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Still: Saunders Sounds

Vom Zuhören

Im Ozean der Klänge: brauche ich ein Boot? einen Kompass? einen Sternenhimmel? Orientierungslosigkeit ist ein schwer erträglicher Zustand.

Aber was erwarte ich denn: sitze ich doch bequem, stehe nicht auf schwankendem Grunde, stelle mir vielleicht vor, dass die Geigerin an einem bestimmten Ort bleibt, inmitten des Orchesters oder davor, den Dirigenten zumindest per Augenwinkel im Blick, sie beide kennen das Werk vielleicht am genauesten nach der Komponistin, die vielleicht  genau so auf die Akteure schaut, wie sie von der Titelseite des CD-Booklets hinausschaut. Aufmerksam, höflich, anders muss ich ihren Blick nicht deuten. Und genügt es nicht einfach zu hören? Aber darauf hat sie selbst sich ja auch nicht beschränkt. Wir sind in der glücklichen Lage, etwas darüber zu erfahren. Die Autorin Martina Seeber erzählt es uns im Booklet:

Das zu erfahren und zwar aus absolut authentischer Quelle, ist (für mich) unerhört wichtig. Aus Wikipedia weiß ich, dass die Komponistin in Edinburgh auch Violine studiert hat, ich habe das neue Werk für Violine gehört, war beeindruckt und weiß zumindest, dass es aus zwei Hälften besteht, die sich stark unterscheiden. Bis 9:36 und von dort zum Ende 17:39. Es interessierte mich auch, dass ein Stück von Beckett mit dem Titel „Still“ Pate gestanden hat. Die Komponistin selbst hat sich darüber geäußert, man kann es ebenfalls im Booklet nachlesen:

Damit weiß ich letztlich schon immens viel über den Hintergrund des Werkes, jetzt kann ich allein bleiben und mich meinen Ohren überlassen. Vielleicht traue ich ihnen noch nicht genug, denn ich höre die erste Minute mindestens 10 Mal, genau gesagt zuerst nur bis 0:30 dann bis 1:07, im Schönklang der Terz breche ich ab. e’/g‘. Ich möchte die seltsame Faszination der Keimzelle durchleuchten. Ohne zu versuchen, dem irgendwie mit ärmlichen Worten gerecht zu werden. Nicht einmal auf das Wort „Mobile“ wäre ich gekommen, und es gefällt mir auch nicht besonders (weil es mich an die Blütezeit des Mobiles in den Wohnzimmern der 50er Jahre erinnert). Ich sollte es eher technisch nehmen… sobald ich etwas weiter bin… ich versuche natürlich zuerst: Gesten wahrzunehmen und bin dabei ganz auf die klangliche Gestalt angewiesen, deren gestischer Sinn sich mir aber nicht ohne weiteres erschließt. Ich bin mit den Gesten der Klassik vertraut. Martina Seeber entnimmt manche Charakteristika der Partitur – „der erste Teil ist ein entfesseltes Furioso, die Spielanweisung des zweiten lautet ‚dark, fragile, warm‘.“  Ansonsten spricht sie auch von Gesten – mir scheint, dass selbst das Bild des Mobiles derartiges vermittelt: „es wippt, wackelt, schaukelt und zittert auf der Suche nach dem labilen Gleichgewicht.“  Aber später auch hier – handgreifliche Gesten:

Die erste Reaktion des Orchesters auf das Solo der Violine ist ein dumpfer Trommelschlag, der sich ins Brummen der Kontrabässe verlängert. Das Orchester setzt ein, als hätte die Energie der Violingeste die Bewegung des Kollektivs erst in Gang gebracht. Rebecca Saunders entwirft Klangräume und –gestendie auf das Solo reagieren. Vor allem die Geräusche der Schlagzeuger, die in zwei Gruppen rechts und links auf der Bühne positioniert sind, erinnern an elementare Naturereignisse. An Stürme, Donner und Erdbeben, aber auch an die impulsiven Akzente und die elastische Zeitgestaltung des asiatischen Musiktheaters.

