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Vom Kosmos

Nominalismus: was schert mich das? Und auch: was lehrt mich das?

Schall und Rauch? Goethe „Faust“

Das Weltbild meiner Kindheit (ich liebte die Tiere, also: dies musste alles wahr sein):

Heute beginne ich aber mit Wikipedia: HIER über den Universalienstreit. Oder auch: Nominalismus. Ich: immer in grün.

aus Wikipedia a.a.O.

Auch dies sei zunächst dahingestellt. Ich zitiere aus einem Text über den Philosophen Hans Blumenberg (unter Weglassung der Quellenhinweise, außerdem: statt ß meist ss, unerwähnt: kleine Umsetzung eines Textbausteins). ZITAT (Wetz S. 31 bzw. 30):

In der vorchristlichen Antike galt der Kosmos als Inbegriff des schlechthin Möglichen; außer dem Wirklichen war nichts möglich. Auch im christlichen Mittelalter von Augustinus bis Albertus Magnus und Thomas von Aquin soll das »Was der Welt«, deren essentieller Bestand, für Gott als Schöpfer alternativlos gewesen sein. Dessen Willensmacht bezog sich lediglich auf das »Dass der Schöpfung«, deren existentiellen Bestand: Es lag in seiner Macht zu entscheiden, ob die Welt sein wird oder nicht, aber nicht, welche Gestalt sie haben soll.

All diese Grundaussagen sind nach Blumenberg im spätmittelalterlichen Nominalismus fragwürdig geworden.

Der theologische Absolutismus des spätmittelalterlichen Nominalismus verkehrte das zeitlich vorausgehende System des mittelalterlich-scholastischen Rationalismus gewissermaßen in sein Gegenteil. Dort wurde behauptet, was hier in Abrede gestellt wird. Im Hochmittelalter wurde das Ganze der vergänglichen Schöpfung noch als sinnvoller Ordnungszusammenhang von beruhigender Beständigkeit, Verlässlichkeit und Wohlgeordnetheit vorgestellt. Dieses Ganze hatte den Charakter eines hierarchischen Stufenbaus, an dessen Spitze der Mensch stand, der in der Ordnung des Wirklichen eine Vorzugsstellung beanspruchte, da er sich als Krone der für ihn eingerichteten und zu seinen Gunsten disponierten Welt betrachten durfte. Zugleich sah er sich durch seine Gottebenbildlichkeit in den Stand gesetzt, Gott und die Welt sicher erkennen zu können. Seine Gottebenbildlichkeit war Garant für die Zuverlässigkeit seiner Gottes- und Welterkenntnis, denn Gott ebenbildlich zu sein hieß, im Besitz eines Verstandes zu sein, der tendenziell mit dem Gottes übereinstimmte.

All diese Grundaussagen sind nach Blumenberg im spätmittelalterlichen Nominalismus fragwürdig geworden. Die sichtbare Welt offenbarte jetzt nur noch einen kleinen Ausschnitt des Gott Möglichen, der seiner Schöpfung jederzeit ein anderes Aussehen geben konnte. Nachdem so Gottes Wille zu höchster Mächtigkeit gesteigert worden war, soll es anschließend zu einem großen Vertrauensverlust in seine Zuverlässigkeit gekommen sein. Wurde Gott aber in seiner absoluten Macht für die Menschen unberechendbar, so konnte auch die Wohlgeordnetheit der Schöpfung sowie die Sonderstellung und Bedeutsamkeit des Menschen nicht mehr länger metaphysisch begründet werden. Der Zuverlässigkeitsschwund Gottes zog einen Ordnungsschwund der Welt und einen Bedeutsamkeitsschwund des Menschen nach sich. Gott, der im Spätmittelalter die Menschheit aller metaphysischen Garantien und Zusicherungen beraubte, war für sie ebenso unbelangbar wie ungreifbar geworden. Mit seiner Macht hatte auch seine Verborgenheit zugenommen. Die »potentia absoluta« ist ein »deus absconditus«. Nun ist ein verborgener Gott aber für die Menschen soviel wie ein toter Gott, denn von Fürsorge für Welt ist bei einem solchen Gott nichts mehr zu spüren. Folgerichtig schreibt Blumenberg: Der nominalistische Gott ist ein verborgener Gott » – und ein verborgener Gott ist pragmatisch so gut wie ein toter«. Oder: »Der nominalistische Gott ist der überflüssige Gott, er kann durch den Zufall […] ersetzt werden.«

Dies bedeutete das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung.

