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CHORAL

Mit Fried und Freud ich fahr dahin

Mich fasziniert die Bach-Kantate als Ganzes und im Detail. Gerade auch ihr Choral; ihn auswendig zu lernen und über ihn zu reflektieren, wäre ein erster Schritt, die Bach-Werke zu erschließen, die um ihn kreisen, allen voran die Kantate BWV 125.

Zu Luthers Original HIER

(Das im Wikipedia-Artikel gegebene Musikbeispiel ist ein Exempel, wie man die Melodie grotesk missverstehen kann.)

Über die von Bach vorgefundenen und bearbeiteten Melodie-Versionen HIER
Wikipedia-Artikel über Bachs Kantate BWV 125 HIER

Noten- (und Ton-) Beispiele zur Kantate bei Julian Mincham HIER

Youtube-Aufnahme (Herreweghe) mit Partitur (Alte Bach-Ausgabe), Einzelsätze anklickbar HIER

00:05 – 1. Chorus: ‚Mit Fried und Freud‘ 06:07 – 2. Aria: ‚Ich will auch mit gebrochnen Augen‘ (A) 15:08 – 3. Recitative and Chorale: ‚O Wunder, dass ein Herz‘ (B) 17:30 – 4. Aria (Duet): ‚Ein unbegreiflich Licht‘ (TB) 23:19 – 5. Recitative: ‚O unerschöpfter Schatz der Güte‘ (A) 24:02 – 6. Chorale: ‚Er ist das Heil und selig Licht‘.

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Bereits an dieser Stelle sei eine Merkwürdigkeit festgehalten, die – den Choral betreffend – in einer anderen Kantate auffällt, jedoch, soweit ich sehe, in der Literatur keinen besonderen Anlass zur Verwunderung gegeben hat: BWV 42 „Am Abend aber desselbigen Sabbats“ Satz 4 Choral. Duetto / Satz 7 (Schluss) Choral:

Satz 4 „Verzage nicht, o Häuflein klein“

Die Worte haben als Grundlage den Vers eines Lieds aus dem 17. Jahrhundert von Jakob Fabricius (ca. 1635). Bach läßt in den Stimmparten des Continuos sowie denen des Tenors flüchtig und subtil diese Stamm-Melodie anklingen.

So im Booklet zur Herreweghe-CD der Autor Nicholas Anderson. Ich erkenne die Anklänge nicht (zumal ich auch die besagte Melodie nicht kenne).

Recherche bei Wikipedia:

Das Lied Verzage nicht, du Häuflein klein entstand unter dem Eindruck der Schlacht bei Lützen. Am Morgen der entscheidenden Schlacht verteilte Fabricius zum Feldgottesdienst ein Liedblatt dieses Textes. Später nannte man dieses Lied auch den „Schwanengesang Gustav Adolfs“.

MELODIE (unter Vorbehalt) hier – auch jetzt erkenne ich keine Verwandtschaft mit Motiven bei Bach. Allerdings denke ich bei den in die Tiefe fahrenden Cello-Figuren – wenn ich sie mir verlangsamt vorstelle – an die berühmte Sarabande der Cello-Suite V c-moll.

Satz 7 „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und „Gib unserm Fürsten und der Obrigkeit“. Es handelt sich offenbar um 2 völlig verschiedene Melodien, die wie zwei Strophen eines Chorals unmittelbar aneinandergesetzt sind.

Die Kantate schließt mit einem vierstimmigen Choral unter Begleitung des vollen Orchesters. Der erste Vers enthält Luthers deutsche Übersetzung der lateinischen Antiphon „Da pacem, Dominemit seiner Melodie unbekannten Ursprungs. Der zweite, ein Vers von Johann Walther, ist ein Gebet um Frieden und „gut Regiment“ aller Obrigkeit, der Tradition nach mit Luthers Übersetzung verbunden; auch seine Melodie ist anonymer Herkunft, und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Bach hatte diese Verse gerade einige Wochen zuvor in seiner Sexagesima-Kantate, BWV 126, verwendet, doch hat er sie für beide Anlässe neu vertont. (orig.: „set them differently“)

Quelle Nicholas Anderson (Wie zuvor) im Booklet zur Herreweghe-CD.

s.a. hier

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Das Interessante ist beim Choral: die Kräftefluktuation im rein melodischen Verlauf wahrzunehmen, die auch bei jedem starken Cantus Firmus erhalten bleibt, und dann die Verschiebung, die dank der harmonischen oder satztechnischen Behandlung stattfindet. Ich (nur als Beispiel) habe Melodien in meiner Kindheit wie etwas Naturgegebenes gesehen, nicht Korrigibles, aber dann im Harmonielehreunterricht bei Eberhard Eßrich gestaunt, dass man parallel dazu nicht Akkord nach Akkord erfindet, sondern als erstes zur Melodie eine gelungene Basslinie entwirft. Für mich ein Aha-Effekt (so geht also Kontrapunkt!). Und seither versuche ich jeden ausgesetzten Choral vom Bass her zu hören (und die Melodie von vornherein zu kennen).

Aber wie erfasse ich die Melodie an und für sich? Ich versuche, ihrem Verlauf von Ton zu Ton, von Phrase zu Phrase zu folgen. Wie ich es an der arabischen Musik geübt habe, später auch weiter an der indischen. Dann durch Anregungen im Werk von Victor Zuckerkandl. Warum nicht gleich beginnen mit dem Beispiel dieser Luther-Melodie, die alles andere als schematisch gebaut ist? Der Zufall will es, dass mir kein Scanner zur Verfügung steht und ein Foto meiner Skizze doch recht provisorisch aussieht. Zum Nachdenken wird es reichen!

Choral Mit Fried und Freud

Das Nachdenken auf der Bergwanderung hat eine bestimmte motivische Beziehung immer wahrscheinlicher gemacht, ansetzend bei einer Bemerkung im Wikipedia-Artikel über „Luthers Original“ (Link s.o.):

Die dorische Melodie folgt dem Text der ersten Strophe intensiv ausdeutend. Quintaufschwünge, Punktierungen und Melismen drücken die „Freude“ aus, die Molltönung den „Frieden“. Eindrücklich und für musikalische Bearbeiter aller Zeiten inspirierend ist der Abstieg unter den Grundton auf die Textwendung „sanft und stille“.

Auch mir ging genau diese Wendung (Zeile 4) nicht mehr aus dem Kopf. Die Unruhe begleitete mich den ganzen Weg lang, irgendwo und irgendwann ist mir schon ganz Ähnliches begegnet.  Und endlich: Heureka! Immer wieder ließ ich beide Melodien nacheinander an meinem inneren Ohr vorüberziehen, bis mir die eine als Variante der anderen erschien. Sie begannen sich zu vermischen. Ich musste sie nicht nur wiederhören, sondern im Schriftbild vor mir sehen: Ton für Ton, Phrase für Phrase miteinander vergleichen. Und dann hören und nochmal hören und prüfen, ob ich nicht hineinlege, was sie gar nicht sagen will. Hauptbeweisstück könnte der Anfang sein, bei Luther die beiden Quintsprünge nach oben, dann die kadenzartige Wendung über cis zum (Zwischen-) Grundton-Ton H und dessen Verstärkung durch die Extra-Zeile 2. Ich breche für heute ab und weiß, dass ein weiterer Tag sich um diese Phrasen drehen wird.

Siehe HIER.