Schlagwort-Archive: Bach – Brahms

Wie Bach erzählt…

Eine Allemande, die sich erinnert

(Achtung: Reklame kontrollieren, externes Fenster hier)

Es ist Bachs kleine Geschichte von der Versöhnung, der friedlichen Lösung seelischer Bedrängnisse (?). So beginnt es: man sieht förmlich, wie er nach dreimal ausholender Geste beim vierten Mal zu dem Punkt kommt, den er ans Licht holen wollte, und versieht ihn mit einem Pralltriller. Die Antwort (Bass mit Anfangs-Geste in Gegenrichtung, also aufwärts) kulminiert in Takt 5f, wo der Erzähler in der Oberstimme den Stufengang es“ – d“ – c“ heraushebt. Das besagt: so könnte es gewesen sein, aber die Hauptsache ist damit noch nicht gesagt, lasst es mich genauer ausführen! Als neues Mittel erscheinen 32stel-Töne (beiläufig schon in Takt 6), und weiter geht’s. Zielpunkt B-dur, Mitte Takt 8, und Aufstieg (Du musst es viermal sagen! gesteigertes Seufzen, viermal Praller), Abstieg parallel in  zweistimmig-kanonischer Führung (nach dem Muster des Anfangs), Gegenbewegung im Bass Takt 13-15 (quasi eingeschobene Takte, man könnte nahtlos von Takt 12 in Takt 16 gehen). Schließlich folgt – am Ende des ersten Teils – die unten wiedergegebene Formel a), die am Ende des ganzen Stückes noch einmal wiederkehrt, um das genau so lautende Resümee b) in der Grundtonart zu ziehen, hörbar aufatmend, nein, mit einer schönen, lässigen Arpeggio-Geste: „Ja, Kinder, das war’s!“.

a) Takt 15-16

b)Takt 31-32

Woran erinnert mich das?

Brahms Klaviersonate Nr. 1 op.1 Zweiter Satz.

Typischer Melodiebau: Apertion – Conclusion (auch: Vorsänger – Chor, beliebig erweiterbar vgl. oben „dreimal ausholende Geste“; als Ap./Concl. behandelt in meiner Dissertation über Maqam bzw. Genus Sikah und syrische Volkslieder).

Mehr davon? Hier  8 Minuten SWR

(Interpretation? Unter uns: mir ist das zuviel Vibratoaufwand, für ein Volkslied – auch nach Brahms Verständnis – zuviel Kunst. Schlimmeres Beispiel: die frühe Aufnahme mit Schwarzkopf/Fischer-Dieskau).

Natürlich liegt der Einwand auf der Hand: was soll denn daran bedeutsam sein, Bach hat nichts damit zu tun. Es ist eine Schlussformel, wie man sie überall finden kann. Falsch! sage ich, nirgendwo, in dieser sprechenden Gestalt nirgendwo. Aber es entsteht für mich das Problem, mir den „Rest“ zu erklären, also den größen Teil des Satzes, wie ist denn alles miteinander verknüpft, wie wächst eines aus dem anderen? Da hilft es nichts, darauf hinzuweisen: das Stück besteht aus zwei mal 16 Takten, Zwischenstationen Mitte Takt 6 (c-moll) und Mitte Takt 22 (F-dur). Wieso denn schon nach 6 Takten (statt wie es sich gehört nach 8 Takten)? Und im zweiten Teil dementsprechend in Takt 22 statt in Takt 24? Also: so kommt man nicht weiter, deshalb verfolge ich lieber den Erzählfaden, statt herumzurechnen, – und überbewerte die Zauberformel des Schlusstaktes.

Erzählfaden? – ich habe bisher das Wort Sequenz vermieden. Würde es nicht den Verlauf der Erzählung übersichtlicher erscheinen lassen? Die Richtungswechsel zum Beispiel? Das Ab und Auf, Für und Wider, Aufwärts von Takt 7 bis 10, Abwärts Takt 11 bis 12, das Beharren ab Takt 13 (bis 16, erstes Achtel) auf dem Ton b‘ (ungeachtet der Bewegung ringsum) und der bescheiden zusammenfassenden Geste des Taktes 16.