Quelle Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung (2004) www.junius-verlag.de / Seite 30 ff

Die andere Quelle (1920):

Das wichtigste Buch meiner Oma (neben dem „Realien-Buch“), und wenn ich darin las, daraus abmalte o.dgl., schaute sie mit Wohlgefallen auf mich und ersparte sich und mir die weitausholenden und lang andauernden eigenen Predigten… Das kleine Bild – hier in Vergrößerung – hing „in groß & bunt“ über ihrem Bett und beflügelte meine kindlichen Träume unermesslich: das Kind in freundlicher Gesellschaft mit Löwe und Lamm – das könnte doch ICH selber sein. Ich war es. So wie ich auch, in all meiner Hilflosigkeit, jederzeit  „der starke Hans“ oder „der Tannendreher“ war.

 

Fortsetzung Text (Quelle a.a.O. Seite 32):

Dies bedeutete das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung. Die verschärfte Transzendenz des göttlichen Umgangs mit der Schöpfung erzwang gewissermaßen die Immanenz der menschlichen Daseins- und Weltorientierung. Der seit dem Ausgang des Mittelalters von den Ordnungs- und Bedeutsamkeitsgarantien verlassene Mensch sah sich fortan mehr und mehr zur Selbstbehauptung gegen eine rücksichtslose Welt veranlasst. Wenn Gottes Zuverlässigkeit schwindet, seine Allmacht sich das menschliche Handeln restlos unterwirft und schließlich der Mensch sogar seine Bedeutsamkeit einbüßt, dann wird die menschliche Vernunft zwangsläufig herausgefordert, sich durch Abkehr von der Metaphysik auf sich selbst zu konzentrieren sowie die Welt den eigenen Bedürfnissen gemäß verfügbar und beherrschbar zu machen.

Damit wird die innere Logik des Zusammenhangs von theologischem Absolutismus und humaner Selbstbehauptung deutlich: Der spätmittelalterliche Nominalismus mit seinem Willkürgott hatte den Menschen einer solchen Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit der Natur ausgeliefert und in eine derartige metaphysische Unsicherheit gestürzt, dass er nun sein Geschick selbst in die Hand nehmen musste: »Der in der Verborgenheit Gottes seiner metaphysischen Garantien für die Welt beraubte Mensch konstruiert sich eine Gegenwelt von elementarer Rationalität und Verfügbarkeit.« Anders formuliert: »Je gleichgültiger und rücksichtsloser die Natur gegenüber dem Menschen erscheint, um so weniger gleichgültig kann sie ihm sein, um so rücksichstloser muss er selbst das, was ihm als Natur gegeben ist, […] verfügbar machen und als den Spielraum seiner Daseinschancen sich unterwerfen.« So legt der theologische Absolutismus indirekt dem Menschen die Last der Selbstbehauptung auf. Mit dieser These widerspricht Blumenberg der weitverbreiteten Ansicht, dass die Neuzeit mit einem absoluten Neuanfang begonnen habe und in keinem Verhältnis zum Mittelalter stehe. Der Beginn der Neuzeit sei kein absoluter Anfang, weil er irreduzible Voraussetzungen im spätmittelalterlichen Nominalismus habe. Die Neuzeit sei aus einer extremen Nötigung des Menschen zur Selbstbehauptung hervorgegangen, die sich aus dem theologischen Absolutismus herleiten lasse. Repräsentant und Prototyp der auf sich selbst gestellten Neuzeit sei Faust.

