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Klangfarben der Geige

Fingersatzschikanen

Den größten Umschwung in den Klangfarben der Streicher hat es nicht allein durch die Etablierung der Original-Instrumente gegeben, also nach dem Rückbau des Geigenhalses, der Rehabilitierung der Darmsaiten usw., sondern noch auffälliger (!) durch die Nobilitierung der ersten Lage und überhaupt der unteren Lagen (sofern man nicht auf der E-Saite zwangsläufig in die Höhe steigen musste) und vor allem durch den unbekümmerten Gebrauch der leeren Saiten. Seit Ende der 60er Jahren erkannte man die „neue“ alte Aufführungspraxis auf Anhieb an den mit Wonne ausgespielten und im Klang aufleuchtenden leeren A- und E-Saiten, die zudem natürlich kein Vibrato ermöglichten, das ja auch sonst weitgehend ausgespart wurde. Aber damit will ich mich jetzt weniger beschäftigen, es geht mir um die Methodik der vorangehenden Generationen, die das moderne Virtuosentum entwickelten; es betraf u.a. die Notwendigkeit des unaufhörlichen Lagenwechsels (der linken Hand auf einer Saite). Das folgende Lehrbuch stammt aus dem Jahre 1912.

Die zuletzt angesprochenen fünf Punkte waren diese:

Was mich am meisten frappiert, ist die Tatsache, dass im Fingersatz des Beethoven-Themas zwar der Gebrauch von G- und D-Saite behandelt wird, aber die Flageolet-Töne d“ und g‘ keines Kommentars bedürfen, obwohl sie klanglich viel mehr hervortreten als etwa der als fehlerhaft bezeichnete Saitenwechsel im dritten Takt (von Finger 1 zu Finger 4), bei dem sowohl Legato als auch Farbanpassung durchaus möglich sein müssten. Wenn in der Solostimme tatsächlich von Beethovens Hand (1806) notiert „sul D e G“ steht,  – was wollte er damit ausdrücken? Dass man auf der D-Saite beginnt (und keinesfalls die A-Saite zuhilfe nimmt) und im vierten Takt (selbstverständlich) das tiefe A auf der G-Saite spielen darf? Oder soll man das Thema auf der G-Saite in der fünften Lage beginnen und dann irgendwo hinabsteigen, – also letztlich die D-Saite überhaupt nicht benutzen? Das wäre spätes Neunzehntes Jahrhundert. Als man die Geigentechnik mit Physiologie und Akribie atomisierte (Ševčík). 200 Jahre vorher hatte der geigende Komponist Biber noch gern für den Einschub einer leeren E-Saite gesorgt, wenn er einen Lagenwechsel aus höchster Höhe abwärts sichern wollte (da gab’s noch keinen Kinnhalter). Aber zurück zu Beethoven: schauen Sie nur weiter unten, was Flesch uns als Fingersatz vorschlägt. Da gibt es kein Sicherheitsdenken, – abgesehen dann doch vom Finalethema in hoher Lage.

Moment! Zunächst noch etwas ganz Anderes aus dem Neunzehnten Jahrhundert: Sie erinnern sich: das Perpetuum mobile von Franz Ries (siehe hier), – Frage: stammt eigentlich die Ossia-Version von ihm oder einem späteren (Über-) Virtuosen? Nathan Milstein spielt sie nicht, er kürzt auch das ganze Werkchen um ein Drittel, weshalb er auch zur Verwunderung eines Fans (siehe Youtube-Kommentare) eine Minute weniger als andere braucht. Überhaupt habe ich keinen Virtuosen gefunden, der die hohe Version aufgenommen hat, selbst der fabelhafte junge Uto Ughi nicht. Das Problem ist weniger, da oben hinaufzukommen als in demselben Tempo unfallfrei wieder herunter. Und man muss ganz schmale Fingerkuppen haben. (Wenn es nicht so schnell gehen müsste, könnte man einen Finger mit dem andern etwas wegschieben.)

