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In aller Kürze: Wagners Kunst am Beispiel Kundry

Ausweitung einer Kurzanalyse von Dahlhaus (1971): 17 + 13 + 20 + 22

Dahlhaus Kundry a Dahlhaus Kundry b

Quelle Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen / Friedrich Verlag Velber 1971

Was finde ich an dieser Analyse problematisch? Ich versuche die Takte im Notentext auszuzählen – und verstehe nicht genau, was der Autor meint: zählt er die nicht gesungenen, die Pausentakte des Gesangs mit? Oder manche doppelt? Er beschreibt im Detail 4 Perioden, geht aber von 7 Perioden insgesamt aus. Ich will alle 7 eingrenzen. (Natürlich bin ich etwas sauer, dass der Analytiker – der durchaus Recht zu haben scheint, da alle Musikhinweise identifizierbar sind – mir diese Arbeit nicht von vornherein abgenommen hat, im Jahre 1971/72, oder auch ich selbst damals, mir selbst als Leser, aufs ganze Leben gesehen, – ich hätte ja nur wie heute 1 Stündchen über den Noten brüten müssen… aber … warum nicht auch jetzt gleich? Es ist nie zu spät.) 

Zunächst folge ich hier dem Wagnerschen Wortlaut, gebe ihm eine leicht gegliederte Form und eine Kennzeichnung der musikalischen Perioden, jeweils am Ende des betreffenden Textabschnitts. (Achtung: hier können bereits Fehler passiert sein, also – in Kürze gut zuhören und prüfen!)

Kundry Text a Kundry Text b

Und jetzt öffnen Sie bitte – ein paar Zeilen weiter unten – die entsprechende Musik, die wir schon früher einmal verlinkt und studiert hatten. Und nun eben abermals. Eine unvergleichliche Aufnahme, allerdings sollten Sie gerade so wie Parsifal jeglicher Versuchung widerstehen und nicht vom Anfang her starten, sondern – den obigen Text mitlesend, die Musik zugleich mitdenkend – genau bei 24:28 (enden bei 30:35) im folgenden youtube-Video (aber kehren Sie auch gleich nach dem Anklicken hierher zurück!):

Kundry 1992 Waltraud Meier, Poul Elming (Barenboim, Kupfer)  HIER 

Man muss sich freimachen von der Vorstellung, dass eine „Periode“ im Sinne von Dahlhaus eine klar überschaubare Melodieperiode ist, die – gemessen am traditionellen Sinne – in der unendlichen Melodie Wagners ohnehin kaum dingfest zu machen wäre. Die Periode ist hier eine zusammengehörige Ansammlung melodischer Bewegungen. Egal ob Singstimme oder Orchester: alles zusammen ergibt die Periode.

Gehen wir also auf die Suche nach den vier von Dahlhaus ausgezählten Perioden von 17 + 13 + 20 + 22 Takten.

Periode 1 von 24:28 bis 24:58 –  die letzte Silbe „ei-nen“ steht am Anfang des 17. Taktes. Die Geigen halten den Ton der Sängerin, und auf der 1 des nächsten Taktes tritt der Akkord  hinzu, was als Beginn der neuen Periode zu denken ist, also –

Periode 2 von 25:00 bis 25:23 – die zweite Silbe von „ge-schmäht“ steht in der Mitte des 13. Taktes, und auf der 1 des nächsten Taktes hört man den tiefen Basston des Akkordes, was als Beginn der neuen Periode zu denken ist, also –

Periode 3 von 25:24 bis 25:59 – das Wort „quält“ steht am Anfang des 20. Taktes, und die Triole der Pauke zielt auf die 1 des nächsten Taktes, der als Beginn der neuen Periode zu denken ist, also –

Periode 4 von 26:04 bis 28:03  – eine inhaltlich bedingt zerrissene Periode, sie geht auch über das letzte Wort „Blick“ weit hinaus, bis ein neuer Motiv-Komplex beginnt, nach der im 22. Takt „übriggebliebenen“ ersten Geige, auf der 1 des Taktes, in dessen Beginn das Tutti zur Geigenmelodie tritt und der Gesang mit dem Wort „Nun“ (such‘ ich ihn) wieder einsetzt (= Periode 5).

Damit hätten wir die von Dahlhaus bezeichneten 4 Perioden hoffentlich exakt erfasst.

