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Kleinigkeiten zu Bach

Die wunderbare (verwundbare) Symmetrie

Es ist Zeit, mal wieder Bach zu bewundern: lassen Sie doch das schöne Menuett aus der E-dur-Partita BWV 1006 mal wieder in Ruhe an sich vorüberziehen, singen Sie es innerlich durch. Ich habe es extra noch nach Takt-Gruppen geordnet umgeschrieben. Sie sehen, wie in Takt 27 der Anfang wiederkehrt, Sie erkennen den gleichmäßigen 4-taktigen Periodenbau, und die Achtel ab Takt 29 können Sie leicht gedanklich umkomponieren, so dass sie den A-Teil von oben – statt ihn in einen Halbschluss zu führen – alternativ und doch ähnlich zuendebringen.

Merken Sie, wie Ihnen die Symmetrie gut tut? Oben 2 Zeilen A-Teil, unten 2 Zeilen Wiederkehr, in der Mitte 4 Zeilen B-Teil.

Ich erinnere mich gut, wie ich diese Partita studiert habe, gleichzeitig mit meinem Freund Klaus Giersch; ich trug mir seine Fingersätze und Auf- und Abstriche sorgfältig ein, weil er sie bereits von unserm Lehrer Franzjosef authentisch übernommen hatte. Da es sich hier um 2 Menuette hintereinander handelt, fragte ich aus irgendeinem Grund noch schriftlich nach, ob wir das erste Menuett nach dem zweiten als Dacapo (und dann ohne interne Wiederholungen) noch einmal spielen sollen. Ich wollte nicht der Dumme sein, falls das stilistisch selbstverständlich ist; irgendwo in einer Orchestersuite war das wohl schon mal vorgekommen, jedoch – die flapsige Antwort war: „wennste willst“… Klar, ad libitum. Ich erwähne das nur, weil über wirklich Wichtiges im Wechselverhältnis dieser beiden Menuette dabei gerade nicht gesprochen wurde. Das war typisch für Geiger, sie kümmern sich um Fingersatz und Phrasierung aller Stücke: aber um sie wirklich zu „studieren“, muss man sie nicht unbedingt analysiert und verstanden haben. Dachte man insgeheim. Man kennt sie ja, man kann sie sogar schon auswendig. – Vielleicht sollte man sich aber einmal produktiv verunsichern und sie anders lesen. Hier ist unsere heutige Übung.

Ich weiß, dass es einen Stolperstein im Ablauf gibt; er wurde von mir listigerweise eingebaut. Der Zweck heiligt die Mittel…  Falls Sie einige Zeit investieren mussten, um ihn zu entdecken, bitte ich um Vergebung. Meine Absicht war, die Attraktivität der Symmetrie auf uns wirken zu lassen, man trennt sich schwer von der Vorstellung, dass gerade dieser wohlgefällige Eindruck unser kritisches Vermögen aushebelt. Es dauert nicht lange, bis man dann sagt, die Form solcher Tänzchen sei doch recht simpel.

Aber schauen Sie nur in der vierten Zeile auf die Takte zwischen 14 und 17! Sie haben vielleicht das Notenbeispiel gar nicht angeklickt, um die Taktzahlen leichter lesen zu können??? Bitte schön.

*    *    *

Und nun die eigentliche Arbeit: Bach im Original. Es ist gar nicht so leicht, den Stolperstein zu identifizieren, es handelt sich um eine Dehnung, fast eine motivische Wiederholung, um ein Viertel verschoben. (Kleiner Scherz: Die Stufe, die man erwartet hat, ist gar nicht da…)

vgl. mit dem Orig. unten (!)

Darauf, den Vorgang so unmäßig zu verdeutlichen, kam ich durch die relativ neue Monographie von Moosbauer, deren Analyse mich nicht zufriedenstellte, obwohl sie in den Details korrekt ist.  Ohne eine solche Analyse analysieren zu wollen, gebe ich sie hier wieder; allein das Unbehagen könnte schon zu musikalischeren Ideen führen.