(a.a.O. Seite 33)

Damit bin ich mit meiner Abschrift genau an dem Punkt angelangt, der für mich persönlich wichtig war und ist. Warum?

1 ich brauche den großen historischen Zusammenhang, auch, weil ich die großen Narrative, die Bilderwelt des Christentums nicht über Bord werfen kann. Damit verbunden die Welt aller symbolischen Formen samt der Musik.  Und Faust ist das Stichwort, das mich mit den Jahren um 1958 verknüpft (und gewissermaßen versöhnt). 

2 dann – das Wort Verfügbarkeit… (bzw. Unverfügbarkeit) – Resonanz… (nicht zu verwechseln mit Konsonanz, auch Neue Musik gehört dazu.)

3 das Hören (Bach ohne Pietismus)

Nur die folgenden Inhalte als visuelle Wegmarken:

  alle nur möglichen Narrative…

Villanders: Kapelle mit „Fegefeuer“

Man könnte meinen, ich hätte es inzwischen ein für allemal begriffen, nachdem ich ja schon 2020 das entsprechende Blumenberg-Original über die Geburt des schöpferischen Menschen mit Rotstift durchgearbeitet habe. Trotz (oder wegen) meiner Oma habe ich in meiner Jugend ja durchaus kein brennendes Interesse für Kirchenväter entwickelt (Nietzsche hätte mich früher oder später auch davon kuriert). Nur an eins erinnere ich mich: Religionsunterricht in der Oberstufe, Thema Buddhismus – ich hatte schon Laotse gelesen, aber auch Marc Aurel -, und wandte ein, da könne man ja schon alles finden, was dem Christentum Positives zugeschrieben werde, und der Lehrer hob hervor: was fehle, sei die tätige andere (himmlische) Seite: die Gnade. Ich habe nicht weiterargumentiert, – dafür brauche man aber die Sünde, die Schuld, vor allem das Sündenbewusstsein, mit anderen Worten, die ANGST und ein glaubwürdiges Jenseits, die Drohung des Fegefeuers und die Macht der Kirche, all diese Hilfsvorstellungen durchzudrücken, die Möglichkeit, uns „Erlösung von dem Übel“ zu versprechen. Aber in Südtirol habe ich immer wieder daran gedacht. Daher die gespannte Aufmerksamkeit, wenn Augustinus mit dem Gnadebegriff bei Blumenberg auftaucht:

Und jetzt ist das entscheidende Kapitel des Büchleins erreicht, Grund genug, es immer wieder genau hier aufzuschlagen, zurückzugehen, voranzuschreiten… „die Inkongruenz von Sein und Natur … als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen“ zu können.

Quelle:

s.a. hier im Blog unter „Tiere sehen“ (Texel)

Wenn Sie mich aber fragen, was denn die Einleitung dieses Artikels, die Symbolbilder mit den Pferdchen, zur Klärung beigetragen haben, so frage ich zurück, was denn an der Inkongruenz von Sein und Natur so problematisch sein soll? Lesen Sie doch auf der zweiten Seite des eben wiedergegebenen Kapitels VI die Sätze vom Sein der Welt und dessen hypothetischer Ersetzbarkeit, verstehen Sie, weshalb die Debatte über die Allmacht Gottes und über dessen Unendlichkeit eine so existentielle Bedeutung erlangen konnte. Was hing denn für den Menschen davon ab? Wie kam es, dass aus den logischen Elementen  emotionale  wurden? Da steht der leicht übersehene Satz von Hans Blumenberg: „Ich vermag keine Darstellung dieses Transformationsprozesses zu geben. Mir geht es darum, etwas über das Anwachsen der Inkongruenz von Sein und Natur und damit über die Relevanz des Spielraumes der schöpferischen Ursprünglichkeit auszumachen.“