[Interessante Ausblicke ergeben sich heute durch das Eintreffen der Zeitschrift Musik & Ästhetik, darin der Beitrag von Cosima Linke „Sprechen über das Unaussprechliche mit Jankélévitch, Adorno und Barthes“, betrifft gerade mein Problem mit „notentextzentrierter“ Analyse, andererseits ebenso mit der strikt performativ orientierten Betrachtung, wenn ich z.B. Barthes mit seinem guten Körperbezug letztlich nicht akzeptieren kann: man spürt den Dilettanten, der sich selbst zum Maßstab nimmt.]

Was ist eine Sequenz? Wie wurde diese Technik benannt, als es das Wort noch nicht gab? Sie ist die Rettung der Wiederholung nach dem Wiederholungsverbot (Kreistanz u.dgl.), behaupte ich. Es ist bei Bach und im Barock überhaupt eine so wichtige Technik, dass es verwunderlich ist, dass es dafür keinen gängigen Namen in der alten Rhetorik gibt. „Mimesis“ trifft die Sache nicht recht. Es handelt sich ja um eine imitierende Fortspinnung, nicht um ein „Nachspotten“, wie es wohl bei Mattheson heißt. Woher der pejorative Unterton kommt, ist schnell erklärt: eine Sequenz zuviel, und die Wirkung ist dahin. Man denke an das berühmte Adagio (angeblich) von Albinoni: eine absteigende Fünftonfolge, die in einen Seufzer mündet, und als Antwort die einen Ton höher angelegte Sequenz. Neuansatz eine Oktave höher: neues Motiv, und dies dann mehrfach stufenweise einen Ton tiefer angesetzt, – es könnte ewig so weitergehen, und wird auch parodistisch gern so vorgeführt. Nichts als Sequenzen… Insofern ist der Ansatz des Komponisten Hans Vogt, der kunstreich behandelten Sequenz bei Bach ein eigenes Kapitel zu widmen, interessant:

usw.

Quelle Hans Vogt: Johann Sebastian Bachs Kammermusik / Reclam Stuttgart 1981 Seite 141ff

In Hugo Riemanns schwer erträglichen „Handbuch der Kompositionslehre“ Bd. I u II (Berlin u Leipzig 1916) findet man den Satz (I, S.124f):

Die Sequenz ist eines der allerhäufigsten Mittel der Weitung der Formen.

Womit impliziert wird, dass auch das, was nach bloßem Füllsel klingt, z.B. etüdenartige Einschübe in Mozart-Konzerten, nicht nur Virtuosität demonstrieren soll, sondern als als formaler „Abstandhalter“ fungieren kann.

An anderer Stelle spricht er (II S.111f)  von der „Weiterspinnung der Gedanken“ unter Wahrung der Motivik, es sei nämlich „im Grunde, wenn man die nötige Phantasie besitzt, leichter, so wie es Schumann tut, das Interesse durch immer neue Themen wach zu halte; mehr Kunst ist es aber jedenfalls, mit einem Theme ebenso weit zu kommen, was von den neueren Komponisten wohl keiner besser verstanden hat als Mendelssohn!“

Clemens Kühn schreibt in seiner „Formenlehre der Musik“ (dtv Bärenreiter 1987, Seite 42ff):

Aus rhythmischen Kräften gewinnt Bach ihre Motorik. Motivische Kräfte bestimmen ihre Linearität. Beide Momente, das Motorische und das Lineare, treffen sich im Formprinzip der barocken Fortspinnung: der – eher lockeren, forttreibenden Anknüpfung von Motiven und Teilen. Beispielhaft kann das der Fortspinnungstypus zeigen. Er ist das syntaktische Grundmuster des Spätbarock, wie die unterschiedliche Herkunft schon der beiden folgenden Beispiele belegt.

Es folgt der erste Teil des Violinkonzerts a-moll op.3/6 (1711) von Vivaldi sowie die Bach-Arie „Bereite dich, Zion“.

Die Fortspinnung treibt weiter. Aber das geschieht leicht, mehr assoziativ als zielstrebig. In aller Regel unterstützen Sequenzen dies lockere Fortführen.

*    *    *

Leicht und locker, – oder nicht. So entsteht Form, selbst in Fugen oder fugenartig zusammengesetzten Stücken.