-pen bestehenden Figurationen den Weg. Kombiniert mit einer kurzen Wiederaufnahme der beiden Anfangstakte zu Beginn der zweiten Gruppe endet der Satz. (Seite 169)

Quelle Bernhard Moosbauer: Johann Sebastian Bach: Sonaten und Partiten für Violine Solo / Bärenreiter Werkeinführungen / Kassel 2015 / ISBN 978-3-7618-2220-3

Was mich stört, ist das bloß Buchhaltērische einer solchen Beschreibung. Schon der Hinweis, dass Bach „auf das Mittel des zur Differenzierung gebrauchten Wechsels des Tongeschlechtes beim zweiten Teil eines Paares gleichnamiger Tänze verzichtet“, regt mich auf. Niemand weiß, worauf Bach verzichtet, wenn er das schreibt, was er schreibt. Und erst recht verwendet er keine „Bausteine“, um dann irgendwelchen Figurationen einen Weg zu bereiten. „Kombiniert mit einer kurzen Wiederaufnahme der beiden Anfangstakte zu Beginn der zweiten Gruppe endet der Satz.“

Ist von lebendiger Musik die Rede? Daran gibt es jedenfalls keinen Zweifel, wenn ein wirklicher Analytiker sich ihr zuwendet, – der die notwendigen „Formalitäten“ schnell hinter sich bringt und freilich eines genauen Lesens bedarf („Stau in Takt 12“):

Gewiss gibt es auch hier strittige psychologisierende Deutungen – „faßbare Größenordnungen, die aber vom Sog linearer Energie immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden“, „ein Einsprengsel, wie eine flüchtige Erinnerung formaler Deutlichkeit zuliebe, damit das Menuett nicht haltlos verströmt“ -, aber das ist wunderbar gesagt und verleitet vielleicht zu einem leisen Widerspruch, der in die Musik zurückführt.

Quelle Clemens Kühn: Formenlehre der Musik / dtv Bärenreiter Kassel 1987 / ISBN 3-423-04460-8 (Zitat Seite 54)

Bei Moosbauer, der offenbar seinen Kühn auch gelesen hat, führt leider selten eine Formulierung begeisternd in die Musik zurück. Wie etwa dort, wo Kühn die Formenwelt der Suite beschreibt, darunter die Doppel-Fassungen bestimmter Sätze:

»In der Art der Musette« ist diese zweite Gavotte komponiert. Gern werden Tänzen solche (oft kontrastierenden) Alternativsätze beigegeben (»Bourreé II«, »Menuet II«): formales Vorbild für das spätere Menuett-Trio (= »Alternativsatz«) der klassischen Symphonie (…). Eine andere Fassung desselben Tanzes meinen dagegen die Agréments – ausdruckssteigernde, wie improvisiert wirkende Verzierungen – und das Double. In Bachs h-moll-Partita für Violine solo löst es das ruhige Schreiten des Sarabande in rastlose Motorik auf:

Quelle Clemens Kühn a.a.O. Seite 123 f

Hat sie sich wirklich vom Tanz so weit entfernt?

Die Bourrée, von der eben die Rede war, hier (extern) in der Interpretation von Johannes Moser:

Grundlagen jeder Musik: Bewegung und Gleichgewicht (nach Clemens Kühn)

Zur Idee der Bewegung gehören die Begriffe „Fortspinnung“ und „Sequenz“: Sie knüpfen an den Themenkopf an.

Die Fortspinnung treibt weiter. Aber das geschieht leicht, mehr assoziativ als zielstrebig. In aller Regel unterstützen Sequenzen die lockere Fortführung. (…)

Nicht Symmetrie bestimmt den Fortspinnungstypus, sondern fließendes Weitertreiben, nicht inhaltliche Entsprechung zweier Hälften, sondern motivische Ausspinnung in den drei Teilen, nicht entgegengestellter Kontrast, sondern ungehinderte motivische Energuie: Fortspinnung meint Bewegung  statt Gleichgewicht.