Aber man sieht, dass es mir leichter fällt, den Worten nachzuspüren, als der differenzierten klanglichen Realität, und ich werde sehr beschäftigt sein, in dieser das zuvor Gesagte wiederzuerkennen. Ebenso alles, was das Mobile betrifft. Und dann  – im zweiten Teil – die Melodie, denn – so heißt es : „Das Grundgerüst dieses langsamen Teils bildet sich in Gestalt einer Melodie, die in ihrer extremen Dehnung kaum zu erkennen ist.“ Wird es mir gelingen? Zum Beispiel auch zu erkennen, dass wie „in mittelalterlichen Büchern die rote Spur des Stifts durch den Text fließt“. Diese Erfahrung fehlt mir, ich erinnere mich nur an die rote Tinte, die Bach in der Matthäus-Passion – ja, wofür verwendet hat? für den Evangelisten, also das Evangelium oder für die Christus-Worte? Martina Seeber zitiert an dieser Stelle Rebecca Saunders, die an die Kalligraphen des Mittelalters erinnert, -„eine schöne Parallele zu der Art, wie sich eine melodische Linie im Orchestergewebe verstecken kann. Durch die zweite Hälfte von Still zieht sich das Material wie ein melodischer Faden. Er verschwindet immer wieder in der Stille und in den Resonanzen des Orchesters.“

Ich glaube nicht, dass ich ihn beim Hören mit bloßen Ohren erfasse (ohne Noten) – würde aber annehmen, das die Bemühung darum bereits eine Ahnung vermittelt. Der Weg jedenfalls ist verlockend.

Ausschlaggebend, gerade diese Aufnahme zu wählen, war die phantastische Geigerin (siehe u.a. auch hier). Und die mit ihr verbundene Genese dieses Stückes.

Und dann kommt noch die Rolle der Kurzgeschichte von Samuel Beckett. „Still ist das siebte der so genannten ‚Fizzles‘. Becketts Text hat Rebecca Saunders bei der Komposition begleitet. In der Stimmung und der Grundhaltung des Violinkonzerts hat er seinen Niederschlag gefunden.“

Sollte ich auch diesen Text kennen, wenn ich das Violinkonzert auf mich einwirken lasse? Es könnte doch auch die Beschreibung der Wirkung auf die Komponistin genügen, die es selbst formuliert hat, siehe unten.

Und vermutlich würde sie uns angesichts solcher Bemühungen noch einen nützlichen Rat: Vergessen Sie alles, und hören Sie einfach zu!

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Nach „Still“ habe ich weitergelesen und -gehört: zwei Bassklarinetten, faszinierende Bewegungslosigkeit. Oder nicht? Ich dachte, Gesten seien ohnehin eher dem Violinspiel zugeordnet, wegen des Gebrauchs der Arme und Finger, nicht dem des Mundes und des vom Atemholen bewegten Leibes.

Eine ganze, aber fast unwirklich zeitlose Minute dauert die erste Geste dieses Duos. in dieser Minute geschieht viel und zugleich fast nichts. Ein schlichter Ton steigt auf und ab, beginnt zu vibrieren, glättet sich wieder wie zu einem elektrisch erzeugten Sinuston, der sich dann aber plötztlich aufraut und an den Rändern Schärfen entwickelt. Beim Hören lässt sich kaum sagen, ob es eine oder schon zwei Bassklarinetten sind, die den sich unablässig verändernden Klang modellieren. Man hält unweigerlich den Atem an, obwohl man lebendigen, vom menschlichen Atem erzeugten Tönen lauscht.

Wunder wirkende Worte. „Spiel, damit ich dich sehe“, möchte man in Abwandlung eines Hörspielspruches anmahnen.

Vielleicht werde ich dann später doch noch von meinen Erfahrungen beim Hören berichten. Oder aber mich einfach in Schweigen hüllen, darauf zählend, dass es beredter ist als alle Worte.

Zumal ich auch die Besprechung eines Buches über Rebecca Saunders neben mir liegen habe, die einer psychologischen Deutung bedarf. Ich will nicht sagen, dass uns das weiterbringt. Es sei denn, in einem Punkt: klarer zu sehen, welche Sprache über Neue Musik hilfreich ist und welche den gutwilligsten Leser ein für alle Mal das Fürchten lehrt. (Ich halte den Text zur Saunders-CD jedenfalls für vorbildlich.)

 Quelle: das Orchester Schott Oktober 2020 Seite 63

Es ist schwer begreifbar, dass ein Rezensent einen solchen Band der Musik-Konzepte und die Komponistin, um die es geht, mit einer solchen, von ihr ungeschützt geäußerten Formel zu fassen kriegen möchte:

Es gibt einfach Klänge, die mich begeistern…Aber eigentlich gibt es nichts zu sagen.

Aha, sie formuliert es definitiv: da ist also nichts als „diese Spannung von Affektivität und Aussagelosigkeit“! Daraus kann ich doch im Nu eine Theorie aufs Papier zaubern, mit einem kleinen Aufwand an weiterer Abstraktion wird mir das jeder abnehmen. Und schon haben wir aus  einer sozusagen alltagssprachlich dahingesagten Kommunikation ein Vademecum der Moderne an die Wand genagelt: bloß weg vom lebendigen Klang der Worte. Das ist doch ein geläufiger Topos in der Neuen Musik, und das bleibt chic: es gibt nichts zu sagen, der Rest ist Stille. Warum nur trotzdem dieses ganze Gerede, und warum über Werke, die aus realen Klängen bestehen, jedenfalls nur mit deren Realität in Erscheinung treten?

