja, also ich hab ja für den Optimismus dieses Buches erstens subjektiv den Grund gehabt, dass ich dieses Gejammer nicht mehr hören kann, und diese pausenlosen Untergangsphantasien, die sind ja insofern eitel, diese Untergangsphantasien, weil wir heute auf dem allerhöchsten Niveau leben, das es in der Menschheitsgeschichte jemals gegeben hat. Das ist auch nicht pathetisch, das ist einfach so. Alle hier in diesem Saal leben besser als Ludwig der XIV., he? und das ist ja nicht nichts! Und die Lebenserwartung hat sich verdoppelt in den letzten hundert Jahren, alle diese Faktoren, und dann interessiert mich, wow, wenn das möglich gewesen ist, was waren denn die Bedingungen dafür, dass das möglich war? warum geht es heute so gut im Vergleich? Da haben wir n paar Faktoren: wir haben auf der einen Seite wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, wir haben enorme soziale Fortschritte, die haben sehr viel mit Gleichheit zu tun, die haben auch etwas mit der äh äh äh Emanzipation der Frauen zu tun, die haben was mit dem Bildungssystem zu tun, viele solcher Faktoren, und medizinischer Fortschritt natürlich auch, führen dann dazu, dass diese Lebensverhältnisse besser werden, aber – was immer nicht gesehen wird – es gehört auch n Gesellschaftssystem dazu, und wir leben in einem offenen Gesellschaftssystem, in einer Demokratie, die die Eigenschaft hat, sich permanent modernisieren zu können, weil sie Kritik zulässt, weil sie Bewegungen zulässt wie jetzt diese „Fridays for Future“, genau so wie die Grünen, die Öko-Bewegung war eine Modernisierungsbewegung, die brauchte diese Gesellschaft, ha, genau so brauchen wir jetzt die Kids ganz dringend, weil die Modernisierung geht nicht von den Altmaiers dieser Gesellschaft aus. Das muss man einfach mal so ganz schlicht sagen, das ist n Altersphänomen usw., auch das was wir als Realpolitik betrachten, hat ja in dem Sinne keinen Horizont, deshalb verstehen ja viele auch nicht, was wollen die eigentlich damit? Was bedeutet das jetzt, wie sieht denn unser Bildungssystem im Jahre 2030 aus, wie sehen unsere Städte, wie sieht unsere Mobilität 2030 aus? Das ist sozusagen pragmatisch, kurzfristig orientiert, macht aber keinen Horizont auf. Oder wir sehen mal das Beispiel der Autoindustrie: die Autoindustrie wird einen Strukturwandel durchmachen von der Dimension durchmachen, wie es vorher der Bergbau insbesondere im Ruhrgebiet vorexerziert hat. HÖREN WIR ETWAS DAVON? Wie sieht dieses Land nach der Autoindustrie aus? Das muss ja nicht negativ sein, das muss man abfedern, das nennt man Strukturwandelspolitik. Aber wir brauchen doch JETZT Visionen für die Zeit nach dem Auto. Wir brauchen Visionen für eine Zeit, wo diese Form von Emissionen – und übrigens auch Rohstoffverbrauch im ganzen, das ist eine verengte Diskussion, wenn wir nur über Emissionen sprechen. (Klar!) Wir haben – jetzt nach dem Davos-Gipfel wurde verkündet – wir haben jetzt globales Wachstum 2020 3,3 Prozent Wachstum: 3,3 Prozent Wachstum bedeutet 3,3 Prozent mehr Verbrauch – wie soll das auf einem Planeten, der jetzt unter Stress steht, funktionieren? Was haben wir für eine Vision für eine Wirtschaft jenseits des Wachstums? Und das meine ich mit Zukunftsbildern, die muss man nicht immer negativ bestimmen, es ist doch eine Herausforderung zu sagen: wir können’s doch viel besser. Ist doch viel interessanter als immer nur so weitermachen und hier und da herumzubasteln. Oder? 37:52 (Beifall)

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Das Buch von Welzer – und zwei Rezensionen: hier.