(Kühn a.a.O. Seite 44 f)

Die Gestaltung musikalischer Form verdankt der Tanzmusik Grundlegendes: das Taktprinzip selbst wie auch die Unterscheidung »schwerer« und »leichter« Takte, analog dem schwer-leicht der Tanzschritte; motivisch-rhythmische Symmetrie und die gleichgewichtige Entsprechung von Taktgruppen, analog der Symmetrie der Tanzfiguren. Im periodischen Gestalten der Klassik (…) schlägt sich das am nachdrücklichsten nieder; ob hier allerdings die Abfolge »schwer-leicht« oder umgekehrt »leicht-schwer« das metrische Verhältnis von Takten regelt, ist strittig – und dürfte sich auch einer abstrakten Normierung entziehen.

(Kühn a.a.O. Seite 52)

Das Erlebnis der Symmetrie ist wunderbar, verlangt aber nicht nach endgültiger Fixierung; die Wahrnehmung der Aufhebung einer Symmetrie erscheint nicht als Zerstörung, sondern als Belebung.

P.S. (in Arbeit)

Ich hätte noch ein paar Kleinigkeiten in petto, die ich nie klein finde, wenn es um Bach geht. Die eine ist ganz einfach zu erledigen, obwohl sie bei Moosbacher recht umständlich behandelt wird. Zwei Schlangenlinien am Ende des Grave-Satzes der Sonata BWV 1003 a-moll. Auch er hat bei Greta Moens-Haenen nachgelesen, die allerhand Beispiele für geschlängelte Linien liefert, trifft dann aber wohl die falsche Entscheidung.

Ich will zwar nicht behaupten, dass die etwas unglücklich gezogene Bindung über der dritten, langen Zweiunddreißigstelkette einen anderen Grund hat als Platzmangel. Denkbar wäre es immerhin, dass das bindende Element in Frage gestellt wird, woraus der Gedanke des Bogenvibratos nach vorne tritt: die Viertelnote des Sextintervalls f’/d“ löst sich auf in 8 „staccatierte“ Zweiunddreißigstes und der Ton e“ als Triller-Beginn über dis“ schließt sich an, während, das f‘ zum fis‘ übergeht. Ziemlich absurd, dass sich dieser Übergang als Glissando vollziehen soll.  Die phrygische Sekunde vom f‘ zum e‘ wird ausgehebelt, indem das f‘ vorweg zum fis“ wird, was aber als harmonischer Fortgang denkbar ist (bei Bach auch sonst vorkommt), sogar als letzte Steigerung vor dem Einklang e’/e“.

Und der Fingersatz „unspielbarer“ vierstimmiger Akkorde, wo allen Ernstes die Hinzuziehung des Daumens erwogen wird, weil sowas irgendwo bei Bruhns schon mal vorkommt? Ebenfalls absurd.

Wo steht eigentlich geschrieben, dass man „alle Finger auf der Saite liegen lassen“ soll? Ohnehin muss man die Kunst des arpeggierten Akkordspielens erlernen, und man es so flexibel handhaben wir ein Cembalospieler. Und zwar von unten nach oben, von oben nach unten, auch „zurückbrechend“ auf die beiden Mittelsaiten wie in den Takten 22/23 dieses C-dur-Adagios. Und während man von unten nach oben bricht, findet man auch den rechten Moment, einen Finger der linken von der unteren Saite auf die höhere springen zu lassen. Also man spielt in Takt 158 (s.o.) auf den beiden unteren Saiten die Oktave a/a‘ mit den Fingern 1/3 als massiven Vorschlag und lässt auf den beiden höheren Saiten die Oktave c“/c“‘ mit 1/4-Griff aufjubeln. Man darf hören, dass es schwierig ist, denn etwas Großes ist in Arbeit, die große Kadenz in e-moll und der himmelstürmende Abschlussteil vor dem „al riverso“.