Das Wort Klang mit all seinen adjektivischen und adverbialen Kombinationen taucht massenhaft auf und wirkt wie ein texturales Mantra. Ein Terminus, der kaum weiter differenziert werden kann, zumal seine agglomerative Qualität bei Saunders durch die Berücksichtigung des jeweiligen Raumes und der klangbildenden Akteure weiter gesteigert ist.

Warum soll da nichts weiter zu differenzieren sein? Oder nur agglomerativ, auf dass ein Konglomerat entstehe, in dem Subjekt und Verb numerativ nicht mehr übereinstimmen, wie z.B. gleich im nächsten Satz: „wo Gestaltung ja oft als Ausdrucksdrama vermittel werden“.

Jaja, und „eingestreute Philosopheme jüngerer Provenienz haben ornamentale Funktion“, schlimm! Nur Martin Kaltenecker hat das Glück gelobt zu werden, denn er „hat das Problem einer Wissenschaft erkannt, die vor dem Phänomen Saunders zum Schweigen oder zum Raunen verdammt ist. Mit seinem Text zeichnet sich die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Passung ab.“

Gut, der Band Musik-Konzepte ist bestellt, obwohl nicht ganz billig, aber eine echte wissenschaftliche Passung möchte ich wirklich nicht versäumen…

Nachtrag 16.10.2020

   

Vorwort von Ulrich Tadday / zu Gunnar Hindrichs siehe im Blog hier , hier und hier

Vollkommener Schumann

Carolin Widmann

widmann-cd-schumann ECM

Die CD ist da! Text folgt, man kann nicht schreiben, immer nur hören und hören. Schumanns angeblich von der beginnenden Geisteskrankheit gezeichnetes Violinkonzert. Im langsamen Satz das Thema, das ihm (Monate später?) die Geister Schuberts und Mendelssohns noch einmal im Traum vorgesungen haben.

***

Zugegeben, ich war skeptisch und hielt es für eine deutlich journalistische Pars-pro-toto-Geste, wenn Volker Hagedorn in der ZEIT schreibt:

Carolin Widmann [geht] ins Innere und beschert uns im langsamen Satz die zärtlichsten Töne, unfassbar intim. Ihre schlichten leisen Synkopen in Takt 13 und 14 wagt man kaum ein zweites Mal zu hören, so etwas Unwiederbringliches haben sie. Dabei hilft eine Aussteuerung, die die Solovioline auch bei leisesten Tönen unterstützt (…).

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Und so habe ich mit dem langsamen Satz begonnen und diese Stelle (letzte Zeile) ein zweites, drittes, viertes Mal gehört und kam zu dem Schluss: Hagedorn hat recht. Was Carolin Widman tonlich im langsamen Satz macht (und nicht nur in diesen Takten, aber dort ganz besonders), grenzt an ein Wunder. Und um es vorwegzunehmen: der Finalsatz, die Polonaise, die sich unmittelbar an diesen Satz anschließt, verliert jeden Eindruck der Länge oder der ermüdenden Wiederholung, gerade weil das Tempo derart ruhig-entspannt daherschreitet, als müsse das reinste Glück nun einmal ewig währen. Konnte Schumann ahnen, dass dieses – aus heutiger Sicht geradezu Mahlersche – Konzept eines fernen Tages aufgehen würde? „Wir genießen die himmlischen Freuden…“ Doch das tragische Weltgefühl des Anfangs und des Mittelsatzes bleibt unvergessen.

Gerade der erste Satz, dessen monumentale Abschnitte noch nie ihre Wirkung verfehlten, überrascht nun durch eine unglaubliche Flexibilität des Tempos. Dieses im wahrsten Sinn der Worte wundervolle und wahnwitzige Rubatospiel der Solistin ist hinreißend, zumal das Orchester ihr minutiös folgt! Es ist wie eine Erleuchtung, das mitzuerleben, genau so muss es sein. Aber niemand hat es bisher geahnt!

Und heute erst habe ich bei ECM entdeckt, wie gut Carolin Widman darüber spricht, ich kann mir all die armen Worte sparen. Sie spricht nicht von Glück, sondern von Trost. Und über eine Stelle im ersten Satz: „Das ist für mich einer der größten Momente der Musikgeschichte!“ sagt sie. Genau so ist es! Aber wirklich nur, wenn alles so gespielt und so verstanden wird. Ich gebe hier nicht die Minute und den Takt an, man muss einfach selbst davon erfasst und fortgetragen werden.

