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Bachs Vivaldi

Was nicht sein kann und doch geht

Hören Sie doch bitte das berühmte Vivaldi-Konzert so, wie es im Original geklungen haben könnte: HIER

Oder springen Sie in den rasanten letzten Satz und achten Sie dort ab 8:25 auf die Melodie der zweiten Solo-Geige. Wie deutlich soll sie sein? Und wie expressiv?

Und versenken Sie sich dann in Bachs Orgelfassung desselben Werkes:

Das Werk in der Orgelfassung hören Sie extern z.B. HIER

Oder wie folgt, – falls Sie lieber die schönen Bilder sehen und auch den Künstler bei der Arbeit beobachten wollen:

Mir geht es gleich um den Anfang, siehe oben in den Noten, in der zweiten Zeile im drittletzten Takt: nach den Sechzehnteln die Achtel in der Oberstimme, die lang gehaltenen Töne im „Unterbau“, – kann das denn so von Bach gemeint sein, dass man nur noch den Unterbau hört, aber kaum noch die einzig bewegte Oberstimme? Muss man sie nicht auf einem eigenen Manual / Register, wie auch immer, um jeden Preis herausheben? Hier und bei anderen Stellen.

Oder auch im letzten Satz ab etwa 9:40, wo uns im Original der Klangzauber der Violinen erfasste: die starke Melodie der zweiten Geige, eingewebt ins Tongeschwirre der ersten, aber doch durch legato gut hervortretend. Wo bleibt sie auf der Orgel?

Solche Probleme können einen durchs ganze Leben begleiten. Ich habe das Vivaldi-Konzert kennengelernt durch eine Aufführung, in der ich die zweite Sologeige spielte, vielleicht 1956 oder 57, bei Bielefeld, (jawohl!) in Jöllenbeck, die Leitung hatte ein netter Kantor namens Vollmer. Ich begriff, dass man in der Begeisterung für das schöne Thema höllisch aufpassen muss, es nicht expressiv zu dehnen, sondern haarscharf im Takt zu bleiben. Es war ein tüchtiges Laienensemble, aber vermutlich spielte man damals Barockmusik grundsätzlich etwas ruhig, und ganz besonders in Jöllenbeck. Als ich es Jahrzehnte später in Solingen an der Orgel hörte – von Konrad Burr, dem ich umblätterte – fand ich es viel zu langsam und war der Ansicht, dass man bei der oben wiedergegebenen Stelle den „Unterbau“ einfach nicht durchhalten dürfe, sondern in wenige Akzente auflösen müsse, um die Oberstimme hören zu lassen usw., ich hatte ein unbehagliches Gefühl, und habe es bis heute, wenn ich Bachs Orgelfassung höre. Kann man ihn denn kritisieren? Völlig klar war, dass es mindestens zwei Tempi für dieses Werk gab. Selbst sehr bedächtige Ostwestfalen würden als Streicher niemals ein auf der Orgel durchaus vernünftiges Tempo wählen. Und heute auch dynamisch flexibler spielen, in den 50er Jahren untergrub das Diktum der „barocken Terrassendynamik“ und die Vorstellung vom richtigen „Bachstrich“ so manche inspirierte Interpretation.

1975, JR 1985

Das ist grundlegend, lässt aber meinen recht neuen Scanner etwas alt aussehen. Einen deutlich neueren Stand haben wir, wenn wir ins MGG (neu) Personenteil BACH (1999 Werner Breig) schauen:

Jetzt würde ich mich noch im Internet kundig machen, was es über Vivaldis op.3 mitzuteilen gibt, etwa hier, merken wir uns also: Konzert Nr.8 a-moll, RV 522, es war die Vorlage für Bachs BWV 593. Und diesen hochbegabten Prinzen Johann Ernst sollte man gesondert zur Kenntnis nehmen: vielleicht erst einmal in lexikalischer Kürze hier, dann in netter journalistischer Form hier.

Da ich immer mal wieder von einem Bach-Fieber erfasst werde, und zusätzlich zu meinen Cis-Werken des Wohltemperierten Claviers, die ich seit Monaten übe, kamen heute von RG Vorlesungsunterlagen zu den Brandenburgischen Konzerten, und ohne direkten Zusammenhang fiel mir das Wort „Vivaldi-Fieber“ ein, das ich irgendwo gelesen hatte. Was bedeutete Vivaldi denn genau für Bach, was hat er da gelernt? Das war auch ausschlaggebend für die Brandenburgischen Konzerte! Und ich erinnerte mich an die eigene Dummheit, dass ich Vivaldi nicht begriffen habe, wann war das etwas? vielleicht 1965, als Franzjosef seine vier besten Schüler das Vivaldi-Konzert für 4 Geigen aufführen lassen wollte, an vielleicht 2 Proben erinnere ich mich: und ich habe mich unglaublich gesträubt, nicht recht geübt usw. weil ich die Musik so unbedeutend fand. Dieser dümmliche Umgang mit Vivaldi war damals noch weitverbreitet („V. hat nur 1 Konzert geschrieben und das 100mal!“). Damals hatte der Hype um die „Vier Jahreszeiten“ noch nicht eingesetzt (das begann erst mit Nigel Kennedy). Gut, ein massenpsychologisches Seminarthema. Also: jetzt kam ich auf das Buch von Geck, darin musste etwas stehen, was mir im Augenblick – auch „psychologisch“ – auf die Beine hilft. Auch: das aktuelle Bach-Fieber auszunutzen, und da sehe ich: die entscheidenden Stellen habe ich schon vor 15 Jahren bei Martin Geck rot vorgemerkt. Manche Wege muss man mehrmals im Leben entdecken.