Aber was man dann als zweite Möglichkeit (s.o.) liest, ist – mit Verlaub gesagt – barer Unsinn. Mit Daumenaufsatz, umklammern Sie nur munter den Geigenhals und versuchen Sie nicht nur den Griff zu erzwingen, sondern ihn mal so zwischendurch einfließen zu lassen. Oder im nächsten Beispiel (s.u.): Greifen Sie mal g‘ auf der D-Saite und c“ auf der A-Saite – diesen 2. Finger schön senkrecht stellen, denn er darf die E-Saite nicht berühren, weil Sie noch das leere E dazugesellen wollen – so: gesetzt den Fall, Sie können diesen dreistimmigen Griff schon mal klangvoll spielen, jetzt bitte noch den Daumen aus der Gegenrichtung auf die G-Saite zu klemmen: man kann Sie nur beglückwünschen, wenn Sie über solche Schlangenfinger verfügen und diesen Griff einigermaßen locker aufgesetzt bekommen.  Locker? ja, Sie wollen ja auch noch weiterspielen…

Und was steht da jetzt von „Quintgriff“ — mit Verweis auf den Barré-Griff der Gitarristen? Mein Gott, man sollte womöglich einen der verfügbaren Finger auch noch flach über die Saiten legen, und vielleicht gerade den, der senkrecht stehen soll, damit er die leere E-Saite nicht tangiert — jaja, da gibt es „erschwerende“ Aspekte. Aber zwei Wochen Kerkerhaft wären leichter zu absolvieren.

Einfaches sagen

… ohne zu simplifizieren

Ich hatte mir dies Buch bestellt, zugegeben: gegen einen gewissen Widerstand. Der Titel erschien mir als Anbiederung, im Untertitel nochmal ähnlich: „Eine musikalische Entdeckungsreise für Neugierige“, – fehlt nur noch „speziell für Kids“. Für mich war letztlich der Name des Autors ausschlaggebend. Es ist ein sehr anregendes Buch, das keine überflüssigen Anekdoten referiert, sondern sehr nah an der Musik selbst bleibt und uns vorweg zusichert: jede Musik, von der hier die Rede ist, kann man auf Youtube hören. Stimmt. Was zur Folge hat: von der Lektüre – am stillen Ort – direkt ins Internet… So kommt es, dass man täglich woanders landet, ich zum Beispiel auf den letzten Seiten, im Nachtrag und bei Monteverdi. Über die elektrisierenden Worte „Duo Seraphim“ in dem scheinbar völlig misslungenen Satz:

und danach folgt dann auf dann: dann wieder der Lobgesang „sanctus“ = „heilig“ , nacheinander von dreien vorgetragen, dies dreimalige sanctus auf höherem Ton wiederholt, dann dreimal die Anrufung „Sabaoth“, von Stimme zu Stimme weitergereicht, dann dreistimmig aufgefächert (…)

Ich steige aus und glaube, das wirkt nur überzeugend, wenn man katholisch ist (wie ich nicht) oder wenn man das Werk schon seit Jahrzehnten liebt. Und schon bin ich glücklich.

Siehe auch hier , und was ich damals zu erwähnen vergaß…

Die im Text erwähnte Aufnahme mit dem Allegro Siciliano von Philipp Emanuel Bach, gespielt auf Clavichord, gewiss einem etwas fragwürdig gestimmten, immerhin eine Rarität, findet man hier. Zum Ausgleich sollte man das Mozart-Adagio durchaus auf dem Steinway hören: hier.

Kritisches würde ich zu den beiden Beispielen auf der linken Seite anmerken. Wenn tatsächlich eine Musikliebhaberin sagt, sie empfinde eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Themen, so darf man es ihr abnehmen. Aber es „bedeutet“ überhaupt nichts, – es sei denn, man akzeptiert die Behauptung, jedes Stück sei mit jedem verwandt, nur weil beide eine begrenzte Anzahl von Tönen (innerhalb eines vieltönigen Zusammenhangs) in ähnlicher Reihenfolge verwenden. Ein entscheidendes Indiz der Griegschen Melodie ist wohl die Pendelbewegung, darin die dreimalige Abstiegsbewegung, die im vierten Takt verspätet erfolgt. Der ausgleichende Abstieg der aufsteigenden Smetana-Melodie aber liegt jenseits der wiedergegebenen Takte. Die „Empfindung“ eines Laien muss sich ebenso korrigieren lassen wie die eines Fachmannes.  – Ich erwähne das nur, weil Clemens Kühn eigentlich immer recht hat…

Man betrachte auch – zur Ergänzung – die unterschiedlichen Verwandtschaftsgrade der Melodien, die sämtlich dem Moldau-Thema zum Verwechseln nah zu sein scheinen – oder sogar mit ihm identisch sind: hier.