Quellen und Rezensionen zu Jonathan Franzen in DIE ZEIT 30. Jan. 2020

DIE ZEIT 30.01.2020 Seite 37 Was, wenn es so kommt? Der Kampf gegen den Klimawandeöl ist verloren, sagt der Schriftsteller Jonathan Franzen. Manche Forscher behaupten gar, schon diesem Jahrzehnt breche die Zivilisation zusammen. Es ist Zeit, sich mit der „Kollapsologie“ zu befassen. Von Ulrich Schnabel. S.a. hier (leider mit Zahlschranke).

Kritik zum Begriff „Collapsologie“ siehe hier (Wikipedia Pablo Servigne)

DIE ZEIT 30.01.2020 Seite 53 Werden wir untergehen Jonathan Franzens jüngster klimapolitischer Essay hat spektakuläre Shitstorms ausgelöst. Jetzt kann man ihn auf Deutsch lesen. Von Elisabeth Thadden. S.a. hier (ohne Zahlschranke)

Zur Quellenseite der ZEIT hier = Zugang zu der folgenden Übersicht; dort kann kann man die einzelnen unterstrichenen Texte oder Infos anklicken.

 Screenshot

Der Aufsatz „Deep Adaptation“ („Tiefenanpassung“) von Jem Bendell auf deutsch als pdf. abrufbar hier.

Kapitalismus Beispiel Kongo

Jean Zieglers Alarmruf

Nach der Talkshow ZDF 21.03.2019

Ich habe das aufgeschrieben, so gut es in der Eile ging, habe akustische Verständnisfehler in Kauf genommen, Jean Ziegler spricht sehr engagiert, mit Nachdruck – und mit Schweizer Akzent, man muss manches nachrecherchieren, insbesondere Namen und politische Fachbegriffe. Im übrigen kann man wohl alles in seinem Buch nachlesen. (Es war aufgrund der Sendung im Moment vergriffen.) Aber gerade die mündliche Darstellung, so wie sie live zustandekam, war derart packend, dass sie einem lange nachgeht. Man möchte alles rekapitulieren, auch den Impetus aufrecht erhalten und in manchen Punkten weiterforschen. So wird diese vorläufige Abschrift gewiss noch korrigiert und ergänzt.

Die Markus-Lanz-Sendung ist abrufbar HIER 37:44

Über Jean Ziegler vorweg Wikipedia hier. (Auch um die möglichen Kritikpunkte an seiner Person zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht zu relativieren.) Im folgenden ML = Markus Lanz, JZ = Jean Ziegler.

ML Jean Ziegler ist bei uns, den wir nochmal sehr herzlich begrüßen in unserer Sendung. … er ist vorhin zitiert worden, auf einmal sagt der: Wahnsinn, der letzte Kommunist Europas heute bei uns in der Sendung. Sie haben dann gesagt: (versucht schwyzerisch) na, so wenige sind wir nicht.

JZ Hoffentlich nicht!

ML Ah es gibt noch andere Kommunisten, ja?, die Sie kennen…

JZ Der Kommunismus ist die … ist der Horizont der Geschichte, es hat ihn ja noch nie gegeben, außer in der französischen Kommune, März, Mai 1890, sonst hat es den nie gegeben. Aber im Manifest steht: Von jedem nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen. Das ist glaub ich die Norm, die die Zivilisation bedeutet, der Horizont…

ML Sie haben ein kleines, feines Büchlein gemacht „Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin“. Was ist denn so schlimm am Kapitalismus, abgesehen davon, dass Sie gar keine Enkelin haben…

JZ Was ist so schlimm am Kapitalismus? Alle 5 Sekunden verhungert ein Kind. Und in 10 Jahren? Das ist die FAO Spezialübersetzung der Vereinten Nationen, die die Opferzahlen gibt, also in 5 Sekunden verhungert ein Kind, und in 10 Jahren und derselbe …., der die Opferzahlen gibt, jeden April, sagt, dass die Weltlandwirtschaft, so wie sie heute ist, problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Also … sind 7,3 … also das Doppelte normal ernähren könnte, wenn Nahrungsaufnahme nicht von Kaufkraft abhängen würde. Das Kind, von dem wir reden, und stirbt, wird ermordet. Punkt.