Hier ein Versuch, den feinen Spannungsprozess im ersten Teil der Allemande c-moll farbig anzudeuten. Wobei GRÜN für eine entspannende Wirkung steht, BLAU für eine stabilisierende und weiterführende, ROT für ein anstachelndes, erregendes Moment. Ausgespart habe ich, was auf der Hand liegt: die rhythmische und die harmonische Komponente (mit Ausnahme der Stelle, an der der verminderte Septakkord zusammenfällt mit der inneren Kumulation ROT Takt 12 und 15). Wie gesagt: ein Versuch, – so sparsam wie möglich -, gedacht als eine visuelle Orientierung beim Spielen oder auch nur Zuhören, zu ergänzen nach Belieben & Intuition:

BWV 826

(mit Zeitangaben, die sich auf die Youtube-Aufnahme mit Murray Perahia beziehen)

Clavierübung im Kopf

Bach wie Brahms hören?

BWV 797 Sinfonia mit Benjamin Alard

BWV 797 Sinfonia mit Robert Hill

Lieber Herr Hill, Ihre Interpretation des brahmsschen Intermezzo op.119, 1 zeugt von ausgeprägt flexiblen  rhythmischen Verhältnissen, einer starken Agogik, einem ausgesprochenen Inégal-Spiel. Kaum ein Ton ist gleich lang wie ein anderer, da werden Noten gedehnt, Dissonanzen ausgekostet, Phrasen mit Ritardando und Accelerando ausgeführt, ja Zusammenklänge aufgebrochen, arpeggiert, Noten vorweggenommen. Ich kenne keine zweite derart „freie“ Interpretation dieses kleinen – hochexpressiven und harmonisch kühnen – Stücks. (…)

Claus-Steffen Mahnkopf zu Robert Hill in Musik & Ästhetik Heft 73, Januar 2015 Klett-Cotta Stuttgart Seite 18

Brahms op.117 No.2 b-moll mit Robert Hill

Brahms op.119 No.1 h-moll mit Robert Hill

Mich hat die Interpretation der Bachschen Sinfonia oder der Goldberg-Variationen (siehe hier) noch mehr erstaunt als der Brahms. Widerspricht dieses Prinzip des anti-metronomischen Spiels nicht jedem barocken „Taktgefühl“?

Es ist eine unglaubliche Chance, die sich erst heute bietet, interpretatorische Meinungen am klingenden Beispiel nachzuvollziehen und sich anzueignen, – meines Wissens ist das bisher kaum so genutzt worden wie in diesem Beitrag mit den vielen Hör-Hinweisen. Frappierend, dass sich darunter auch der Link eines Pop-Konzertes befindet. Ich erinnere mich an die frühe Begegnung mit Robert Hill und Reinhard Goebel (sie hatten gerade gemeinsam die Aufnahme der Bach-Violinsonaten herausgebracht) und wiederum mit Robert Hill bei der Aufnahme u.a. des Stückes „Mbira“ von Kevin Volans im WDR Köln Anfang der 80er Jahre.

Meine Phrasenstrukturierung ist der „Tempobogen“-Denkweise, die wir zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch finden, verpflichtet. Jede Phrase ist in ihrem Timing die Variation einer bestimmten Tempostrukturschablone, die wohl im mittleren 19. Jahrhundert das dominante Paradigma war. Eine Phrase fängt langsamer an, sammelt in der Mitte hin Antriebsenergie auf und entlädt sich gegen Ende. Diese für unsere Vorstellung eher „romantische“ Grundgestalt einer Phrase ist meiner Erfahrung nach überhaupt für jeden Musiker ein unentbehrliches Werkzeug, wenn man die musikalische Spannung vor allem in langsameren Sätzen avec discrétion dosieren will.

Robert Hill a.a.O. Musik & Ästhetik Seite 16

Insgesamt sollte der Vortrag dieses Stückes [Sinfonia g-moll] den Zuhörer berühren, irgendwie eine Geschichte erzählen, aber in der sehr persönlichen Fassung des je individuellen Interpreten. Ich bin aber überzeugt, dass Bachs Zeitgenossen wesentlich mehr den gefühlsorientierten Vortrag erwartet haben als die heute doch dominierende objektivierende Aufführungspraxis.