(Fortsetzung folgt)

Motivation mittels Motiv

Das beste Mittel, den Kopf in Bewegung zu setzen, scheint mir im Moment das Wort Motiv. Egal, ob ich an Musik, Vogelstimmen oder Metaphysik denke. Für letzteres ein Beispiel: auf Langeoog war es, glaube ich, wo ich den Leonardo-Roman von Mereschkowski las, mit großer Begeisterung seitenweise aus dem Tagebuch des Lehrlings  Giovanni (?) abschrieb und begann, nach dem Vorbild seines Meisters am Strand die Wolken und den Vogelflug zu beobachten. „Du erster Urheber der Bewegung“ las ich, selbst bewegt. Und wusste nicht, ob er damit Leonardo da Vinci zitierte oder Aristoteles, auf den ich erst später kam (s.a. HIER). Und wenn ich den Satz heute bei Google eingebe, kommt heraus: Mereschkowski.

Schluss, ich will zur Sache kommen und nicht nur in eine erste Bewegung. Mit leicht verzögertem Raketenstart. Man könnte argwöhnen, dass ich Mühe habe, den Kopf in Bewegung zu setzen. Aber, weiß Gott, das Gegenteil ist der Fall: er ist unentwegt in Bewegung, wie bei den meisten Menschen, die gar nichts draus machen, nicht einmal etwas Aufhebens, wie ich heute. Das Problem ist ja, die Quellen zu kontrollieren oder gar zu kanalisieren. Nehmen wir nur den Raketenstart. Die Mannheimer Rakete muss den jungen Beethoven fasziniert haben: das Klaviertrio op.1 Nr.1 beginnt so, und die Klaviersonate op.2, Nr.1 noch furioser. Für mich sind es die Urbilder eines „Motivs“, zugleich Musterbeispiele, wie ein Thema daraus wird. Beethoven op 2,1 Motiv Klaviertrio op.1 Nr.1Beethoven op 1,1 Anfang Sonate op. 2 Nr.1

Kurios das (mit der Umkehrung der Rakete verbundene) Kopfmotiv im Finale des Klaviertrios, es klingt (nach Alexander Ringer) „wie ganz gewöhnliche Straßenpfiffe“; als Geiger habe ich mir immer gewünscht, der Pfiff käme irgendwann einmal auch im Fortissimo. Aber nach dem Fortissimo macht es ebenfalls einen ganz pfiffigen Eindruck.

Beethoven op 2,1 letzter Satz Klaviertrio op.1 Nr.1Beethoven op 2,1 letzter Satz Ende Finale gegen Ende

Eine echte Pfiff-Parodie wäre es, wenn der Auftakt vor dem hohen Sprung noch mit einem kurzen Schleifer nach unten versehen wäre. Etwa so, aber langsam und heftig:

Beethoven op 1 Pfiff

Mein Vater hatte für unsere Familie folgenden Pfiff eingeführt; ich mochte ihn nicht, aber er funktionierte:

Pfiff 50er

Der Freund nebenan fand den Pfiff seiner Familie viel schöner. Ich auch. Besonders als ich erfuhr, dass er auf die Achte von Beethoven anspielte:

Pfiffe Nachbarn

Noch lieber wäre mir Siegfrieds Hornruf gewesen, weil er auf den hohen Ton zielt; andererseits ist er für einen coolen Straßenpfiff zu lang. Und als Pfiff (ohne Horn) zu adrett.

Vor einigen Jahren habe ich mich über den Kuckucksruf informiert, der hier am Ort verschwunden ist. Hier der Artikel. Ohne besondere Systematik habe ich immer mal wieder Drosselrufe notiert. Die Notiz von 1992 ist interessant. Ich erinnere mich, dass der zweite Ruf der Drossel zuerst nur aus dem Motiv der 5 Töne bestand (Rufterz mit Wechselnote), die an die zweite Zeile eines Kinderliedes erinnern („der Bäcker hat gerufen“). Im Laufe des Sommers kam die Fortsetzung dazu, samt „Ornament“ (s.u. beide Versionen in blauer Farbe), d.h. die „Wechselnote“ wurde zum „Zielton“. Jedes Jahr gab es einen dominierenden Schwarzdrosselsänger in der alten Efeu-Eiche und ein dominierendes Motiv bei ihm. Man notiert natürlich mit Vorliebe das im menschlichen (!) Sinne musikalischste. (Ich werde noch bei Voigt und Hoffmann schauen.)