ML Das ist einer Ihrer berühmten Sätze, die Sie häufig sagen, Herr Ziegler , sagen Sie, erklären Sie uns das einmal, also: wenn Sie sagen, da wäre genug da für 12 Milliarden, wie könnte das praktisch funktionieren?

 (Klappentext)

JZ Erstens einmal: Hunger ist menschengemacht und könnte von Menschen morgen aus der Welt geschafft werden. Deutschland zum Beispiel ist sicher die vitalste Demokratie dieses Kontinentes, die dritte Wirtschaftsmacht der Welt, das Grundgesetz gibt keine Ohnmacht der Demokratie (???), das Grundgesetz gibt alle Waffen in die Hand den freien Bürgerinnen und Bürgern, diese Strukturen zu brechen. Gestorben, – ich war 8 Jahre lang Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, ich hab wirklich viel Schreckliches gesehen: gestorben sind immer dieselben, von der Mongolei bis Jokotan, Guatemala, Favela in Brasilien, Kalampas in den Smoky Mountains, in Manila usw. ich sage was Einfaches: wenn man redet, marschiert, denkt, träumt, verschwendet man, verausgibt man Lebensenergie, die muss ersetzt werden durch liquide oder Nahrung und diese Nahrungszunahme wird gemessen wissenschaftlich in Kalorien, in einem subtropischen Klima ein Erwachsener braucht pro Tag 2200 Kalorien, und wenn diese Kalorienzufuhr nicht kommt, dann zerfällt – es ist ein fürchterliche Agonie – (ML Agonie, also Todeskampf) ich bin ja in einem glücklichen Milieu aufgewachsen in der Schweiz, wie viele viele Leute immer noch, dass der Tod im ein Verlöschen, langsames, friedliches Verlöschen ist, es stimmt nicht: zuerst werden die Fett- und Zuckerreserven des Körpers aufgebraucht, dann kommen die Infektionen in den Metabolismus, das ist schon sehr sehr schmerzvoll, dann bricht das Immunsystem zusammen, dann bricht das Muskelsystem zusammen, da sehen Sie ja, Süd-Sudan, oder jetzt im Jemen, im Fernsehen, wenn die Kinder, die wie kleine Tiere im Staub liegen und sich nicht bewegen können, und dann kommt der Tod. Der ist fürchterlich schmerzvoll, und das passiert überall, Tag und Nacht, millionenweise auf diesem Planeten. Es sterben ja etwa 70 Millionen Menschen pro Jahr, verlassen diesen, ja unseren Planeten, Sie werden das auch erleben, ich leider auch, 70 Millionen, von diesen 70 Millionen Menschen, 72 genau, die letztes Jahr gestorben sind, sind 18 Prozent am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben, auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, jetzt! Es war nicht immer so, aber heute, auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, ist der Hunger und seine direkten Folgen immer noch die erste Todesursache, das ist ja absurd, das geht … das Massaker geht vor sich in eisiger Normalität, jeder weiß das, jeder kennt das, und man weiß genau, was die Strukturen sind, die den Hunger…. (nämlich?) das sind zum Beispiel die Börsenspekulationen, auf Grundnahrungsmittel, Sie können in der Deutschen Bank in Hamburg, in der Filiale Reiszertifikate kaufen, auf den Reispreis, auf Grundnahrungsmittel Reis, Getreide und Mais, das sind 75 Prozent Durchschnitt im Weltkonsum, und wenn der Reispreis steigt, oder der Getreidepreis steigt…. also das geht …(gestikuliert raufrunter) . steigt, dann machen die ?nioren ??? Hedgefond Großbank Riesenprofite, und in den kallistesten (?) Städten der Welt, in den Kalampas von Lima z.B., wo die Frauen mit ganz wenig Geld die tägliche Nahrung kaufen müssen für ihre Kinder, da kann sie die Nahrung nicht mehr kaufen, weil sie sie nicht bezahlen kann.