Aber wie nun, wenn ich sagte: Mit diesem Bach geht es mir wie mit den griechischen Statuen: ich mag sie marmorweiß, so bunt jedenfalls, wie sie wirklich waren, möchte ich sie nicht wieder haben, – ist es so? Da sind mir ja Comics lieber…

Ja, wenn ich das sagte. Aber ich übe ja noch, wenn auch mit weniger Prallern, als sie wohl Bach gern gehabt hätte. (Siehe seine Auszierungen der Es-dur-Sinfonia! weiter unten.)

röntgen bach g

Es ist keine Urtextausgabe im strengen Sinn (die können Sie mitlesen, wenn Sie Robert Hill auf youtube hören). Diese hier stammt von Julius Röntgen (Universal Edition 1951). Liegt sie also in der Zeit und im Trend, den Hill propagiert? Ich spiele sehr gern danach, wohl wissend, dass die Bögen nicht von Bach stammen (ich kann sie in Frage stellen*). Ich brauche „vernünftige“ Fingersätze und weiß, dass es andere sind, als Bach verwendet hat (siehe erstes Stück im Clavierbüchlein für Friedemann).

*Zum Beispiel in der ornamentierten Fassung der folgenden Sinfonia die Bindebögen von der Zählzeit 3 zur Zählzeit 1 des nächsten Taktes: das ist „romantisch“. Übrigens auch die Bindung der ersten 3 Sechzehntel an die folgende Viertelnote. Hier beginnt die Diskussion, was ein romantisches Cantabile vom cantablen Spiel unterscheidet, das Bach vorschwebte. (Bachs Urtext-Handschrift kann man hier bei Hill 2003 mitlesen.)

röntgen bach Es

(Fortsetzung folgt: was will Hill mit dem Verweis auf ein Popkonzert sagen?)

Die (vielleicht) rätselhafte Ergänzung der Ausführungen Robert Hills, seine Erinnerung an ein Konzert mit den Carpenters, kann man (kaum) nachvollziehen mit Hilfe des Links (der von R.H. angegebene funktioniert bei mir nicht, wohl aber der folgende: hier.) Es ist halt eine typische Jugenderinnerung, zudem die eines u.U. völlig anders sozialisierten Individuums.

Ein Aha-Erlebnis hatte ich 1974 in Amsterdam während eines Popkonzertes mit den Carpenters (Karen und Richard). Obwohl die Künstler ihr Vortragsrepertoire sicherlich dutzende Male auf Tourneen gaben, haben sie für mich den unvergesslichen Eindruck erweckt, als würden sie nur für uns – dieses spezielle Publikum – spielen, wie in einem vergleichbaren Konzertvideo aus derselben Zeit in You Tube neulich zu hören und zu sehen war. [s.o.] Und das in der Popmusik, wo durch das Klicktrack der agogische Spielraum praktisch null ist (und im Techno minus null)! Damit haben diese Popmusiker etwas erreicht, was klassischen Musikern meiner Erfahrung nach höchst selten gelingt: ihren Hörern das Gefühl zu vermitteln, etwas Besonderes zu sein. Dass der Zuhörer für das musikalisch-rhetorische Denken des 18. sowie frühen 19. Jahrhunderts im musikalischen Mittelpunkt stand (im Gegensatz zu der Rhetorik im Dienste der Formbetrachtung, wie es seitdem eher dominant ist), wird eingehend erläutert von Mark Evan Bonds. [Fußnotenhinweis s.u.**] Übrigens im selben Jahr, 1974, spielte auch Artur Rubinstein sein Abschiedsrecital im Concertgebouw, ich ging hin und war überwältigt von seiner Natürlichkeit im Klavierspiel! [Fußnotenhinweis youtube* folgt].

Quelle  Robert Hill a.a.O. Musik & Ästhetik Seite 21

*Das angegebene Youtube-Video wurde aus Copyright-Gründen entfernt, nur die abschließende Ehrung ist noch aufzufinden, darin ein drolliges Missverständnis hier bei 3:09.) Eine Möglichkeit, das Rubinstein-Konzert vom 15. Jan.1975 doch noch zu hören, fand ich – zumindest heute, am 16. !!! Jan. 2015, hier. (Das Programm kann man hier nachlesen.)

**Mark Evan Bonds Wordless Rhetoric: Musical Form and the Metapher of the Oration, Cambridge/USA: Harvard University Press, 1991.