Kuckuck 1992 Drossel 1992 erweitert x

Wagner hat seinen im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaften Waldvogel-Gesang im „Siegfried“ aus verschiedenen Natur-Motiven kombiniert:

Waldvogel Wagner

Die neueren, mehr oder weniger musikbezogenen Arbeiten über Vogelgesang, etwa von Heinz Tiessen „Musik der Natur“ (1953, 1989) oder Prof Dr A Voigt „Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen“ (1961, 1996) – „musikbezogen“ sage ich auch, weil sie noch Notenschrift verwenden, keine Spektrogramme – benutzen als Vorlage oder Sprungbrett das ambitionierte Buch von Prof. Dr. Bernh. Hoffmann „Kunst und Vogelgesang in ihren wechselseitigen Beziehungen vom naturwissenschaftlich-musikalischen Standpunkte beleuchtet“ (1908, 1973). Der Auszug aus der Inhaltsübersicht zeigt das Engagement des Autors und sein Ziel, die Musikalität der biologischen Tonkünste nachzuweisen.

Hoffmann Vogelgesang a Hoffmann Vogelgesang b

Typischerweise setzt er bei der Motivik an, um von dort zu ausgedehnten Formen zu kommen, wobei er bewusst über den Gesang der Schwarzdrossel  und anderer Sänger hinausgeht, da sie „all die Variationen und Zwischenthemen oft durch kürzere oder längere Pausen voneinander trennen. Das Ganze ist noch lange nicht ein einziges lückenloses Musikstück.“ Dies sei jedoch eindeutig  bei der L e r c h e  der Fall:

Hier haben wir eine völlig zusammenhängende, längere Zeit andauernde musikalische Leistung vor uns. Und wie der Komponist seine symphonischen Sätze aus Motiven und deren Varianten aufbaut, so auch die Lerche! Wer einmal sehr aufmerksam des Lerchenschlags achtet und das Ganze mit scharfem Ohr anhört und zu zergliedern sucht, wird zwar bald auf die Unmöglichkeit einer halbwegs genauen Bestimmung der Intervalle stoßen, aber andererseits – wenn auch mit einiger Mühe – herausfinden, daß dem Gesang der Lerche mehrere in sich abgeschlossene kleine Hauptmotive zugrunde liegen, welche nicht nur in verschiedenen tonlichen Umstellungen, sondern auch in den verschiedensten Zerlegungen, Kürzungen und Verlängerungen immer wiederkehren. (…) Wer wollte leugnen, daß hier die höchste Form des künstlerischen Schaffens der Vögel auf dem Gebiet der eigentlichen Formen- bez. Kompositionslehre vor uns haben: Aufbau eines ganzen, oft lang ausgesponnenen Satzes, nicht aus wüst durcheinander geworfenen Tönen, sondern aus zu Themen geordneten Tongruppen und ihren verschiedenartigen, im Rahmen gewisser Grenzen sich abspielenden Umgestaltungen!

Quelle Prof. Dr. Bernh. HoffmannKunst und Vogelgesang“ Leipzig 1908 (Nachdruck Walluf b. Wiesbaden 1973) Zitat S. 136f