Meine Arbeit ist noch nicht beendet, aber ich muss das Ergebnis nicht aufschreiben. Es genügt, sich mit gleicher Wärme und Begeisterung dem Werk anzuvertrauen wie diese Interpretin. Kaum zu fassen, dass sie ohne einen Dirigenten auskommt. Aber auch darüber spricht sie sehr einleuchtend. Und über Mendelssohn natürlich ebenso…

Ich halte es für den besten Weg, sich durch eine gelungene (tönende) Interpretation überzeugen zu lassen. Andererseits soll der Zweifel, der sich in früheren Jahren einstellte, nicht vergeblich gewesen sein. Er beruhte ja auch nicht auf blinden oder tauben Vorurteilen. Insofern ist es gut, das entsprechende Kapitel in Peter Gülkes Schumann-Monographie gründlich zu reflektieren. Ich zitiere nur die Sätze, von denen ich glaube, dass sie mich über die bloße Begeisterung hinausführen, ohne mich zurückwerfen in die Ratlosigkeit von ehedem:

Der Eindruck, die Themen seien im Diskurs der Sonatenform nicht ganz angekommen, erscheint eigens durch die Möglichkeiten stilistischer Zuordnungen verstärkt – als seien sie von hier aus stärker legitimiert als durch den Kontext , in dem sie stehen. Ihnen fehlen weitgehend Hinleitungen, Ausklänge, Vermittlungen, die unter üblichen Maßnahmen dringlich gebraucht würden. Mit Ausnahme desjenigen im Mittelsatz sind sie einfach „da“, als wolle Schumann, argumentierende Momente beiseite schiebend, uns die Frage aufgeben, inwiefern nicht eingelöste Potentialitäten zur Sache gehören oder gar ein Teil der Lösung sein könnten.

So etwa könnte man es ex negativo beschreiben, was in besonderer Weise einen vom rezensierenden Schumann so oft gewährten Vertrauensvorschuß verdient – nicht nur, aber auch als Psychogramm: Denn selten suggerieren Themenkomplexe so deutlich die Vertretung einer Außen- und einer Innenwelt wie im ersten Satz des Konzerts – bedrohliches Außen im lawinenhaft über hämmernde Triolen heranrollenden Anfangstutti, Weg nach Innen im zweiten Thema dank dem Eindruck, die Musik wolle sich hier in den Labyrinthen lyrischen Singens bergen, verweilen, verlieren – fast kommt es im Fragen und Antworten zwischen Solist und Orchester zum Stillstand. [Gerade davon spricht Carolin Widmann.]

Zur besonderen Authentizität und Konsequenz des Violinkonzertes gehört auch, daß es im Finale, das die Partner und Prägungen stärker vernetzt, auf die Paradoxie eines von der gebremsten Polonaise gehetzten Solisten hinausläuft. Vielleicht wollte oder konnte Schumann nicht mehr ermessen, wie sehr vermittelnde, inszenatorische Momente zugleich kommunikativ sind; vielleicht stellte sich ihm das Verhältnis „von einem gewissen Ernst“ und der „fröhlichen Stimmung“, welche dahinter „oft … hervorsieht“, in der seltsam eingekapselten Musik anders dar als für Außenstehende; vielleicht war ihm nicht klar, wieviel Fürsichseinwollen und nicht mehr kündbare Einsamkeit, wieviel Schwanengesang er artikulierte.

Quelle Peter Gülke: Robert Schumann / Glück und Elend der Romantik / Paul Zsolnay Verlag Wien 2010 (Zitat Seite 201f)

Zugegeben, das ist nicht leicht zu verstehen, man muss zudem das ganze Kapitel gelesen haben, das auch dadurch überzeugt, dass der Autor die Einwände der Zweifler – darunter so kompetente und wohlwollende wie Joseph Joachim – ernst nimmt. Es gibt ebenso leidenschaftliche wie ungeschickte Plädoyers für das Konzert, die das Gegenteil bewirken und sogar äußerst misstrauisch machen (Musik-Konzepte Sonderband 1981, Harold Truscott, Norbert Nagler), auch unzureichende wie im Schumann Handbuch (Stuttgart Weimar 2006):

Das Konzert trägt keinerlei Spuren von nachlassender Geisteskraft an sich oder ist von der nahenden Krankheit überschattet, wie bis zum Überdruß immer wieder behauptet wird, sondern bietet ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die neuartige Konzeption eines Solokonzertes, die Schumann auch in anderen konzertanten Werken des Jahres 1853 (…) erprobt hat. (Joachim Draheim S.396).