ML Eine Geschichte würde ich gern noch ansprechen, weil uns das auch alle und ganz unmittelbar betrifft, – Kongo! Unsere Handy, Mobiltelefone, Laptops, alles was wir an mobilen Endgeräten, Smartphones usw. benutzen – das Coltan, das in diesen Geräten drin ist, wird vorzugsweise dort abgebaut, und bevor wir gleich und kurz darüber sprechen, was Sie dort gesehen haben, schauen wir mal einen ganz kurzen Ausschnitt an, der mal dokumentiert, unter welchen Bedingungen dieser Rohstoff dort abgebaut wird, bitteschön.

FILM ab 44:23 HIER (Tagesschau 8.12.2016)

So, sind das die Bedingungen, unter denen heute dort Coltan abgebaut wird?

JZ Ja, mein Buch heißt: „Was ist so schlimm am Kapitalismus?“ und das ist ein Beispiel davon. Das ich gesehen habe. Ich habe kein Handy, werde nie eines haben, wegen… was ich gesehen habe. Sie habens richtig gesagt: Coltan 80 %, 81 % des Coltans der Welt dieses Metalls wird abgebaut im Ost-Kongo Nor Ituri usw. Unter folgenden Bedingungen:

[Zum Verständnis des Textes siehe auch unten im Original des Buches*]

Das Coltan ist in sehr brüchigem Gestein, und deshalb sind die Schächte sehr eng, und da können nur Kinder, 10-, 12-jährige Mädchen, Buben, können da herabgelassen werden, und werden an Seilen herabgelassen, 10, 20 Meter, um das Coltan zu schürfen, unter ganz fürchterlichen… Angst! die haben Angst, und es gibt Verschüttungen, die ersticken, werden von Milizen bewacht, – (Milizen, die die bewachen, WARUM?) es ist so, das Coltan … ich habe genug Prozesse am Hals gehabt, damit will ich das ganz genau sagen, es sind einheimische oder indische oder pakistanische oder libanesische Kleinunternehmer, die diese Coltanminen ausbeuten (kontrollieren, ausbeuten), die Milizen bezahlen, die die bewachen, die Kinder terrorisieren, usw. usw. dann wird das Coltan verkauft an die Scheka-Minen, an die staatliche Minuperve-Gesellschaft in Konka? , ein ganz korrupter Verein, und die verkaufen das Coltan dann weiter an Glencore, an Freeport, an die großen, weltweiten Minenkonzerne, die wollen ja nichts zu tun haben mit Kinderarbeit, sonst haben die ein Problem, in Zivilgesellschaften (ist imagemäßig schlecht ), Coltan auf Lastwagen, nach Ruengeli Goma, die ruandesische Grenze, durch Ruanda, Kenia, Mombasa in den Hafen aufs Schiff, Rotes Meer, Suez-Kanal usw. Und dieses Coltan – wir bezahlen es mit dem Leben der Kinder, kann man sich fragen, es ist alles bekannt, was die Kinder erleben, und ich sags noch einmal, es könnte mein Kind sein, Ihr Kind … und trotzdem, die Rattenfänger, diese Minenbarone, die rekrutieren in dem Riesenlande, ?kiu z.B., bei den Baforero, den Bashi, den großen Kulturvölkern, die da im Elend leben. Die Kinder wissen um den Schrecken, der sie erwartet, die Mütter auch, aber die Kinder wissen, wenn sie nicht daher herunter gelassen werden, und diese Angst ertragen, und dem Rattenfänger folgen, dann stirbt die Familie am Hunger zu Hause, ja?