Das Bild der Welt

Das Buch der Natur und mein Mikrokosmos

Vorbemerkung für „Fremdleser“: Ausgangspunkt für mich war ein neues Buch von Hans Blumenberg, das nicht leicht zu lesen ist. Man überlegt also ganz pragmatisch: lohnt sich die Arbeit, der Zeitaufwand, es gibt noch so vieles … (Vorläufig: Antwort ja, unbedingt, aber ich lese nicht von Seite 9 – 409, sondern springe vom Anfangskapitel in solche, die mich unmittelbarer interessieren, also z.B. Leibniz wegen Bach-Zeit Kap.X). Mein Rat an Zaungäste: nach Belieben auszublenden, was nur für mich von Bedeutung ist oder sein soll. Ich erweitere den Motivationskreis, indem ich mich an Geertz erinnere, der mich in früheren Jahren fasziniert hat, in den 90ern etwa, ansetzend bei „Dichte Beschreibung“ und dem Hahnenkampf auf Bali. Wie immer verbunden mit der Frühzeit der eigenen Interessenerweiterung, in den letzten Schuljahren. Daher beginne ich mit dem Buch von Mersmann, aber nicht inhaltlich, sondern mit dessen Widmung: sie suggeriert, dass meine „Rolle in der Gesellschaft“ damals nicht nur ein Hirngespinst war, sondern früh ein gewisse Bestätigung von außen erfuhr (ohne auch nur im geringsten politisch motiviert zu sein). Ich wollte größere Zusammenhänge „beherrschen“.  Der Titel-Zusatz „in der abendländischen Kultur“ war entscheidend. (Das Buch hatte ich mir aussuchen dürfen!) Man lebt ja nicht freiwillig so isoliert wie heute – nach einem Jahr Corona und der Gewissheit, dass diese Zeit noch andauern wird. Was half damals wie jetzt? Lesen, Denken und Musikhören.

1958 -1960

Und wenn ich noch einmal 10 oder 12 Jahre zurückgehe, so sehe ich, wie der Blick aufs große Ganze zuerst angeregt wurde (abgesehen von Grimms Märchen und Heldensagen und nicht zuletzt vom alltäglichen Blick aus dem Wohnzimmerfenster meiner Großeltern auf die Porta Westfalica):

Ende der 40er Jahre

In meinem vorletzten Bielefelder Schuljahr begann ich vor einer Langeoog-Fahrt eine neue Privat-Kladde, die meine Interessen erweiternd begleiten sollte, was durch die Inhaltsangabe am Ende bestätigt wurde. Fast alles daraus ist mir bis heute in Erinnerung, hat mich also ein Leben lang begleitet. Es gab auch andere Kladden (z.B.Thema Musik).

.     .     .     .     . .     .     .     .     . 15 Jahre später Und 5 Jahrzehnte zu spät

Vielleicht sollte ich heutzutage lieber dem Verschwinden einer Illusion nachgehen, indem ich einigen roten Fäden folge, die das Labyrinth immerhin zu strukturieren scheinen.

An Ariadnes Stelle sehe ich Hans Blumenberg, der den Terminus „absolute Metapher“ verwendet, wo andere vom „Weltbild“ sprechen oder etwas unbedarft von der „Mutter Natur“. Franz Josef Wetz schreibt in seiner Monographie über Blumenberg, er habe den Terminus eingeführt zur Kennzeichnung jener sprachlichen Bilder,

die semantische Gehalte umfassen, welche sich der Ausdruckskraft der begrifflichen und objektivierenden Sprache von Philosophie und Wissenschaft entziehen. Ihm zufolge gibt es eine Dimension des unbegrifflich Metaphorischen, die sich nicht ins begrifflich Logische übersetzen läßt.