Der Rahmen der ganzen Rede Kundrys, die Eckpunkte – Beginn von Periode 1 und Ende von Periode 7, vor Beginn der Gegenrede Parsifals – das heißt die Orchesteraufschwünge bei 24:28 und bei 30:35 -, sie folgen in beiden Fällen einer Kadenz, die statt nach g-moll trugschlüssig in den großen Septakkord auf Es mündet: die Takte sind praktisch identisch!

Diesen „Aufschwung“ würde ich normalerweise mit der barocken Figur der Tirata in Verbindung bringen, eine Tirade oder Attacke als Geste leidenschaftlichen Auffahrens. Wenn man aber die letzten Takte vor dem Beginn der Rede Kundrys betrachtet – zu den letzten Worten Parsifals: „Verderberin! Weiche von mir!“ -, bemerkt man, dass unmittelbar mit dem Wort „mir“  im Orchester das absteigende Kundry-Motiv erklingt. Und eben dessen genaue Umkehrung ist der dann folgende „Aufschwung“, die Attacke. Diese aufsteigende Form des Kundry-Motivs durchzieht die Periode 1, es ist in Takt 1, Takt 2, Takt 4, Takt 9, 11, 13, 14, 15 zu hören. Während die originale „abstürzende“ Form des Kundry-Motivs sich direkt danach als Beginn der Periode 2 anschließt. Von dieser „Verklammerung“ der Perioden spricht Dahlhaus auf der abgebildeten Buchseite 151 in den letzten Zeilen und auf der nächsten Seite oben.

Mit dem Notenbeispiel auf Seite 152 (s.o.)  belegt Dahlhaus weitere motivische Zusammenhänge. In Periode 1 erklingt mit den Worten „Bist du Erlöser, was bannt dich, Böser“ das TRISTAN-Motiv als Sehnsuchtsmotiv (chromatisch aufsteigend); es wird in Periode 2 mit den Worten „Heiland’s ach! so (spät)“ in ein Leidensmotiv verwandelt (chromatisch absteigend): die zwei Notenzeilen demonstrieren also die Inversion der beiden chromatischen Bewegungen.

Zum letzten Absatz der Dahlhaus-Seite 152 müsste noch ein Hinweis gegeben werden:

Das Motiv der dritten Periode, eine hybride Motivmischung, erfüllt formal die Funktion, zu vermitteln zwischen dem Leidens- und Sehnsuchtsmotiv einerseits und dem Abendmahlsthema als Hauptmotiv der vierten Periode andererseits.

Das Abendmahlsthema ist das, was man kennt wie kein anderes, nämlich jenes, mit dem das ganze Werk im Vorspiel beginnt:

Abendmahlsthema

Und da auf der nächsten Dahlhausseite, die noch in Kopie folgen soll, auch das Zaubermotiv eine Rolle spielt, gebe ich noch eine Probe aus der Motivtafel, die dem Textbuch von Edmund E.F. Kühn (1914) beigefügt ist, darin auch das „Zauberei-Motiv“:

Kundry- und Zaubermotiv

Hier folgt nun also die dritte Seite (im Buch Seite 153), die Dahlhaus der großen Kundry-Rede widmet. Und ich hoffe, mit diesen Ergänzungen ist alles klar geworden, was der Autor in sehr komprimierter Weise ausgedrückt hat. Die Bewunderung, die man Dahlhaus gewiss zollen muss, gehört natürlich zu allererst der Partitur von Richard Wagner, die im Klangbeispiel so überwältigend dramatisch ins Leben tritt, dass man kaum glauben mag, wieviel technische Details der Kenner darin entdecken kann.

Dahlhaus Seite drei

Zusatz zum „Gral-Motiv“ (Nr. 2 der Tabelle)

Dresdner_AmenWikimedia HMuenz

Siehe den Wikipedia-Artikel zum Dresdner Amen HIER.

