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Mit Inventionen spielen (2)

Die Verteilung des Hauptmotivs

Invention e Motiv Verteilung

Es liegt auf der Hand: die imitatorische Kombination der beiden Stimmen, hoch und tief, ist zunächst sehr dicht: Takt 1, 2, 3; wird dann entzerrt: Takt 8 (linke Hand solo), 9, 11, 12 (wieder enger + Engführung), Takt 15 (rechte Hand solo), 17, 18, 19 (wieder enger, in erweiterter Gestalt), Takt (21), 22, 23 zusammenfassend, = Ergebnis.

Invention e-moll aa Invention e-moll bb

Interpretatorisch sind die Takte mit den ausgehaltenen Tönen problematisch: durchgetrillert zu aufdringlich, ohne Triller verschwinden sie. (Am Klavier kann man das durch Dynamik lösen, am Cembalo durch „taktvolle“ Tonwiederholung.) Hörübung: Janine Jansen – hier -, wie hält sie bzw ihr Spielpartner es mit diesen Tönen – beide hätten als Streicher nicht nötig zu trillern… Und noch eins (unnütz zu fragen): spielt den zweiten Part die Bratsche oder das Cello? (Die Partner auf der bei youtube verwendeten CD sind Maxim Rysanov, Bratsche, sowie Torleif Thedeen, Cello). Und ein drittes: wo weicht dieser Interpret vom Notentext ab? (Bitte die hier gegebene Klavierfassung vergleichen!)

Lösung: es handelt sich um Oktavversetzungen, die nicht besonders gelungen, aber doch zu verschmerzen sind. Weniger schön: dass 1 Ton verloren geht, nämlich in Takt 13 auf der dritten Zählzeit das c‘ im Bassschlüssel.

Angesichts der motivischen „Arbeit“, die sich in der obigen Tabelle zeigt, ist es erstaunlich, wie sich das Anfangsmotiv in den ersten Takten zu einem Thema rundet. Man kann es leicht zeigen, indem man wieder zum Anfangsakkord zurückleitet, statt zu der weiterführenden Tonart G-dur:

Invention e-moll aa -

Invention e als Thema beenden

Man könnte nun im letzten Takt statt des Schlusstones wieder den ersten Takt einsetzen und so ein kreisförmiges Gebilde schaffen, während die kompositorische Anstrengung natürlich dahin geht, darüber hinauszukommen. Sinnvolles Mittel ist die Sequenz. Erwin Ratz zeigt, wie diese Invention – an sich von einer ähnlichen Anlage wie die Invention Nr. 1 – gleichsam „zu höherer Entwicklungsstufe gelangt“ (Busoni).

Ratz Invention e-moll Anfang

…sie zeigen, – statt das Gebilde abzurunden – die Merkmale der Entwicklung, nämlich „harmonisch in Fluss zu kommen, Beschleunigung der Darstellung, Abspaltung“: es wird eine aus dem ersten Takt abgeleitete Gestalt aufgestellt (Takt 3) und diese Gestalt gelangt zur Sequenz.

Die „Beschleunigung“ der Darstellung ergibt sich hier jedoch nicht durch ein Kleinerwerden der Einheiten, sondern mit Hilfe des poyphonen Prinzips, indem die zweite Stimme in konstruktiv entscheidender Weise dadurch eingreift, daß die Imitation in der Oktave im ersten Takt nun übergeht in die Imitation in der Quint und so die Beschleunigung herbeiführt, die auch in der halbtaktig fortschreitenden Harmonie zum Ausdruck kommt. (In der ersten Invention wird die Imitation im dritten Takt nicht fortgesetzt.)

Quelle Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre (2. Auflage) Universal Edition Wien 1968 (Seite 61 f)

Wir könnten den Gedanken der Konstruktion hervorheben, für Erwin Ratz jedoch geschieht dies alles im Rahmen einer organischen Regelmäßigkeit, die er im Sinne Goethes auffasst:

So wie in der Natur zu der in mathematischen Gesetzmäßigkeiten erfaßbaren Regelmäßgkeit, wie wir sie in den Planetenbahnen, im Aufbau der Elemente, in den Formen der Kristalle, aber auch im Bereich des Organischen in der Struktur mancher Gewebe oder in der Zahl der Blütenblätter gegeben haben, hinzutritt das Prinzip des Lebendigen, der Metamorphose, der Verwandlung einer Gestalt in die andere, so sehen wir auch in der Kunst die zunächst als polare Gegensätze empfundenen Begriffe Gesetz und Freiheit vereint in Erscheinung treten und können in dieser Synthese die Offenbarung geheimer Naturgesetze im Sinne Goethes erblicken.