Worum handelt es sich dabei? Über die Bedeutung absoluter Metaphern gibt nach Blumenberg vor allem ihre Funktion näheren Aufschluß. Allgemein diebnen absolute Metaphern der Beantwortung höchster und unabweislicher Fragen, die sich jeder wissenschaftlichen Klärung entziehen: »Absolute Metaphern beantworten jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.«  (PM, 19) Blumenberg unterteilt diese Fragen in theoretische Totalitätsfragen und pragmatische Orientierungsfragen. Absolute Metaphern haben demnach eine »theoretische« (PM, 62) und zugleich eine »pragmatische« (ebd.) Aufgabe. Ihre theoretische Funktion besteht im Aufschließen von Totalhorizonten. Absolute Metaphern »geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität« (PM 20). Sie lassen ein Bild von der Totalität der Wirklichkeit entstehen. Zu solchen Welt-Bildern zählen die Vorstellungen von der Wirklichkeit als Polis, Lebewesen, Theater oder Uhrwerk. Diese und ähnliche Metaphern beanspruchen nicht, einzelne Sachverhalte der Wirklichkeit darzustellen, sondern die Totalität der Welt selbst zu vergegenwärtigen. Selbstredend genügen sie nicht dem Anspruch des strengen Denkens, und dennoch müssen sie ihm genug sein, wenn nicht auf eine Vorstellung vom Ganzen verzichtet werden soll. So bieten uns vertraute sprachliche Bilder eine Anschauung von der unbegrifflichen Totalität der Wirklichkeit, an deren Stelle sie treten. Zwar haben Metaphern – wie als „Restbestände“ – auch als „Grundbestände“ die Funktion eines bloßen „Ersatzes“; aber mit dem wesentlichen Unterschied, daß letztere für etwas stehen, das sich weder in Begriffe überführen noch durch Begriffe angemessen erfassen läßt: die Wirklichkeit im Ganzen.

Nun veranschaulichen absolute Metaphern aber nicht bloß die ungegenständliche Totalität der Welt, sie fungieren darüber hinaus als Orientierungsmuster. Zum Gehalt absoluter Metaphern gehören Wertungen, die bestimmte »Haltungen, Erwartungen, Tärigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten« (PM, 20) freisetzen. Absolute Metaphern sind sonach auch Ausdrucksformen von »Grundhaltungen und Verhaltungen« (PM, 62). Sie repräsentieren und orientieren zugleich.

Quelle Franz Josef Wetz : Hans Blumenberg / zur Einführung. Junius Verlag Hamburg 2004 / Seite 20f [Die Signatur PM verweist auf das Buch „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, Bonn 1960]

Was macht mir Probleme?

Ich war mit der Vorstellung erwachsen geworden (Adorno: Philosophie der Neuen Musik 1958): „Das Ganze ist das Unwahre“, und es bedurfte eines speziellen philosophischen Zuspruchs, die Wirklichkeit (insgesamt) oder gar „die Totalität der Welt“ noch ins Auge zu fassen. Die Welt splitterte sich allenthalben auf, lauter starke Impulse, aus Musik wurden Musikkulturen, aus allen Richtungen kamen wichtige Botschaften, der Begriff „Weltmusik“ tauchte bei Stockhausen auf, eine individuelle Suggestion, wer festen Boden unter den Füßen brauchte, konzentrierte sich doch immer wieder und immer noch auf das Einzelne, auf ein Werk, ein „opus perfectum et absolutum“. Und über der Einleitung des oben genannten Adorno-Buches stand das strenge Hegel-Wort:

Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern … mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.

Aber was ist Wahrheit?

Ich weiß nicht, ob es nun Zufall war, dass ich das Wort „Entfaltung“ wählte, als es beim Gegenstand meiner Dissertation um das Gegenteil einer Opus-Musik ging, ein Melodiemodell der arabischen Musik. Diese Musik ist eine andere Welt, aber zweifellos eine Welt, und zwar eine, in der man sich entfalten und bewegen konnte; zumindest gedankliche Wegzehrung kam von Leuten wie Feyerabend oder Watzlawick. Die eine Welt ist demnach so wirklich wie die andere.