ML Aber wie kann man das denn verhindern? 47:33 (bis 50:05)

JZ Aber jetzt hat es Hoffnung gegeben, ich komme wieder vorbei, wenn ich das sagen darf: der Obama in seiner letzten Amtszeit – unter dem Druck des Black Caucus , also der schwarzen Repräsentation des Repräsentantenhauses und auch der sehr lebendigen amerikanischen Zivilgesellschaft, die ist ja sehr vital, hat ein Executive Order, also nicht ein Gesetz, das durch den Kongress geht, eine Executive Order Conflict Minerals, hat also verboten, dass Coltan Conflict Minerals, das unter so fürchterlichen Bedingungen geschürft wird jeden Tag, der wax(?) Zutritt wird verboten in Amerika. Conflict Minerals!

ML Okay, also so könnte es gehen

JZ Aber was dann passiert ist … Glencord , was sag ich – mein Buch ist ja dazu da zu zeigen mit Beispielen nur Beispiel: die Allmacht multinationaler Konzerne, die Hierarchien des globalisierten Kapitals – Glencord, Rio Tinto, Freeport usw. usw. die haben mobilisiert, und haben gegen die Regierung des stärksten Staates der Welt, das müssen Sie sich vorstellen, nicht gegen Albanien oder die Mongolei oder Malawi, sondern sie haben Washington gesagt: so geht das nicht! Wir werden an unserer Profitmaximierung gehindert, das Gesetz nehmen wir nicht an, Trump ist an die Macht gekommen, am dritten Arbeitstag hat er das Gesetz liquidiert. (Okay.) Ersatzlos gestrichen! Und das ist die Situation, und diese Schrecken – der Film ist ganz konkret! (jaja, absolut!) und sehr gut -, dieser fürchterliche Kindermord geht weiter, Tag für Tag, Nacht für Nacht, in eisiger Normalität, und wir brauchen unsere Handys, die Flugzeugrümpfe? Brauchts auch Coltan … usw. (das ist in ganz vielen Stellen drin, genau!) und wir sind irgendwie Komplizen darin. Und es gibt ja eh – ich sags noch einmal! – keine Ohnmacht in der Demokratie – wenn wir jetzt zusammen diskutieren würden – Honduras oder Peking usw. aber in Deutschland, im Herzen Westeuropas, in der vitalsten Demokratie gibt es keine Ohnmacht, das dürfen wir nicht tolerieren!!!

ML Vielen Dank! Verstanden. Herzlichen Dank. (50:06) (Beifall) Wahnsinn! (Beifall) Frau Dreier, sie wollten kurz…

Malu Dreier: Ja, ein Wort nur, ich wills nicht aufhalten, aber ich finde schon, dass Herr Ziegler recht hat, dass wir eine wirkliche Verpflichtung haben, in Deutschland und international mit dafür zu sorgen und immer wieder die ganze Kraft dafür einzusetzen, egal, ob es um das Thema Rüstungsexport oder um solche Sachen: Kinderarbeit kann man im Grund nur, ja, ausrotten, wenn man international es stemmt, in gemeinsamen Aktionen, Vereinbarungen, es muss einfach unsere Verpflichtung bleiben, und da bekenn ich mich auch dazu, weil ich wirklich finde, dass wir nicht einfach nur konsumieren können, ohne zu verstehen, was dahintersteht. Wir müssen darauf schauen, wo kommen die Produkte her und wir haben auch unsere Pflicht, dafür zu sorgen, uns international dafür stark zu machen, dass das abgeschafft wird. Kinderarbeit darf es auf der Welt nicht geben! (51:04)

 Beispiel Kongo:

Vorweg: hier (Literaturfestival Litcologne)

Auch dieses Interview sollte man kennen: hier (Aargauer Zeitung)

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Und wie geht’s weiter? Eine Möglichkeit (auch ich habe Enkel/innen):

 ISBN 978-3-10-397401-0

Von den Merksätzen auf Seite 295 sei nur ein einziger zitiert (s.a. hier):

Heimat ist dort, wo es nicht egal ist, ob es mich gibt.