Und genau dank des soeben genannten Namens „Ahnsehl“ bin ich per Internet überhaupt darauf gekommen, in den analogen eigenen Bücherschrank zugreifen. Was mich ermächtigt, Martin Geck weiter zu zitieren:

Peter Ahnsehl äußert dementsprechend die Vermutung, Bach müsse das „etwa 1712 oder früher einsetzende Vivaldi-Fieber“ aus einem „so weltoffenen Hof wie dem Weimarer unbedingt [von Anfang an] zur Kenntnis genommen haben“. Was die genannten Vivaldi-Übertragungen angeht, so ist deren hohes Maß an Souveränität für Klaus Hofmann Anlaß zu der Vermutung gewesen, Bach habe damals „wohl selbst bereits über kompositorische Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt oder sich zumindest mit der Gattung nicht zum ersten Mal auseinander[ge]setzt.“ Da diese Bearbeitungen augenscheinlich Auftragsarbeiten für einen der beiden Weimarer Dienstherren darstellen, sagt ihre Entstehungsgeschichte jedenfalls nichts über ihren inneren Stellenwert innerhalb des Bachschen Konzertschaffens aus.

Quelle Martin Geck: »Denn alles findet bei Bach statt« Erforschtes und Erfahrenes Metzler Musik Stuttgart Weimar 2000 (Anmerkungsziffern in meinem Zitat weggelassen)

Man darf es sich also nicht zu einfach machen und sagen, das Vivaldi-Fieber habe Bach auf einen neuen Weg gebracht, und das Datum 1713/14 sei als Wegscheide eines neuen Formgefühls anzusetzen. Ich will mich auch hüten, den anfangs hervorgehobenen starren Klang des „Unterbaus“ aufheben zu wollen, indem die bewegte Oberstimme registermäßig stärker beleuchtet wird. Ist nicht gerade dieser „fast“ ereignislos durchgehaltene Klang das Charakteristikum eines emphatisch betonten Formwillens, ein offensives „Stop and go“, das seine Antwort in der absteigenden Basschromatik und dem parallelen Oberstimmengang der nächsten Zeile bekommt?

Hinzu kommt, dass man in der Orgel kein unbeholfenes Orchester sehen sollte, dem dennoch nachzueifern sei. „Organum Plenum“ ist ein gutes Ideal und spielt im Barock eine Rolle, die einer späten Klangfarben-Ästhetik unbehaglich sein mag.

Noch etwas fiel mir heute morgen auf, als ich den neuen Beitrag der Orgelserie zum Advent aus der Ohligser Kirche St. Joseph (Sebastian) abrief. In unserm Laptop ergab der zweite Satz der Orgelsonate in G-dur eine unsäglich dissonante Kontrapunktik, die mich vermuten ließ, dass man den wirklichen Bass gar nicht hört, obwohl man die Fußarbeit des Organisten visuell deutlich erkennen konnte. Das Phänomen veranlasste mich, eilends zum Computer in meinem Zimmer hinaufzulaufen, der mit einem besseren Lautsprecher-Ensemble ausgestattet ist. Und meine Ahnung bestätigte sich. Das Pedal war mit einem Aliquot-Register gekoppelt, was besagt, dass parallel zu der tiefen Bass-Stimme eine Verdopplung im Abstand Oktav+Quint mitläuft, reine Quint-Parallelen, die also im Obertonbereich der tiefen Basstöne angesiedelt sind und normalerweise schwach wahrgenommen werden, als seien sie deren reale Bestandteile. In Wirklichkeit sind sie durch echte Pfeifen extern „angekoppelt“. In diesem Fall (den ich nicht vorführen kann, zumal ich auch nicht den Organisten denunzieren will, der es garantiert richtig hört) muss man sagen: vom Hörer aus misslingt es, denn er hört die Obertonlinie viel zu stark, zudem („natürlich“) in der falschen Tonart (nämlich in h-moll statt in e-moll), so dass sie mit einigen Tönen der Melodiestimme regelrecht kollidiert. Der reale Bass aber (in der richtigen Tonart) erscheint nur als dumpfes Stör- oder Brumm-Element. Sobald nun die wirkliche 2. Stimme erscheint, ist das tonale Chaos perfekt. In den folgenden Notenzeilen sehen Sie diese parallel zum Bass verlaufende „falsche Stimme“ in roter Farbe notiert und zwar bis genau zum Einsatz der 2. Stimme:

Sonate G-Dur BWV 530 2. Satz

Dies hat nicht mit unserm Thema zu tun, zeigt allerdings die Tücken des Orgelklangs, der im Raum (draußen) leicht etwas andere Wirkungen zeitigt als am Spieltisch, wo die wirklich mit den Füßen gespielte Basslinie auch psychologisch eine so dominierende Rolle spielt, dass man ihr Aliquotregister vollkommen wegblendet.