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Wer stürzt nieder? Millionen?

Wieviel Zeit hätten Sie denn?

Ich war nicht dort, und ich habe mit dem Rücken zum Fernseher gesessen. Ein Banause. Aber für die Großkritik der Großkritikerin der großen deutschen Zeitung habe ich Zeit. Berlin, Brandenburger Tor. Ich raste aus, wenn ich das Wort „Echoraum“ höre oder lese. Ich zitiere nur und wende mich aufs Stichwort in eine andere Richtung: Vergangenheit, Leningrad und so weiter.

Glaubt Petrenko an Beethovens Botschaft? Setzt er sich dem Echoraum der Neunten aus?

Schon der Anfang verheißt: kein langes Fischen im Ursuppentrüben leerer Quinten, zur Sache mit dem ersten Thema. Und das Ende schreit: Hexensabbat! Tschingderassabum! Prestissimo! Zumindest Letzteres steht durchaus so in den Noten, auch Furtwängler lässt es hier anno 1942 brutalstmöglich krachen. Mit dem Unterschied, dass Petrenko von Anfang bis Ende auf die Tube drückt und kaum Temporückungen zulässt, was vor allem dann ermüdet, wenn zusätzlich alles mehr oder weniger gleich laut daherkommt, vorzugsweise sehr laut. Ein Freund stabiler dynamischer Zustände war der gebürtige Sibirier schon immer.

Was soll nun das? Die Assoziation „Sibirien“ in diesem Zusammenhang? Wieviel Zeit ist eigentlich vergangen bei der Stelle, wo Beifall aufbrandet vor dem Brandenburger Tor, mitten im Schlusssatz? „… und der Cherub steht vor Gott, und der Cherub steht vor Gott, steht vor Gott, steht vor Gott, vor Gott, vor Gott.“  30.000 an Ort und Stelle, sagt man, stellvertretend für Millionen draußen im Land. Klatschen sie jetzt für Gott!? Nein, für die erste große Fermate, für das Fortissimo, für den letzten Akkord nach lauter D-Dur und endlich A-Dur, ach! nein: F-Dur, den Trugschluss als Echtschluss nehmend, für seine Länge und die kleine Luftpause. Im Finale Takt 330 (von 940). Das muss es doch gewesen sein!

Wenn die Erwartungen an einen Dirigenten derart messianisch ins Kraut schießen, wie sie zuletzt ins Kraut schossen (wofür Petrenko nichts kann) …

usw. …. usw.

Wollten die Philharmoniker mit ihrem neuen Chefdirigenten der Welt das Monument Beethoven vorführen, damit sie begreift, wie wenig sie damit in Wahrheit anzufangen weiß?

Sieht Petrenko mit Beethoven das Ende der westlichen Welt und Werte gekommen? Und ist das Erschrecken darüber so groß, dass die Musik gar nicht anders kann, als aus ihrem Antagonismus auszubrechen? Ideell sucht Petrenko damit fast Schuberts Nähe – nur dass sein Beethoven leider nicht mehr nach Bruckner und Schostakowitsch klingt. Das Antrittskonzert als Zerreißprobe.

Gewiss, der Gehalt einer Sinfonie lässt sich nicht in Schlagzeilen packen.

usw. …. usw.

Und damit zurück ins Wohnzimmer. (JR mit dem Rücken zum Fernseher.)

Quelle DIE ZEIT 29. August 2019 Seite 39 Hier zuckt keine Wimper unerlaubt Ausgerechnet mit Beethovens „Neunter“ tritt Kyrill Petrenko sein Amt als Chef der Berliner Philharmoniker an. Ganz schön mutig. / Von Christine Lemke-Matwey.

Wollen Sie das folgende kleine Liedchen ein bisschen ernst nehmen? Leicht und locker, das ist klar, – aber auch ein bisschen ernst? Stellen Sie sich vor, Sie singen es als Spaßmacher (Kabarettist) vor einem gefährlichen Despoten, den Sie strunzdumm finden; alle sollen es merken, nur er selber nicht, das könnte Sie nämlich das Leben kosten. Also: ER ist der Esel, und sein Richterspruch im Liederwettbewerb lässt den Kuckuck gegen die Nachtigall gewinnen.

In diesem Sinne: Sie kennen die Terz des Kuckucks und registrieren als adäquate Antwort die aufsteigende, definitive Quart, den Richterspruch, ja, den Richter selbst. Im Bass bei 1:10 aufgespießt. Bitte schön: im externen Fenster hier, ansonsten – dasselbe Beispiel folgt unten noch einmal.

Einstmals in einem tiefen Tal Kukuk und Nachtigall täten ein’ Wett’ anschlagen. Zu singen um das Meisterstück, gewinn’ es Kunst, gewinn’ es Glück! Dank soll er davon tragen.