Ratz a.a.O. Seite 61

(Fortsetzung folgt)

Mit Inventionen spielen (1)

Zweistimmig BWV 778 e-moll

Ich übe genau die Inventionen, die Erwin Ratz in seiner Formenlehre im Detail behandelt. Und zwar nach Noten, die schon mein Vater benutzt hat, – sie sind nicht „historisch korrekt“ – und habe das Autograph und andere Ausgaben danebenliegen. (Übrigens kein neuer Vorsatz, ich spiele nebenher vieles andere, immer auch Chopin, oder die vierhändigen Sachen Mozart, Schubert, Fauré für Zweiertreffen.) Hier heißt es also, ich übe korrigierend und zwar nicht mal so, mal so (das auch!), entscheide mich, wie ich das Stück auswendig beibehalten möchte. An dieser Stelle zunächst für notenkundige Zaungäste eine Hörfassung, nicht weil sie „korrekt“ ist, sondern vor allem weil eben die Noten dabei mitzulesen sind, aber eben auch, weil ich sie liebe: eine Version für zwei Streicher (Janine Jansen). Man kommt nicht auf die Idee, dass es cembalomäßiger klingen sollte, und das ist eine gute Ausgangsposition.

Vergleichsfassungen mit Klavier sind leicht zu finden, die eine zu schnell, die andere zu langsam: Glenn Gould (für mich immer leicht missvergnüglich) oder Evgenij Koroliev. Aber die Tempovorstellung ändert sich natürlich, wenn man die Inventionen als Gesamtfolge plant. Beim Cembalo gehe ich gern von Bob van Asperens Einspielung aus, deren Coverbild mich bereits in gute Stimmung versetzt.

Invention van Asperen CD

Die Noten meines Vaters sehen folgendermaßen aus (Universal Edition 1951, Bearbeitung von Julius Röntgen, der ein verdienter Mann ist, man fühlt sich gut betreut; es lohnt sich, seine Biographie zu studieren):

Invention UE e-moll a Invention UE e-moll b

(Die moderne UE-Ausgabe folgt natürlich ganz anderen Prinzipien: siehe hier!)

Was mich von vornherein stört, sind die nicht originalen Phrasierungsbögen: schon im ersten Takt die Überbindung auf die dritte Zählzeit ist ebenso „falsch“ wie die nächste auf die erste Zählzeit (den Praller) oder gar die dann folgenden langen, romantischen Bindungen. Die Triller und alle normalen Praller müssen von oben gespielt werden, nicht mit der Hauptnote beginnend, selbst wenn der Ton vor der Trillerhauptnote derselbe ist wie der, mit dem die Phrase vorher endete, und diese erste Prallernote wird betont. So habe ich es gelernt und bevorzuge doch einen anderen Triller. Ich fürchte mich vor einem Triller, der wie eine Fahrradklingel durchschrillt, jedenfalls im Fall der beiden langen Töne dieser Invention. Ich möchte nicht durch den Triller gezwungen werden, die jeweils andere Hand anders zu spielen, als es ihr gebührt. Aber wenn Glenn Gould das lange d“ (Takt 7ff)  nur anschlägt und sich aufs Weiterdenken verlässt, den Basston H (Takt 15ff) jedoch in ganzer Länge durchttrommelt, obwohl dort nicht einmal ein Praller steht, wüsste ich keinen Grund. Ich würde beide Triller mit der Hauptnote beginnen und „anlaufen“ lassen, und wenn er „klingelt“, dynamisch ganz zurücknehmen. Egal, wie es Bach gemacht hätte. (Wer weiß das schon…) Nichts mehr über bloße Praxis.

Was mich wirklich an den Inventionen fasziniert? Die kontrapunktische Zweistimmigkeit. Dazu nur dies, – für alle, die parallele Terzen schöner fänden:

Invention zwei stimmen parallel & konträr

Ich habe die Oberstimme in Takt 5 nur unwesentlich vereinfacht, um die Terzenparallelen hervorzuheben. Es sieht fast nach Wiedergutmachung aus, wenn gleich danach die radikale Gegenbewegung der beiden Stimmen folgt. Ihre Selbständigkeit muss sichergestellt sein!

Invention parallel & konträr orig

Und wie logisch wirkt es, wenn im nächsten Takt die parallel laufenden Sechzehntel zeitversetzt aufeineinanderfolgen; womit die Verlaufslogik der Unterstimme nach unten fortgeführt wird, in der Oberstimme aber der Sprung nach oben gleichsam als Gegengewicht fungiert.

Invention Takt 5-6 parallel u konträr

(Fortsetzung folgt)