Zusatz zu Wagners Begriff der „dichterisch-musikalischen Periode“

Alfred Lorenz referiert aus „Oper und Drama“ (1850/51):

Die Einheit, die der Wortdichter so durch den Gleichklang der Mitlaute [Stabreim] herstellt, krönt der Tondichter dadurch, daß er die musikalisch tönenden Vokale durch die Tonart (horizontale Harmonie) einigt. Die Tonart einer Melodie führt die in ihr enthaltenen verschiedenen Töne dem Gefühle in einem verwandtschaftlichen Bande vor. Bei Beibehaltung einer Stimmung hat der Musiker keine Veranlassung, aus der Tonart herauszutreten. Erst bei Übergang in eine andere Stimmung wechselt auch die Tonart (Modulation); kehrt nach mannigfaltigen Modulationen die Dichtung wieder in ihre erste Stimmung zurück, so bildet sich damit ein gefühlsmäßig wahrnehmbarer Abschnitt, den Wagner eine „dichterisch-musikalische Periode“ nennt. Im vollkommenen Kunstwerke entwickeln sich viele solcher Perioden zu einer reichen Gesamtkundgebung, wobei durch die Verwandtschaft der Tonarten große Linien hergestellt werden.** Harmonie ist in der Melodie bereits enthalten. Eigentlich ist sie aber nur etwas Gedachtes. Sinnlich wahrnehmbar wird sie erst in der Polyphonie. Diese betätigt sich im Orchester, welches seit Beethovens Sprachvermögen gewonnen hat. Es spricht das durch die Begriffssprache nicht Ausdrückbare aus; es wird Verkünder des Unaussprechlichen (…).

**Anmerkung Lorenz in eigener Sache

 Lorenz Anm zu den eigenen Werken 

Quelle Richard Wagner / Ausgewählte Schriften und Briefe / 1. Band Eingeleitet und mit biographischen und kritischen Erläuterungen versehen von Dr. Alfred Lorenz. Bernhard Hahnefeld Verlag Berlin 1938 (Seite 352)

Im MGG-Artikel Lorenz (neu Personenteil Bd.11) ist eine einschlägige Arbeit von C.Dahlhaus angegeben: „Wagners Begriff der dichterisch-musikalischen Periode“, in: Beitr. zur Gesch. der Musikanschauung im 19. Jh., hrsg. von W. Salmen, Rgsbg. 1965 (= Studien zur Mg. des 19. Jh. 1), 179-187 /

Was mich damals davor hat zurückschrecken lassen, den Schriften von Alfred Lorenz (1868-1939) noch weiter nachzugehen, ist leicht zu belegen. Hier sind Kostproben aus Vor- und Nachwort der zweibändigen Wagner-Ausgabe:

Lorenz Hitler Vorwort Lorenz Hitler Ausblick

Die jüngere Generation heute weiß offenbar von diesem Hintergrund zu abstrahieren, um die wissenschaftlichen Ergebnisse fruchtbar zu machen. (Die Theorien zur großen Form bei Wagner waren aber durchaus bekannt. Und mir ist erinnerlich, dass sie damals auch schon von Dahlhaus und Rudolf Stephan kritisch behandelt worden sind.) Werner Breig ist in dem oben angegebenen MGG-Artikel dezidiert darauf eingegangen.

***

Und jetzt kann ich endlich den Weg zu Wagners Original-Schrift angeben, – man lese ab Kapitel 22 und findet alles, was wir wissen wollten in verständlichster Form: HIER. (Oper und Drama, Projekt Gutenberg, SPIEGEL).

Man kann auch gleich dorthin springen, wo Wagner auf den Stabreim kommt, und dass dies alles zu unserm Thema gehört, wird man spätestens an folgender Stelle gewahr:

Ist hiermit die dichterisch-musikalische Periode bezeichnet worden, wie sie sich nach einer Haupttonart bestimmt, so können wir vorläufig das Kunstwerk als das für den Ausdruck vollendetste bezeichnen, in welchem viele solche Perioden nach höchster Fülle sich so darstellen, daß sie, zur Verwirklichung einer höchsten dichterischen Absicht, eine aus der andern sich bedingen und zu einer reichen Gesamtkundgebung sich entwickeln, in welcher das Wesen des Menschen nach einer entscheidenden Hauptrichtung hin, d. h. nach einer Richtung hin, die das menschliche Wesen vollkommen in sich zu fassen imstande ist (wie eine Haupttonart alle übrigen Tonarten in sich zu fassen vermag), auf das sicherste und begreiflichste dem Gefühle dargestellt wird.

Wir müssen uns also auch noch mit den Tonarten und vor allem – wovon er gar nicht spricht – mit dem revolutionärem Tonsatz beschäftigen. Als willkommener Helfer soll uns Claus-Steffen Mahnkopf begleiten, insbesondere das Kapitel: Wagners Kompositionstechnik.

Mahnkopf Wagner  1999