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Zweifel beim Zeitunglesen

Ein Akkord und viele Worte

Wieviel Kenntnis der Musiktheorie darf man wohl beim Leser einer renommierten Tageszeitung voraussetzen? Nun, A-moll (meinetwegen auch a-Moll), diesen von allen Vorzeichen losgelösten Akkord, wird er doch wohl erkennen? Diesen „fremden und dunklen Akkord“ innerhalb einer weichen Des-dur-Umgebung als positiv „störend“ zu identifizieren, zumal er dort im forte eingeschoben ist: Darauf sollte man doch wohl rechnen können? (Nach wieviel Stunden Aufführung, wieviel Akkordwechseln auch immer.)

 SZ-Kritik 30.Juni/1.Juli2018 (Detail)

Und nicht genug: gerade an der Interpretation dieses Akkords soll sich die ganze Qualität eines Dirigenten zeigen, zumal eines allerseits hochgerühmten, der ganz gewiss zaubern kann. Ich weiß: dergleichen in Worte zu fassen ist schwer, und um so vorsichtiger muss man wohl sein, einem wortorientierten Publikum glaubwürdig von solchen Wundertaten zu berichten. Gerade am Morgen danach. Nur der Partiturkundige weiß, was hier schon beim bloßen Hören erlebbar sein könnte!

 SZ-Kritik 30.Juni/1.Juli2018 (Detail)

Statt Partitur darf wohl auch ein Klavierauszug aus dem Jahr 1902 behilflich sein:

Gemeint ist also der Akkord auf der ersten Seite am Anfang der vorletzten Doppelzeile. Handelt es sich wirklich um A-moll, einfach so als Störfall im Des-dur-Raum, oder erscheint der Akkord, entstanden aufgrund verschiedener Alterierungen, nur beim Blick auf die Klaviertasten als krasses A-moll – und vor allem dank einer vereinfachenden Schreibkonvention? Könnte doch sein?

Und tatsächlich, nicht ohne Grund steht in dem Diagramm von Claus-Steffen Mahnkopf, das in dem Takt vorher anzusetzen ist – also im Klavierauszug oben ab zweitem System, 2.Takt (unter der Regieanweisung: Kundry sinkt, mit dem Blick …) – und den ganzen Harmoniegang von hier bis zum Schlussakkord (T=Tonika) bezeichnet: tatsächlich steht hier im ersten blauen Feld über dem Bass-Ton Des ein S (was Subdominante bedeutet), was wir jetzt nicht weiter beachten wollen. Aber gleich anschließend im grünen Feld sehen wir eine Note mit zwei (!!) b-Vorzeichen, das ist ein heses bzw. Hes-Es, auf dem Klavier identisch mit dem Ton, der sonst einfach A genannt wird. Und es ist genau dieser Akkord, von dem in der SZ-Kritik die Rede ist. –

Man könnte nun sagen, das sei eine bloße Fachsimpelei, was allerdings besser wäre als Schaumschlägerei. Aber in der Tat will ich die Analyse kurzhalten, denn besser oder klarer als Mahnkopf kann man die Sachlage nicht reflektieren. Und auch bei ihm muss ein theoretisch ausgefuchster Musiker geduldig Zeile für Zeile in sich aufnehmen und in klangliche Vorstellungen übertragen, ehe er versteht, wovon die Rede ist. Das ist nicht leicht, und kein Journalist sollte dem Publikum vorspiegeln, dass jemand beim Lesen einer Rezension einen nach A-moll klingenden Zwischen-Akkord zu finden, zu beurteilen und obendrein dabei die Leistung des Dirigenten von der Richard Wagners zu unterscheiden vermag. Und am Ende weiß er sogar noch, dass „der ganze Schluss, der in schlichten Akkorden die geglückte Erlösung der Grals-Crew feiert“, eigentlich nur „kitschig affirmativ“ wäre, wenn sich Wagner nicht noch mit diesem  einen A-moll-Akkord aus der Affäre gezogen hätte. Parsifal in der bildungsbürgerlichen Westentasche!

Ich empfehle jedem, der sich die gedankliche Auseinandersetzung mit Wagner erspart, weil der ja weltanschaulich erledigt sei, einige Kapitel dieses Buches (ich sage es nach journalistischer Art leserfreundlich) zu überfliegen. Das wäre jedenfalls schon lehrreich genug. Insbesondere Kapitel IV der Tristan-Studien, siehe folgendes Inhaltsverzeichnis.

Ich will mich nicht davor drücken, ein paar Worte (Akkorde) zur Funktionstheorie zu verlieren, deren sich Mahnkopf bei der Beschreibung von Akkordfolgen bedient. Nehmen wir der Einfachheit halber eine Kadenz in C-dur, Tonika – Subdominante – Dominante – Tonika, in zwei Versionen:

Über dem S steht der Buchstabe N, was bedeutet: „Neapolitaner“ in Dur, n würde bedeuten: in Moll. Der Neapolitaner ist hier ein veränderter Akkord der zweiten Stufe in C-dur,  des D-moll-Akkordes also (als Sextakkord, d.h. der Terz im Bass), der selbst ein Ersatz des F-dur-Akkordes ist. Die Veränderungen (die Töne D und A tiefalteriert = Des und As) machen die Annäherung an den Grundakkord, die Rückkehr, dringlicher.) Ich kann diese Stelle aber auch ausweiten, als sei ich an der faktisch angedeuteten Tonart Des-dur weiterhin interessiert. Oder ich füge denselben Vorgang bei der Subdominante ein (neues Beispiel nach dem Doppelstrich), berühre also Ges-dur. Genau dieser Fall liegt bei Wagner vor. Man sieht im obigen Diagramm über dem Doppel-b im ersten grünen Feld ein n (davor und danach ein S), was bedeutet: ein „Neapolitaner“ in Moll innerhalb des Subdominantbereichs. Ihn in A-moll zu notieren ist nur in dem Sinne möglich, wie ich in meinem handgeschriebenen Beispiel an die Stelle des Ges-dur-Akkordes einen Fis-dur-Akkord setzen könnte, der allerdings orthographisch falsch wäre, da er seine Beziehung F-dur (der Subdominante von C-dur) leugnen würde. Im Fall von A-moll akzeptiert man das, weil es offensichtlich leichter zu lesen ist als ein Hes-Es-Moll. Aber es sollte mir bewusst bleiben, dass eine enge Verwandtschaft besteht und der A-moll-Akkord nicht einfach so als Kontrastblock in das As-dur-Feld gesetzt wird. (Das Des-dur-Feld wird gerade hier verlassen!)

Viele Worte um einen einzigen Akkord? Genau. Aber dieser lässt sich als Begriff eben nicht einfach so in die Debatte werfen, es sei denn, als Technik des Name-Droppings, um Exclusivität zu signalisieren: Ihr habt keine Ahnung von meiner Welt. Ihr wärt mit einem Dauer-Des-dur zufrieden gewesen und einer kitschig geglückten Erlösung. Mein kleines Geheimnis ist: ich habe wie ihr keine Ahnung von der As-dur-Region, die wir an dieser Stelle betreten.