Die höchsten Lagen:

Oben: Ries „Perpetuum mobile“ (Ossia: 3., 5., 7., 8. Lage)

Oben: Max Rostal in Plovdiv /u.a. mit der Kreutzer-Sonate von Beethoven, die ich selbst im Examen gespielt hatte (mit Freund Christian de Bruyn). Vorsitzender der Prüfung: Max Rostal, und neben ihm, sogar ein wenig hofiert als Koryphäe der Alten Musik: der junge Violinprofessor Franzjosef Maier. „Und meinen Sie, Herr Maier, dass man auch bei Mozart den Triller immer mit der Nebennote beginnen muss?“

Ich kannte (und fürchtete) natürlich „den“ Rostal, den bekanntesten Schüler Carl Fleschs, besser als er mich, und zwar schon seit der früheren Zeit meines Studiums bei Wolfgang Marschner, denn bei Rostal studierten die „Starschüler“ der Kölner Hochschule (keine Schulmusiker, wie ich). Den Zyklus der Beethoven-Trios mit Heinz Schröter, Max Rostal und Gaspar Cassado hatten wir im Vortragssaal miterlebt und als typische Eleven, die selbst Klaviertrio spielten, eifrig kritisiert. Jetzt, 10 Jahre nach Beendigung des praktischen Teils meiner Studien, kam ich als Abgesandter des WDR zu den Kammermusiktagen 12. bis 21. September 1977 nach Plovdiv in Bulgarien. Jetzt erst fiel mir auf, was für eine riskante Kunst des Lagenwechsels er perfekt beherrschte: aus unerfindlichen Gründen schwierigste Passagen auf ein und derselben Saite zu spielen.

Zwei Beispiele aus dem großen Fingersatz-Werk (650 Seiten) seines einstigen Lehrmeisters:

 Flesch Seite 507

 Flesch Seite 515

Quelle Kathinka Rebling: Carl Flesch Die Hohe Schule des Fingersatzes / Peter Lang Verlag Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995 ISBN 3-631-46281-6

Unser Idol des Bach-Spiels in den frühen 60er Jahren war Henryk Szeryng, der – was wir nicht wussten – zur gleichen Zeit wie der 13 Jahre ältere Max Rostal bei Carl Flesch in Berlin studiert hatte (1928-1932). Er spielte mit phänomenaler Unfehlbarkeit, ich orientierte mich, als ich Lalos „Symphonie espagnole“ bei Marschner studierte, vollkommen an Szeryngs Schallplatte und staunte maßlos, als ich ihn mit demselben Werk live im Radio hörte (von irgendwo aus dem Ruhrgebiet), ich kannte jeden Ton, jede Nuance: die Interpretation war absolut identisch, nur das Orchester fiel ab. Szeryng, so liest man, „debütierte im Jahre 1933. 1935 spielte der 17-jährige Geiger in Warschau unter der Leitung von Bruno Walter das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven. Anschließend setzte er bis 1939 sein Studium bei Nadia Boulanger in Paris fort.“ Ich erwähne das nur, weil ich ihn jetzt mit einer Aufnahme des Beethoven-Konzertes verlinke, – er wird es wohl zumindest technisch genauso gespielt haben, wie er es bei Flesch erarbeitet hat. Aber der Fingersatz ist anders als er im Buche steht. Er spielt (natürlich) kein Flageolet, allerdings entbehrt die Melodie auch „des übersinnlichen Charakters“, von dem Flesch schreibt. Siehe ab 24:34.

Natürlich spielt er auch beim hohen Finalethema (ab 35:35) kein Flageolet. Unfassbar schwer ist das Thema ganz am Anfang des Satzes: der Sprung beim 4. Ton in die 4. Lage und dann die unmittelbar nachfolgenden Töne. Das wusste ich nicht „von Natur“, sondern erst als Franzjosef Maier im Unterricht daran zu arbeiten begann: da stimmte ja kein Ton! Nebenbei: ich erinnere mich bis heute ganz genau, wie unzufrieden er auch mit meinen Sechzehntelpassagen am Anfang des ersten Satzes war (nach dem Aufstieg zur Cantilene): nicht wegen der Intonation, sondern wegen der mechanischen Gestaltung. „Mehr Freiheit! Das ist keine Kreutzer-Etüde!“ So etwas sitzt ein Leben lang… (Dachte ich doch, die künstlerisch freie Gestaltung sei mein Lebenselement. Genau das muss man sich erarbeiten. Der Ärger eines Lehrers wirkt Wunder.)