Der Kukuk sprach: „So dir’s gefällt, hab’ ich den Richter wählt,“ und tät gleich den Esel ernennen. „Denn weil er hat zwei Ohren groß, so kann er hören desto bos, und, was recht ist, kennen!“ 1’10“

Sie flogen vor den Richter bald. Wie dem die Sache ward erzählt, schuf er, sie sollten singen! Die Nachtigall sang lieblich aus! Der Esel sprach: „Du machst mir’s kraus! Du machst mir’s kraus! Ija! Ija! Ich kann’s in Kopf nicht bringen!“

Der Kukuk drauf fing an geschwind sein Sang durch Terz und Quart und Quint. Dem Esel g’fiels, er sprach nur: „Wart! Wart! Wart! Dein Urteil will ich sprechen, ja sprechen.

Wohl sungen hast du, Nachtigall! Aber Kukuk, singst gut Choral! Und hältst den Takt fein innen! Das sprech’ ich nach mein’ hoh’n Verstand, und kost’ es gleich ein ganzes Land, so laß ich’s dich gewinnen, gewinnen!“

Kukuk, kukuk! Ija!

Und nun hören Sie ohne große Vorsichtsmaßnahmen den folgenden Orchester-Satz, den Kopfsatz einer Sinfonie, die dem Despoten Stalin gefallen soll, gefallen muss, – ER darf nicht misstrauisch werden! -, ein fröhlicher Satz, nicht wahr, aber in der Realität, 1945, nach dem unter unsäglichen Opfern gewonnenen Krieg – wie wird Ihnen da???

(Achtung: Event. am Anfang Reklame, überspringen! Der Satz dauert 5:25, – stoppen.)

Die klare Aussage dieses brillanten Musikstückes ist erst Jahrzehnte später publik gemacht worden, diejenigen, die es hätten früher erkennen können (und erkannt haben!), mussten das Mahler-Lied intus haben. Aber wer kannte Mahler vor 1950, zumal in der Sowjetunion? Ganz sicher Dmitri Schostakowitsch und sein engster Freund Iwan Sollertinski (der allerdings 1944 plötzlich gestorben war), Verfasser eines begeisterten Mahler-Buches, ja, und der Dirigent Jewgeni Mrawinski, der die Uraufführung der Fünften von Schostakowitsch leitete. Sie schwiegen also aus unterschiedlichen Gründen.

Letztlich war der Hintergrund der Sinfonie insgesamt der Weltöffentlichkeit unbekannt geblieben, bis der Schweizer Musikwissenschaftler Jakob Knaus im Jahre 2016 in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel veröffentlichte, Überschrift: Der Weiseste der Weisen – ein Esel? In seiner 9. Sinfonie von 1945 zitiert Schostakowitsch an zahlreichen Stellen das Lied «Lob des hohen Verstandes» von Gustav Mahler – darin hat er eine sehr spezielle Widmung an Stalin versteckt.

Online nachzulesen HIER.

Wenn Sie das Quartmotiv des Kopfsatzes im Ohr haben, werden Sie wahrnehmen, dass es im langsamen Satz unterschwellig weiterwirkt: zu der klagenden Klarinettenmelodie, im Untergrund bei den Bässen, Pizzicato, eine Art Ostinato, mit dem angehängten Kuckucksruf – in Umkehrung. Im dritten Satz wieder der entfesselte Rhythmus. Ein karnevaleskes Scherzo, das am Ende in ein großes Unisono der tiefen Streicher ausläuft: Bitte stellen Sie dasselbe Musikbeispiel im externen Fenster und gehen Sie dort direkt auf den dritten Satz: HIER auf 11:08 beginnen, kurz vor 14:03 kommt das besagte (dreitönige) Unisono-Motiv, in den letzten drei Takten des folgenden Notenbeispiels, es will offenbar mit großer Intensität eine Botschaft übermitteln.:

 Zitat: Wir arme Leut‘

Es ist also ein Zitat, den Text dazu findet man in Alban Bergs Oper Wozzeck, folgende Szene. Wenn Sie wollen, im externen Fenster hier (Achtung Reklame am Anfang?).

Bei Schostakowitsch ein Bekenntnis zu den armen Leuten, die sich im Scherzo dem Kirmestrubel des Lebens überlassen haben. Der Beginn des vierten Satzes jedoch präsentiert jenen (und uns allen) die Rechnung, die Übermacht der Mächtigen. Der Publizist Ian MacDonald nannte es Wotans Leitmotiv, – so nach dem Text, der unter dem Youtube-Video wiedergegeben ist:

For MacDonald it is „an open gesture of dissent [that] ruthlessly targeted Stalinism….Wagnerisms, the most prominent being an allusion to Wotan’s Leitmotif in the fourth movement, are probable expressions of the view, outlined in Testimony, of Stalin and Hitler as ’spiritual relatives.'“

Genau genommen bezieht der Komponist sich auf eine Gestalt des Siegfried-Motivs, das Wotan im „Feuerzauber“ am Ende der Walküre aufgreift, es wird anschließend im „schweren Blech“ wiederholt. „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“ (Siegfried wird es tun!) Im folgenden Beispiel ab 4:42.

Wenn Sie die entsprechende Stelle, den Beginn des Satzes 4 in der Schostakowitsch-Sinfonie, einstellen, werden Sie Verwandtschaft der machtvollen oder auch gewaltträchtigen Gesten unmittelbar erfassen. Ich möchte Sie aber bitten, die Aufmerksamkeit ganz besonders auf den Abschluss-Akkord zu richten, bzw. auf das, was sich auf dieser Ebene abspielen wird. Doch zunächst geht es nur um diesen Akkord.