Im folgenden bezieht er überraschenderweise auch den Gesang bzw. das Gezwitscher der Schwalben mit ein. (Die Untersuchungen des „lang ausgesponnenen“ Gesangs der Lerche wurden durch Peter Szöke  anhand von Tonbandaufnahmen und deren Verlangsamung weitergetrieben und direkt mit dem ungarischen Volksgesang in Beziehung gesetzt. Nicht ganz überzeugend.)  Allerdings ist es ein Kurzschluss, die schiere Länge des Zusammenhangs mit der Ausdehnung symphonischer Sätze zusammenzusehen, womit ich nicht eine kunstvolle Reihung der Motive durch Vogelkehlen ausschließen will. Aber für mich ist das Vermögen, über ein gegebenes Motiv hinaus zu einer sinnvollen Verknüpfung mit anderen Motiven (oder Varianten) und einer überzeugenden Form zu kommen, eine Kunst, die sich nicht im Vorübergehen rein verbal bezeichnen lässt. Mein Plan wäre es, quasi spielerisch mit dem Vogelgesang zu beginnen, indem ich jedes Motiv individuell betrachte – egal, ob es mir „musikalisch“ attraktiv erscheint oder nicht. Danach oder parallel dazu würde ich Bach-Inventionen vornehmen, die zweistimmigen, real spielend, mit besonderer Liebe diejenigen, deren Motiv aus einer rollenden oder flexiblen Handbewegung (s.u. bei David) hervorgegangen scheint. Zugleich kontinuierlich ein altes Buch von Erwin Ratz zu Rate ziehen, in dem die Inventionen an den Anfang einer detaillierten Formenlehre gestellt sind.

Und zwanglos werde ich regelmäßig hierher zurückkehren und mich nicht scheuen, die Schnabelbewegungen eines Vogels zu beobachten, als seien es Offenbarungen, bis in die tonlose Phase hinein. Ich meine genau die Schwarzdrossel, die mich schon früher fasziniert hat, nämlich HIER. Und setze das Video dieser Nahansicht noch einmal in diesen Artikel, um Korrespondenzen zu sortieren, auch dies spielerisch, aber nicht ohne musikalische Empathie…

Nah-Ansicht eines singenden Amselmännchens: noch einmal HIER (im Extrafenster, das ein Weiterlesen des später folgenden Textes erlaubt).

Der Schnabel

Die Hand

David Inventionen

Quelle Johann Nepomuk David: Die zweistimmigen Inventionen von Johann Sebastian Bach / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1957 (Seite 6)

Ratz Titel Ratz Inhalt

Arbeitsblatt Blackbird (nicht durch die Meisen irritieren lassen!)

1 0:08 H (= Hauptmotiv) mit der aufsteigenden Quartfolge fis-h-d !  ges.: 3 sec

2 0:18  Auftakt u. fallende kl. Sexte + perlendes glissando aufwärts, ges.: 3 sec

3 0:29 zweimal kl. Sextsprung aufwärts, unterer Ton mit Vorschl., fis-d, ges.: 3 sec

4 0:42 kl. Terz ab plus Ganzton auf, dieser mit „Jodler“, + abfallender Ton tr, ges.: 3 sec

5 0:54 Auftakt + Ganztonreihe 2 Schritte aufw. + Rh. daktyl. ges.: 3 sec

6 1:10 (nach Blackout) H ges.: 3 sec

7 1:21 kleine Terz abwärts u mächtig aufwärts + „Nachbeben“ ges. 10 sec

8 1:33 ähnlich – ges. 5 sec

9 1:42 Sextsprung auf und ab plus große Terz rauf ges.: 3 sec

10 1:50 ges.: 3 sec           ↑ weitere Ausarbeitung ist in Arbeit↓

11 1:57 Schlagen (Repet.), motiv. Abschluss, ges.: 3 sec

12 2:06

13 2:15

14 2:24   Schnabel bleibt aktiv

15 3:00 Gliss.intro + H (ab 3:03) + Nachspann, ges. 13 sec

16 3:22 Schnabel bleibt aktiv

17 3:30

18 3:40

19 kurz was vorweg 3:50 (nach Platzwechsel) ges.: 4 sec

20 3:58    ges.: 4 sec

21 4:04 drei Töne aufwärts Quartenfolge (wie im H) / Ende 4:09

[man muss die Zahl der klaren Töne und der „Effekte“ pro Phrase als gleichwertig behandeln (rechnen), nicht die notierbaren Töne für gewichtiger halten, also:  entsprechende Zeichen erfinden]