Aus dem Handgelenk

Die eindrucksvollen Auftritte des Geigers Leonidas Kavakos könnten manchen jungen Violinspieler veranlassen, nicht nur den Ernst und die musikalische Intensität des genialen Griechen zum Vorbild zu nehmen, sondern auch zu vermuten, dass seine Technik in allen Details nachahmenswert ist. In der Tat: sie funktioniert und fügt sich zwanglos allen Absichten des Interpreten, soweit ich das beurteilen kann. Dennoch muss man wohl feststellen, dass die Bogenführung bzw. die Bewegung des rechten Arms und insbesondere die Herausstellung des rechten Handgelenks einer altertümlichen Lehre folgt, die vielleicht nicht ohne Grund von der Entwicklung des modernen Violinspiels aufgegeben wurde. Man kann das an verschiedensten Stellen nachlesen, aber viele Geiger lesen wenig, um keine wertvolle Übe-Zeit zu verlieren. Daher dieser Blogbeitrag. Der Unterschied fällt auf Anhieb ins Auge: links Leonidas Kavakos Quelle: youtube), rechts Christian Tetzlaff (Quelle: youtube), beide hervorragende Virtuosen und Musiker! Es geht hier nicht um ein Ausspielen des einen gegen den anderen, sondern allein um das rechte Handgelenk:

Kavakos Screenshot 2015-07-15 Tetzlaff Screenshot 2015-07-15 20.39.14

Ich kenne keinen Geiger, der das Handgelenk so anwinkelt und den Ellbogen so dicht am Körper hält wie Kavakos, – und erinnere mich an mein antiquarisch erworbenes Exemplar der Geläufigkeitsstudien von Schradieck, an deren Rand ein Lehrer geschrieben hatte: „Etwas unter dem Arm halten!“ Das war früher so üblich: der Ellbogen am Körper sollte die Hauptleistung ans Handgelenk delegieren. Auch eine historische Violinschule von 1913 illustriert das (Foto links oben), wobei die Position der Finger anders ist als bei Kavakos.

Violinschule ca 1913

Es ist offenbar die alte deutsche Praxis, die auch im Vorwort eines erhellenden Buches von Percival Hodgson im Jahre 1958 beschrieben wird, wenn auch auf Campagnoli bezogen:

Violin Bowing Motion Study x

Quelle Percival Hodgson: Motion Study and Violin Bowing / American String Teachers Association Urbana 1958 (Introduction S. IX)

Schon Carl Flesch beschrieb 1929 die verschiedenen Methoden der Bogenhaltung in seinem grundlegenden Werk „Die Kunst des Violinspiels“ sehr genau, und er bebilderte auch die von ihm abgelehnten Usancen, wie hier:

Flesch Foto

Er berief sich in seinen Ausführungen auf den Mediziner Friedrich Adolf Steinhausen und dessen Buch „Physiologie der Bogenführung auf den Streichinstrumenten“ (1903) und meinte:

Steinhausen war der erste Theoretiker, der die Kraftquellen als im Ober- und Unterarm lagernd erkannte und dem bis dahin maßlos überschätzten Handgelenk sowie den Fingern eine nur vermittelnde Rolle zugestand. Seine Ansicht hat sich nicht nur durch ihre zwingende Logik, sondern vor allem durch die Bestätigung in der praktischen Ausübung als richtig erwiesen.