Der Sprung in die Ethnologie (Clifford Geertz)

ZITAT Gottovik

Für die Untersuchung der Symbolsysteme einer fremden Kultur schlägt Geertz nun ein Verfahren vor, das er als ,,das beständige dialektische Lavieren zwischen kleinsten lokalspezifischen Details und umfassendsten Strukturen“ bezeichnet. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang explizit auf Wilhelm Dilthey und den hermeneutischen Zirkel, dem zufolge das Ganze aus der Perspektive seiner Teile und vice versa zu betrachten sei. Auf diese Weise gelangt Geertz schließlich zu der These, dass das Verstehen fremder Kulturen prinzipiell mit dem Lesen eines Gedichtes, d.h. der Interpretation eines Textes verglichen werden könne, gilt doch auch hier die gleiche Zirkelstruktur des Verstehens: Die Teile entfalten ihre Bedeutung erst in der Beziehung zum Ganzen, während das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile. Geertz versucht demnach, mit der Hinwendung zur Texthermeneutik dem Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie eine erkenntnistheoretische Grundlage zu geben.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Text- und Lese-Metapher in allen drei genannten Essays von zentraler Bedeutung ist. So zum Beispiel auch in Deep Play, wo Geertz folgendes ausführt: ,,Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.“ [Anm.20] In diesem Sinne versucht auch Geertz,die Bedeutung des Hahnenkampfes über die Schultern der Balinesen zu erfassen, d.h. ,aus der Perspektive der Einheimischen‘ zu verstehen; dafür ist es notwendig, den Hahnenkampf in eine aufschlußreiche Beziehung zu anderen Symbolsystemen der balinesischen Kultur zu setzen. Die von Geertz erhobene Forderung, die balinesische Kultur im Medium ihrer Tänze, Schattenspiele, Bildhauerkunst, Mädchen (!) oder Hahnenkämpfezu betrachten und diese wie Texte im Hinblick auf ihre Bedeutung zu lesen, [Anm.21] setzt einen erweiterten Textbegriff voraus. In diesem Zusammenhang wird nun der dritte hier zur Debatte stehende Essay mit dem Titel Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture relevant. [Anm.22]  Auch dort findet sich die Lese- und Textmetapher, wenn es etwa heißt: Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ,eine Lesart entwickeln‘), das […] aber nicht in konventionellen Lautzeichen,sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist. [Anm. 23]

Quelle Volker Gottowik: Clifford Geertz und der Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie / in: Hans-Martin Gerlach, Andreas Hütig, Oliver Immel (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität. Peter Lang, Sonderdruck 2004, S. 155–167. [Dieser ganze Text online hier.]

Ein kleines Missverständnis wäre zu klären: denn darauf beruht offenbar das Ausrufezeichen hinter dem Wort „Mädchen“ im hier zitierten Text. Der Satz beginnt mit den Worten „Die von Geertz erhobene Forderung“, – dieser aber erhebt gerade nicht diese Forderung, sondern er bezieht sich dabei kritisch auf die übliche Akzentuierung in der Reiseliteratur, leicht ersichtlich, wenn man den Kontext genauer untersucht (siehe im folgenden Scan rechts unten, rot gekennzeichnet: wenn man Bali nicht nur…) :

Quelle Clifford Geertz: Dichte Beschreibung / Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme / Suhrkamp Frankfurt am Main 1987

Und zurück in unsere Welt…

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (Inhalt)

Blumenbergs Kapitel im Buch der Lesbarkeit

I (Rothacker)

II (Cassirer)

III Bibel Augustinus Dante

IV Griechen

V Augustinus Aquino

VI Nikolaus von Cues Bonaventura,

VII Galilei, Campanella

VIII Bacon Bruno Descartes Borelli Spinoza

IX Gracián Schopenhauer Ernst Robert Curtius

X Leibniz

XI Berkeley

XII Diderot Vico Herder

XIII Böttiger Brockes Reimarus Kant Hamann Humboldt

XIV Lichtenberg

XV Goethe

XVI Novalis Gebrüder Schlegel Goethe

XVII Friedrich Schlegel Novalis

XVIII Alexander von Humboldt

XIX Novalis Lichtenberg Flaubert Mallarmé Valéry Benjamin

XX Schopenhauer

XXI Freud C.G.Jung Abraham

XXII Schrödinger Planck Chargaff Miescher Ankel Markl Monod

(Fortsetzung folgt)