***

Wer bei diesem Drossel-Studium auch die Meisen im Hintergrund beachtet hat, die mit wenigen, unermüdlich wiederholten Rufen haushalten, könnte zu der Frage kommen, weshalb ein Vogel überhaupt einen differenzierten Gesang entwickelt, der zwischen festen Bestandteilen und „bewusst“ variablen Elementen wechselt. Ich würde diese Frage zurückstellen. Man muss nur den Formenreichtum unserer Musikgeschichte betrachten, – schon hütet man sich, permanent mit der Warum-Frage zu kommen. Es geht zunächst darum, die Phänomene selbst zu studieren. Und an dieser Stelle haben wir schon genug zu tun, den wechselnden Bedeutungsgehalt des Wortes „Motiv“ zu strapazieren. Der Einfachheit halber verweise ich auf  Wikipedia, aber noch wichtiger wäre ein Überblick über das große Ganze, wie es in einem Büchlein zu finden ist, das jedem musikalischen Menschen, der Noten kann und sich etwas in unserer Musikgeschichte auskennt, empfohlen sei, jedem, im Gegensatz zu dem oben angeführten Buch von Erwin Ratz, das eher für klavierspielende Spezialisten gedacht ist. Nämlich die „Formenlehre der Musik“ von Clemens Kühn (dtv/Bärenreiter), die in klarer Sprache geschrieben und reich mit Notenbeispielen illustriert ist. Wunderbar, wie da im Zusammenhang mit der frühen Mehrstimmigkeit und ihrer Imitationstechnik das „greifbare melodische Teilstück“, genannt Soggetto, behandelt wird (Seite 35):

Im Soggetto […] hat das Motiv seinen Ursprung, die kleinste musikalische Sinneinheit aus zwei oder mehreren Tönen: Das instrumentale Motiv erwächst aus vokaler Musik; seine Wurzel ist das textgeprägte Singen. Aus Soggetto wie Motiv bezieht Musik eine treibende Kraft: „Motiv“ ist das Bewegende (lat. movere = bewegen), eine Keimzelle, die sich auswirken will. Und die Soggetti verkörpern lineare Ströme, die impulshaft den Satz durchdringen.

Wir haben dank unseres besonderen Zusammenhangs gewiss noch andere Impulse im Sinn, die Rufe und die Pfiffe, von denen die Rede war. Und das ist gut so. Signale stehen natürlich „für sich“ im Raum, sonst würden sie ihre signalhafte Wirkung einbüßen. Im Fall der Meisen könnte man sie im Kontext ihres permanenten Standortwechsels sehen: jede Meise tut der anderen unmissverständlich kund, wo sie sich gerade befindet.  Aber können nicht solche melodischen Impulse, sobald ich sie abwandle, unvermerkt erzählenden Charakter annehmen? Ihnen geschieht etwas, auch wenn ich keine Worte hinzufüge. Eine Assoziation. Doch zurück in den Text von Clemens Kühn (a.a. Seite 35f):

Der Bequemlichkeit aber, statt „Soggetto“ gleichMotiv“ zu sagen, sollte man nicht nachgeben. Zum einen würde diese begriffliche Gleichsetzung querstehen zur geschichtlichen Auffassung und Entwicklung. Zum anderen heftet sich „Motiv“ vorrangig an Instrumentalmusik, während ein „Soggetto“ sprachgebunden ist und sich erst durch die Übertragung von Vokalmusik auf Instrumente auch im Instrumentalen findet (…).

Und schon ändert sich der Charakter grundlegend – „ein Soggetto kann, muß aber nicht jene Konzentration, Prägnanz und Charakteristik haben, die ein Motiv auszeichnen“, sagt Kühn im weiteren und gibt die entsprechenden Beispiele, und wir kehren mit frischem Mut zur Charakteristik der verschiedensten Motive im Vogelgesang zurück. Was soll denn der Vogel tun, wenn er keine Worte hat?

***

Trotz dieses irgendwie eleganten Abschlusses möchte ich den heutigen Blog-Artikel, der natürlich im Drossel-Teil noch gar nicht abgeschlossen ist, nicht ohne einen Blick in das Inhaltsverzeichnis des eben zitierten, wirklich ausgezeichneten Büchleins beenden:

Kühn Formenlehre a Kühn Formenlehre b ISBN 3-423-04460-8