Carl Flesch: Die Kunst des Violinspiels I. Band: Allgemeine und angewandte Technik. Verlag Ries & Erler Berlin 1978 (Seite 38)

Aber ganz so apodiktisch muss man es wohl doch nicht sehen, zumal wenn man beachtet, dass diese „zwingende Logik“ die eines Physiologen war, der selbst nur Hobbygeiger war, und dass der Berufsgeiger Flesch als Künstler (und Kollegenkritiker) durchaus nicht unanfechtbar war. Die verschiedenen Stile der Bogenführung haben – je nach individueller Prädisposition – vielleicht doch ganz unterschiedliche Vor- oder Nachteile. Der Vater „der“ russischen Geigenschule, Leopold Auer, selbst Schüler Joseph Joachims, schrieb in aller Vorsicht und eingestandener Subjektivität:

When I say that the hand should be lowered – or rather that the wrist should be allowed to drop when taking up the bow – and that as a consequence the fingers will fall into position on the stick naturally and of their own accord, I am expressing a personal opinion based on long experience. I myself have found that there can be no exact and unalterable rule laid down indicating which one or which onesd of the fingers shall in one way or another grasp and press the stick in order to secure a certain effect. Pages upon pages have been written on this question witzhout definitely answering it. I have found it a purely individual matter, based on physcal and mental laws which it is impossible to analyse or explain mathematically. Only as the result of repeated experiment can the individual player hope to discover the best way in which to employ his fingers to obtain the desired effect.

Joachim, Winiawski, Sarasate and others – every great violinist of the close of the last century – had each his own individual manner of holding the bow, since each one of tzhem had a differently shaped and proportioned arm, muscles and fingers. Joachim, for instance, held his bow with his second, third and fourth fingers (I except the thumb), with his first finger often in the air. Ysaye, on tzhe contrary, holds the bow with his first three fingers, with his little finger raised in the air. Sarasate used all his fingers on the stick, which did not prevent him from developing a free, singing tone and airy lightness in hies passagework. The single fact that can be positively established is that in producing their tone these gerat artists made exclusive use of wrist-pressure on the strings. (The arm must never be used for that purpose.) Yet which of the two, wrist-pressure oder finger-pressure, these masters emphasized at a given moment – which they used when they wished to lend a certain definite colour to a phrase, or to throw into the relief one or more notes which seemed worth while accenting – is a problem impossible of solution.

Incidentally, we may observe the same causes and the same effects in the bow technique of the virtuosi of the present time. They may have nothing in common either in talent or temperament, yet, notwithstanding this fact, each one of them will, according to his own individuality, produce a beautiful tone.

Quelle Leopold Auer: Violin Playing As I Teach It / Dover Publications, New York, 1980 (1921) ISBN 0-486-23917-9 (Seite 12 f.)

Eine wunderbare Passage, – sofern man auch im Violinspiel eine gewisse Toleranz gelten lassen will und die beiden ganz oben abgebildeten Violinisten nicht gegeneinander ausspielen will.

Man könnte Leonidas Kavakos, der bei Josef Gingold studiert hat, sogar an der Bogenhaltung seines berühmten Lehrers messen, dürfte aber nicht übersehen, dass dieser von physiologisch völlig anderer Statur ist und – nebenbei – auch wohl nie einen solchen Beethoven-Zyklus wie sein griechischer Schüler gespielt hat.

Gingold Screenshot 2015-07-15 20.58.02 Josef Gingold (Quelle)

Mag sein, dass Kavakos sein violinistisches Körper- und Fingerspitzengefühl noch am Griechischen Konservatorium entwickelt hat, bei Stelios Kafataris, vielleicht auch schon bei seinem Vater und im Kontakt mit der griechischen Volksmusik (siehe hier). Vielleicht sogar durch eigenes Denken und Arbeiten?

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Wer von diesen technischen Aspekten des Violinspiels jetzt noch nicht genug hat, der lese getrost weiter auf den sehr instruktiven Blog-Seiten von Stefan Maus: Hier.

Nachtrag 11. April 2018

Ein schönes Beispiel aus der irischen Volksmusik: Der fabelhafte Fiddler Frankie Gavin spricht über Bogentechniken und empfiehlt u.a. die alte Methode, ein Buch unter den rechten Arm zu klemmen: siehe das instruktive Video HIER , zum Thema Bogenarm ab 8:11 bis 9:18 (Fazit: zu große Bewegungen nehmen dem Arm Energie).