Hören HIER ab 14:03

Es wird Ihnen vielleicht absurd vorkommen, aber genau dieser „Effekt“, über dem im Quintfall erreichten Zielton A (viertletzter Takt des Partiturausschnitts) einen Fortissimo-Sextakkord einschlagen zu lassen, rückt blitzschnell die Finalwirkung einer ganz anderen Oper in den Focus: „Madame Butterfly“.

 die letzten Takte der Oper „Madame Butterfly“ (Puccini).

Es ist derselbe Akkord, der sich nach dem Selbstmord der gedemütigten Frau, nach der groben Unisono-Kadenz des Orchesters, gewissermaßen über den Schlusston wirft, ein Schrei der Verzweiflung. Ihrem Kind bleibt zum Abschied die amerikanische Flagge. Der Spruch auf dem Samurai-Schwert, mit dem die Mutter sich den Tod gibt, lautet: „Ehrenvoll sterbe, wer nicht länger mehr leben kann in Ehren.“

Sie hören es, wenn Sie in der folgenden Gesamtaufnahme ganz auf den Schluss gehen, ab 2:11:55 bis 2:12:57 (= Ende).

Und diese Assoziation wirkt lange nach bzw. dieser Klang bleibt bei Schostakowitsch unter dem anschließenden großen Fagott-Solo liegen, und dieses ist wohl neben dem zweiten Satz (Moderato) die einzige Stelle des Werkes, an der das Individuum ohne Maske auftritt. Eine ergreifende Klage, die an die Englischhorn-Melodie im dritten Akt des Tristan erinnert, die „traurige Weise“. (Das Husten gehört leider zum realen Leben, ist kein Theater.)

Ich hätte Lust, die beiden Melodien nebeneinander-, untereinanderzustellen. Am Anfang könnte Schostakowitsch eine Umkehrung der Hirtenweise im Sinn gehabt haben statt F – C aufwärts den Schritt F-C abwärts,  ganz am Ende – wie bei Wagner – ein Insistieren um den melodischen Kern des „Neapolitaners“. Aber vor allem ist es die Einsamkeit, der Verzicht auf harmonische Anpassungsvorgänge. Nur dieser stehende Klang, wie in Ives‘ „Unanswered Question“ (1908).

Bemerkenswert auch, was darauf folgt, – das Fagott schleicht sich von seinem letzten Ton aus in ein neues Tempo, streift eine Maske über und spielt fürderhin den lustigen Clown, im Dauer-Staccato, wie man es von diesem Instrument aus dem Kinderfunk kennt. Stretta gegen Schluss, Atemnot, [Tod], Sieg! – – – HIER (ab 17:10 letzter Track).

Mir scheint, dass der Biograph Krzysztof Meyer ein ganz anderes Werk gehört hat:

Die letzten drei Sätze werden ohne Pause gespielt. (…) das unerwartet auftauchende kurze und dramatische Largo [scheint] einer anderen Welt anzugehören, die nichts mit der Leichtigkeit und Heiterkeit der vorangegangenen Sätze gemeinsam hat. Das Solorezitativ des Fagotts und die dramatischen Episoden der Blechbläser stören die klassische Harmonie des Werkes (…). Dieser Satz, der nur wenige Minuten dauert, verwandelt sich in ein satirisches Finale, das ganz eindeutig eine Fortsetzung des Scherzos ist. Es ist dies eine fröhliche, heitere Musik, kunstvoll in ihrer Polyphonie und dank des völlig unerwarteten Instrumenteneinsatzes faszinierend.

Geschrieben 1995. Harmlos. Ja, so kann oder konnte man das Werk wohl auch hören; man sollte es vielleicht sogar. 1945.

Aber es geht auch ganz anders. Wenn man eine Neunte hört, die alles andere als harmlos ist, aber auch nicht überwältigen will, sondern Überwältigung reflektiert und ins Groteske wendet.

Niemand stürzt nieder, niemand von all den Millionen, die nichts mehr hören. Weder bei Beethoven noch bei Schostakowitsch.

*    *    *

Rückblick

Es ist seltsam, dass mir dieser Komponist immer wieder begegnet und mich beeindruckt, obwohl ich seine Nähe nicht planmäßig suche…

16./17. September 2005 WDR Kölner Philharmonie, Einführungen zur Sinfonie IV hier (vielleicht immer noch ganz nützlich, obwohl das Wesentliche des Vortrags fehlt, nämlich die klingenden Musikbeispiele und jeglicher Notentext).

9. Mai 2009 SWR – Weiteres also über Schostakowitsch hier (darin auch etwas über den Gebrauch des „Neapolitaners“, vor allem aber über die Sinfonie X ).

2009 Booklet-Text für die CD-Firma TACET über die Klaviertrios hier (auch dieser Text beginnt mit dem „Neapolitaner“, ansonsten handelt er „Von der ersten Liebe, vom schwierigen Leben und vom Totentanz“).