So Joachim Draheim auf Seite 395 f, wobei aber die Beschreibung der neuartigen Konzeption seltsam vage bleibt. Ebenso die Korrektur bezüglich der Einschätzung des „Geisterthemas“:

Das schlichte und innige Gesangsthema des zweiten Satzes („Langsam“) weist eine gewisse, in der Literatur oft überbetonte Verwandtschaft mit dem sogenannten „Geisterthema“ auf, das Schumann in der Nacht vom 17. auf 18. Februar 1854 beim Ausbruch seiner Krankheit komponierte.

Über die Ähnlichkeit nachzudenken, ist ja durchaus nicht abwegig, zumal es so aussieht, als ob er zuerst eine kompliziertere Variante auskomponiert habe (im Violinkonzert), die konzise thematisch abgerundete Form aber erst Monate später entwickelt habe, das Ausgangsmotiv jedoch identisch ist. Oder soll man wirklich glauben, ihm sei das nicht bewusst gewesen?

geisterthema-im-konzert Okt.1853geisterthema-var-thema Febr. 1854

Meine Meinung: Wer die Zweifel nicht nachvollziehen kann, die in Gülkes Kapitel „Gesänge der Einsamkeit“ auf den Punkt gebracht sind, wird auch nicht zu einem glaubwürdigen Lob des Werkes kommen. Man muss sich – wie Carolin Widmann – mit Schumanns neuer Zeitgestaltung auseinandersetzen, nicht nur mit immanenten Problemen, die Gülke nach Joseph Joachim benennt:

Joachims Bedenken lassen sich sehr wohl nachvollziehen, weil, zumal im ersten Satz, Scharniere, Überleitungen, Vermittlungen weitgehend fehlen und Schumann kaum entwicklungsträchtige, eher in sich drehende oder polyphon verknotete Prägungen bevorzugt. [Seite 199]

„Lebhaft, doch nicht schnell“ weist Schumann für den Vortrag des Finales an und bekräftigt das, wie auch bei den anderen Sätzen, durch besonders langsame Metronomisierung. Solange man, dem italienischen „spirituoso“ nahe, „lebhaft“ weniger als Tempobezeichnung denn als Charakterisierung versteht, ergäbe sich kein Widerspruch; doch läßt sich beides nicht trennen – dies wußte ein so sorgsam Bezeichnender wie Schumann. Er muß Gründe gehabt haben. Einer wäre, daß der Satz wie eine zeremoniell-gehaltene verlamngsamte Polonaise anmutet und vielleicht als solche intendiert war. Indes beseitigt diese Zuordnung den Widerspruch nicht, daß es sich um Musik handelt, welche oft schneller sein „will“ und doch, auch aus spieltechnischen Gründen, nicht schnell sein darf. Wie der erste Satz („In kräftigem, nicht zu schnellen Tempo“) erscheint der letzte an straffe Zügel gelegt, scheint eine Selbstverständlichkeit musikalischen Strömens, eine entspannte Direktheit der Mitteilung behindert – nicht nur, weil disparate Passagen auf disparate Tempi drängen. Waren Schumanns Tempovorstellungen möglicherweise durch zunehmende Schwierigkeiten verunsichert, raschen Tempi zu folgen? [Seite 198f]

Quelle Peter Gülke (s.o.) a.a.O.

Schaut man in das im gleichen Jahr veröffentlichte Schumann-Buch von Martin Geck, verwundert einen das beredte Schweigen über die von Gülke problematisierten Eigenarten des Violinkonzertes. Vielleicht weil Geck sie schon anhand der späten Violinsonaten angesprochen hat: „eine ‚Kaleidoskoptechnik‘ der motivisch-thematischen Arbeit, die auf Grübelei und Auf-der-Stelle-Treten hinausläuft“. Im Fall der F-A-E-Sonate frappiere „das unzensierte Nebeneinanderlaufen heterogener Momente.“ (S.172) Die Behandlung des Violinkonzertes schließt – nach Hinweis auf eine wohlwollende Analyse der ersten 44 Takte durch Reinhard Kapp – mit den seltsam halbherzigen Worten:

Als Zugnummer taugt das Werk gleichwohl nicht – allzusehr sperrt es sich dagegen, nach traditionellen Gattungskriterien beurteilt zu werden.

Quelle Martin Geck: Robert Schumann / Mensch und Musiker der Romantik / Biografie / Siedler Verlag München 2010